FORVM, No. 219
März
1972

Straßentheater für Mieter

London 1969/70

Ich kam zur Theatergruppe „Agit-prop“ eigentlich durch das Erlebnis der großen Vietnam-Demonstration in London im Oktober 1968. Dort hatte ich sehr schlechtes Theater erlebt.

Von Demonstrationen unterschied uns die Spielmethode, von anderen Theatergruppen das Verhältnis zum Publikum und zu den Stücken. Wir hatten weder Stückeschreiber noch Regisseure, arbeiteten also als echtes Kollektiv. Themen und dramatischen Aufbau bezogen wir direkt aus den Vorgängen der aktuellen politischen Umwelt, die wir jeweils in Handlung umsetzten.

Wir hatten etwa ein halbes Dutzend Agitationsstücke, die sich der veränderten Situation anpaßten. Je nach politischer Entwicklung oder anzusprechendem Publikum mußten wir die Stücke adaptieren. Da der Gebrauchswert im Vordergrund stand (Passanten mußten zum Stehen gebracht werden!), wurden besonders harte Anforderungen an die ästhetische Qualität der Aufführungen gestellt. Das war auch der Grund, warum wir die Regie niemandem allein überließen, sondern in endlosen Proben alle Einzelheiten gemeinsam erarbeiteten.

Die Gruppe war von Chris Rawlence 1968 gegründet worden; auch Kathleen und Richard Stourak von den Wiener Komödianten gehörten dazu. Wir gingen zu politischen Versammlungen, auf Straßenmärkte, zu den Bezirksrathäusern und zu bestreikten oder besetzten Wohnhäusern. Wir beteiligten uns an Diskussionen, Flugblattaktionen, Hausbesetzungen und Raufereien.

Eines der Stücke schilderte den Leidensweg eines Joe, Arbeiter und Untermieter, der es wagt, sich über eine Mietenerhöhung zu beschweren; er bekommt recht, wird aber hinausgeworfen, in der Gemeindewohnung wiederholt sich die Geschichte, ein Mietstreik bricht aus, die Forderung taucht auf: Streik auch am Arbeitsplatz, sonst ist die Sache wirkungslos. Am Schluß schwingt Joe den großen Hammer und zertrümmert das Profitgebäude, das er mit seiner Hände Arbeit errichtet hat.

1968 war es in England wieder einmal so weit, daß die Wohnungsprobleme für schlecht bezahlte Arbeiter und kleine Angestellte unerträglich geworden waren. Der von den Konservativen kontrollierte Londoner Gemeinderat hatte die Mieten für Gemeindewohnungen um 70 Prozent erhöht, um sie, wie es hieß, den „fairen“ Preisen des privaten Wohnungsmarktes anzugleichen.

In den meisten Wohnblocks und Siedlungen bildeten sich daraufhin Mieterorganisationen. Der Mietenstreik wurde ausgerufen. Die Mieter konnten praktisch ohne Angaben von Gründen gekündigt werden. Wie die sogenannten „wilden“ Streiks in den Betrieben wurden die Mietenstreiks als „besonders rechtswidrig“ angeprangert, und tatsächlich erhielten alle Streikenden Kündigungsschreiben. Die Mieterassoziationen waren gezwungen, speziell eine fliegende Schutztruppe zusammenzustellen, um den Streikenden ein Mindestmaß an Sicherheit vor Delogierungen zu bieten. Der große Mut der Streikenden, die Solidarität und Sympathie der Öffentlichkeit bewirkten, daß die Schutztruppe nie eingesetzt werden mußte — meines Wissens sind keine Delogierungen erfolgt. Im Laufe der Zeit gelang es der Verwaltung aber, den Elan der Bewegung zu brechen. Die Mieterhöhungen wurden zunächst verschoben und auf Etappen verteilt. Bei der Fälligkeit der beiden ersten Etappen hielt sich der Widerstand der Mieter sehr gut, und man begann sogar von der reinen Abwehrtaktik zu Überlegungen betreffend Mitbestimmung und Selbstverwaltung überzugehen. Als jedoch die dritte Erhöhungsrate fällig wurde und gleichzeitig einige Gerichtsverfahren ungünstig ausgingen, schlich sich plötzlich das Gefühl der Unabwendbarkeit ein, und mit Frühjahr 1970 versiegte die Bewegung für dieses Mal.

Gleichzeitig mit dem Mietenstreik machten die „Squatters“, die Obdachlosen-Kampforganisation der Neuen Linken, auf ein anderes Wohnungsproblem aufmerksam. Sie organisierten zusammen mit obdachlosen Familien die Okkupation von leerstehenden Wohnungen und Häusern. England und Wales registrierten offiziell 200.000 Obdachlose, zwei Millionen unbewohnbare Wohnungen und drei Millionen Familien, die in Slums oder slumähnlichen Verhältnissen leben. In Wirklichkeit sind die Zahlen noch höher. Trotzdem sank die Wohnbautätigkeit im Jahre 1969 auf das Niveau von 1962, im privaten Sektor sogar auf das von 1958.

Baugrund ist ein gutes Spekulationsobjekt, bei dem sich hohe Preise erzielen lassen. Der Grund ist jedoch nicht viel wert, wenn ein bewohntes Haus darauf steht. Nach den Gesetzen des Immobilienmarktes addiert sich der Wert eines Hauses nicht zum Wert des Grundes, sondern vermindert ihn beträchtlich. Nun gibt es Spezialisten, die in „Hausentleerungen“ arbeiten und dabei beachtliche Gewinne erzielen. Sie bedienen sich dabei zweier Methoden:

Man schickt Trupps von zwei bis vier Männern regelmäßig zu den Mietern und läßt sie mehr oder minder schlicht auffordern, auszuziehen. Diese Methode ist einfach und wirksam, gilt aber als unfein.

Man läßt die Wohnungen in der Nachbarschaft mit farbigen Einwanderern überbelegen. Darauf ziehen die heimischen Mieter früher oder später freiwillig aus. Durch gezielte Verwahrlosung verstärkt sich der Slumcharakter, und mit etwas Nachhilfe wird die Gegend zum Assanierungsgebiet erklärt. Die Immigranten und Fremdarbeiter, die ohnehin nur als völlig rechtlose Untermieter eingezogen sind, bringen in der Zwischenzeit hohe Mieten und können nach Belieben ausgesiedelt werden. Die Arbeit hat sich gelohnt, und die Grundstückpreise klettern sprunghaft.

Nicht zuletzt wegen der hohen Grundstückpreise (sie machen ein Drittel der gesamten Baukosten aus) sind die Wohnungen sanierter Gebiete für die früheren Bewohner unerschwinglich. Die Stagnation im Bauwesen der späten sechziger Jahre führte in England dazu, daß die Slumsanierer mit den Hausentleerern nicht Schritt halten konnten und unbewohnte Häuser massenhaft in den Bezirken herumstanden und auf Abbruch warteten.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)