MOZ, Nummer 56
November
1990
Arbeiterkammerdiskussion:

Umerziehung der Viererbande?

Aus dem Rechberger-Skandal wurde eine Diskussion um die Arbeiterkammern im speziellen, um den österreichischen Kammernstaat im allgemeinen. Kommt das Ende der Sozialpartnerschaft?

Sozialpartner Verzetnitsch (links) und Sallinger: Uns gehört Österreich
Bild: Bildarchiv des ÖGB

Sommer 1990: Alois Rechberger ist der unumstrittene Negativ-Star der Republik. Doch anders als bei anderen ‚Skandalen‘ beließen es die heimische Medienlandschaft und in ihrem Gefolge Politiker verschiedener Coleurs diesmal nicht bei der Demontage des Repräsentanten, diesmal wurde das System oder zumindest das, was darunter verstanden wird, attackiert.

Mit der Verteufelung Rechbergers gerieten die Arbeiterkammern in Mißkredit, mit den Arbeiterkammern wurde der Kammerstaat Österreich mißbilligt, mit der Kritik am Kammerstaat schien es plötzlich, als stünde die Sozialpartnerschaft zur Diskussion.

So konnte Johann Fahrnleitner, Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, im August gar anregen, auf die Festsetzung der Warenpreise durch die Paritätische Kommission zu verzichten. „Es ist fraglich“, so Fahrnleitner, „ob wir diese Prozedur heute noch brauchen“.

„Ein Kapitel österreichischer Nachkriegsgeschichte endet“, freute sich der „Standard“ etwas zu früh. Denn mittlerweile ist Fahrnleitners Vorschlag weg vom Tisch, doch allein die Tatsache, daß der Demontage der wichtigsten Säule der Sozialpartnerschaft, der Paritätischen Kommission, das Wort geredet werden konnte, ist für österreichische Verhältnisse eine kleine Sensation. Wird die ‚Viererbande‘, die Präsidenten des ÖGB und der Arbeiterkammern auf der einen, der Landwirtschaftsund der Bundeswirtschaftskammer auf der anderen Seite, entmachtet?

Die Einrichtung der „Paritätischen Kommission für Lohnund Preisfragen“ im Jahre 1957 war Höhepunkt und Ergebnis der seit der Ersten Republik mehr oder weniger intensiv und erfolgreich gesteuerten Politik des „Gleichgewichts der Klassenkräfte“ (Otto Bauer). Doch während in der Ersten Republik der Versuch, Klassenharmonie statt Klassenkampf zu praktizieren, im Bürgerkrieg endete und die Eliminierung der Arbeiterbewegung durch Austro- und Nazifaschismus zur Folge hatte, zeitigte die Harmonisierungsstrategie seit 1945 große Erfolge.

Verantwortlich dafür waren vor allem Gewerkschaftsbund und Sozialdemokratie, die statt Umverteilung die „Gesundung der Wirtschaft“ propagierten: „Da tritt vor allem in der Jetztzeit in den Vordergrund das Bestreben nach Wiederaufbau unserer Volkswirtschaft, nach der Steigerung der Produktion und der Produktivität“, wie es der damalige ÖGB-Präsident Böhm formulierte.

Noch einmal, im Oktober 1950, wehrte sich die Arbeiterschaft gegen den historischen Kompromiß, den ihre eigenen Vertreter mit dem ehemaligen Klassenfeind, nun Sozialpartner genannt, geschlossen hatten. Als bekannt wurde, daß das vierte Lohnund Preisabkommen eine überproportionale Teuerungswelle vorsah, traten zehntausende Arbeiterinnen und Angestellte in den Ausstand. Doch massive Gegenaktionen seitens der Regierung und des Gewerkschaftsbundes vor allem die Bau- und Holzarbeiter unter Franz Olah taten sich bei der Niederschlagung des Streiks hervor und „die konzentrierte Hetze in der Presse, die Lügen im Radio, Einschüchterungen durch die Polizei und die Drohung mit der US-Besatzungsmacht sowie die Einschüchterung durch die Direktion“ (der damalige VÖEST-Arbeiterbetriebsrat Kührer) ließen den Streik nach wenigen Tagen zusammenbrechen.

Seit dieser Niederlage, urteilt der Wiener Politologe Emmerich Talos, „sind Alternativen zum korporatistischen System völlig marginalisiert. Die Niederschlagung des Streiks war eine wesentliche Voraussetzung zur sozialpartnerschaftlichen Integration der Gewerkschaften“. Damit war der Weg endgültig frei für jenes österreichische Wunder, das Wirtschaftswachstum und Profitmaximierung auf der einen, steigenden Wohlstand und Vollbeschäftigung auf der anderen Seite vereinte. Wirtschaftspolitik wurde in Österreich seit den 60er Jahren am grünen, paritätisch besetzten Tisch gemacht.

Die Folgen des Skandals

Kritik an dieser ständestaatlichen und damit undemokratischen Organisationsweise der Gesellschaft stieß jahrzehntelang auf taube Ohren. Erst mit dem ‚Rechberger-Skandal‘ war plötzlich Gebot der Stunde, was linke GewerkschafterInnen schon lange forderten eine Reform der Arbeiterkammer hin zu mehr Transparenz und Demokratie. Obzwar die SPÖ versuchte noch, mit Vorschlägen wie Rechungshofkontrolle für die Kammern und Begrenzung der Höchstgehälter auf „zwischen 103.000 und 134.000 Schilling brutto“ (!!) die Diskussion zu entschärfen, doch ohne Erfolg, „profil“ präsentierte eine Umfrage, derzufolge nur noch 14% der Österreicherinnen „für die Beibehaltung der Kammern mit Pflichtmitgliedschaft“ votierten, hingegen zwei Drittel für die Beibehaltung der Kammern mit freiwilliger Mitgliedschaft eintraten. Die Frage der gesetzlichen, oder wie gerne gesagt wurde, der Pflichtmitgliedschaft wurde zum Dreh- und Angelpunkt der Diskussion. Während ÖVP-Obmann Riegler noch lavierend eine Urabstimmung über die Pflichtmitgliedschaft unter den Kammermitgliedern fordert, machte die FPÖ diese Frage zu einem zentralen Wahlkampfthema. Gleich dreimal fordern die Freiheitlichen in ihren „blauen Markierungen“, die rund 60 Zeilen umfassen, „Schluß mit dem Kammerzwang!“, denn der sei „einer Demokratie unwürdig“ (Heide Schmidt). Auch die Grünen lehnen die Pflichtmitgliedschaft ab. Mit einem Verweis auf die Menschenrechtskonvention, derzufolge niemand gezwungen werden darf, einer Vereinigung anzugehören, meint Johannes Voggenhuber: „Die Pflichtmitgliedschaft ist menschenrechtswidrig!“

Arbeiterkammer demokratisieren!

Anders als die grüne Partei sehen es jedoch die ihr nahestehenden GewerkschafterInnen der „Gewerkschaftlichen Einheit“ (GE). Zwar ist in der GE die Frage der Pflichtmitgliedschaft noch nicht ausdiskutiert, Bundessekretär Öllinger, selbst einer der fünf GE-Arbeiterkammerräte, deutet aber ein bedingtes „Ja“ an. „Entweder es kommt in der nächsten Legislaturperiode zu einschneidenden Demokratisierungsschritten, oder wir geben unsere Unterstützung für die gesetzliche Mitgliedschaft auf“, stellt Öllinger ein Ultimatum. Prüfsteine der Demokratisierung sind für ihn vor allem das passive Kammerwahlrecht für Ausländerinnen und eine Aufwertung der Vollversammlung der Kammerräte. Denn diese sei derzeit „völlig bedeutungslos“. Allein der Präsident sei mit Unterstützung der sozialistischen Mehrheitsfraktion befugt, alle wichtigen Entscheidungen etwa die Budgeterstellung oder die Entsendung von Arbeiterkämmerern in diverse sozialpartnerschaftliche Gremien zu treffen. „Die Vollversammlung muß arbeitsfähig werden und es muß Minderheitenrechte geben“, fortdert Öllinger, denn „derzeit kann ein normaler AK-Rat wie ich überhaupt nichts kontrollieren“.

Forderungen, die sich mit denen des kommunistischen „Gewerkschaftlichen Linksblocks“ (GLB), mit vier Räten ebenfalls Minderheitenfraktion in der AK, decken, der im Gegensatz zur GE jedoch ohne „Wenn und Aber“ für die Pflichtmitgliedschaft eintritt.

Emmerich Talos, den vor Ausbruch der Debatte um die gesetzliche Mitgliedschaft diese „nicht unbedingt“ gestört hatte, meint nun, daß die AK, „aber analog dazu natürlich auch die Handelskammern“, sich der Frage stellen muß. „Es ist unumgänglich geworden, daß die Mitglieder darüber entscheiden“, meint Talos. Allerdings ist für Talos nicht die Pflichtmitgliedschaft, sondern die Demokratisierung die Überlebensfrage der AK: „Solange es überhaupt keine Rückkoppelungen zwischen Basis und Spitze gibt, solange die Kluft zwischen Vertretern und Vertretenen unüberbrückbar ist, solange bleibt die Diskussion substanzlos.“

Modell Österreich — wie lange noch?
Bild: Quelle: Volksblatt, 1982

Der Streit um die Pflichtmitgliedschaft

Die Diskussion um die Pflichtmitgliedschaft kann unter drei Gesichtspunkten gesehen werden. Da sind zunächst jene demokratiepolitischen Aspekte, die dem Grünen Voggenhuber besonders am Herzen liegen. Die Grünen hätten in diesem Punkt zwar dieselbe Forderung wie die FPÖ, ihnen gehe es aber im Gegensatz zu Haider um Willensbildung durch Bürgerbeteiligung statt durch Verbände, sagt der Spitzenkandidat. „Nur im Ständestaat sind berufliche Vertretungen wie die Kammern zugleich staatliche Vertretungen“, argumentiert Voggenhuber, und: „Unser Ziel ist die Beendigung des Ständestaates“, ein Ziel, das über die Aufhebung der Pflichtmitgliedschaft erreicht werden soll. Öllingers Einwand, daß eine Aufhebung der Pflichtmitgliedschaft „einer Aufhebung der Arbeiterkammer“ gleichkäme, wehrt Voggenhuber ab: „Erbittert“ würden sich die Grünen dagegen wehren, die derzeitige Diskussion auf die AK zu beschränken: „Hinter dieser Verkürzung steht der leicht zu demaskierende Wunsch von ÖVP und FPÖ, eine Arbeitnehmerorganisation zu zerschlagen.“ Womit wir beim zweiten Aspekt im Streit um verpflichtende oder freiwillige Mitgliedschaft wären. Während Gewerkschaftsfraktionen wie GE oder GLB. aber auch die SPÖ die Interessenvertretungsfunktionen der in der Ersten Republik als Gegengewicht zur bereits 1848 ins Leben gerufenen Handelskammer geschaffenen Arbeiterkammer betonen und diese Bedeutung durch eine Aufhebung der Pflichtmitgliedschaft gefährdet sehen, meint etwa Emmerich Talos, daß „Interessenvertretungen ohnehin nur so stark sein können, wie sie von ihren Mitgliedern unterstützt werden“. Der Politologe vermutet, daß auch beim Prinzip der Freiwilligkeit die AK neben dem ÖGB bestehen könnte, es müsse nur eine bessere Arbeitsteilung zwischen den beiden geschaffen werden. Die AK könne nämlich „irrsinnig wichtige“ (Talos) Funktionen erfüllen, wobei er vor allem an ihre wissenschaftlichen Kapazitäten denkt: „Als Think-Tank für den ÖGB ist sie unersetzlich.“ Doch Talos sieht auch das Problem der Finanzierbarkeit dieser Apparat ist nur mit viel Geld zu halten. Geld, das derzeit von den Mitgliedsbeiträgen stammt.

Sozialpartnerschaft: Harmonisierung der Interessen ...

Wichtigster Aspekt ist jedoch zweifelsohne der enge Zusammenhang zwischen verpflichtender Mitgliedschaft in den Kammern und der Sozialpartnerschaft. Die einschlägige politologische Literatur betont, daß für das gute Funktionieren des Korporativismus sowohl ein hoher Konzentrations- als auch Zentralisationsgrad der Interessenorganisationen notwendig sei. Der wiederum beruht einerseits auf dem Monopolcharakter des ÖGB als Einheitsgewerkschaft muß er sich nicht mit rivalisierenden Verbänden auseinandersetzen —, andererseits eben auf der strittigen Pflichtmitgliedschaft in den Kammern. Denn durch sie ist im Grunde, zumindest auf dem Papier. JedeR im Wirtschaftsleben stehende ÖsterreicherIn, ob UnternehmerIn oder ArbeiterIn, ob AngestellteR oder Bauer/Bäuerin, durch einen der drei Kammerpräsidenten in den Verhandlungen der Sozialpartner vertreten. Dieser hohe Organisationsgrad verleiht der ‚Viererbande‘ in ihrer Interpretation nicht nur das Recht, die Geschicke diese Landes zu lenken, er ermöglicht auch eine Harmonisierung der Interessen bereits vor Beginn der Auseinandersetzung. Es verwundert deshalb keineswegs, daß sich sowohl der scheidende Präsident der Bundeswirtschaftskammer, Rudolf Sallinger „die Wirtschaft muß mit einer Stimme reden“ als auch Arbeiterkammerpräsident Vogler „die Pflichtmitgliedschaft setzt die Arbeiterkammer in die Lage, einen internen Interessenausgleich durchzuführen“ für den Status quo aussprechen. In der Tat birgt das System der verbindlichen Zugehörigkeit theoretisch auch Momente der Solidarität — auf Unternehmerseite sind die Klein- und Mittelbetriebe in eine Institution eingebunden, die zumindest de jure ihre Anliegen mit denen der Großindustrie abstimmen muß, auf ArbeiterInnenseite nehmen wiederum de jure gut organisierte Branchen schwache unter ihre Fittiche.

... und Entpolitisierung

Umgekehrt aber ist „das System der Pflichtmitgliedschaft für den Entpolitisierungsprozeß in Österreich verantwortlich“, kritisiert Emmerich Talos, denn „durch diese Organisationsform wird eine bestimmte Politik determiniert. Die Arbeitnehmervertreter sind am Verhandlungstisch fix dabei, und zwar per Definition und nicht qua ihrer wirklichen Stärke. Daraus ergibt sich, daß die Basis, die Betroffenen völlig unwichtig werden es besteht kein Anlaß mehr, sie zu mobilisieren oder einzubeziehen“. Klassenkonflikte werden in Österreich am grünen Tisch ausgeredet, oder, auf Wienerisch, ausgemauschelt die in einer „Art vertraulicher Feindschaft“ (Kurt Tucholsky) ausgehandelten Kompromisse haben unumstößliche Gültigkeit für die per Pflichtmitgliedschaft an ihre Spitzen gebundene Basis.

Diese vollständige Eliminierung der Betroffenen aus der Auseinandersetzung führte konsequenterweise zum „Eindruck der Schicksalhaftigkeit und Naturbedingtheit der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen“, wie Robert Menasse in seinem Buch „Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik“ den Prozeß der Entmündigung beschreibt. Das Wissen um die Existenz gesellschaftlicher Konflikte schwinde, „die schließliche Aufhebung der gesellschaftlichen Antagonismen in einer harmoniestiftenden Konstruktion, die aber die Konfliktursache Privateigentum an Kapital nicht aufhebt, ist die konkrete bürgerliche Gegenutopie zur ‚klassenlosen Gesellschaft’“ (Menasse).

Da es der Sozialpartnerschaft gelungen sei, „die Forderung nach Umverteilung beinahe gänzlich aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein auszublenden“, erscheinen die Kosten des Klassenkonsenses nicht einmal mehr als Konfliktstoff. Die Fügung der Arbeiterbewegung in das kapitalistisch-industrielle System, die Absage an jeden Internationalismus, die Akzeptanz und Stabilisierung der Diskriminierung der Frauen, das ‚Vergessen‘ jener, die aus verschiedenen Gründen nicht am Wirtschaftsleben teilhaben, ständige Umverteilung von unten nach oben, all das wurde kritiklos hingenommen.

Sozialpartnerschaft in der Krise?

Ein Angriff auf die Pflichtmitgliedschaft in den Kammern sei, so stellen deren Präsidenten unisono fest, ein Angriff auf die Sozialpartnerschaft selbst. Sind das leere Drohgebärden, um den eigenen Machtapparat möglichst unbeschadet aus der Diskussion zu retten, oder stehen wir tatsächlich am Anfang vom Ende des korporatistischen Systems? Ähnliche, wenn auch weniger als in Österreich ausgeprägte Modelle der Klassenkooperation in der BRD und in Schweden können mittlerweile als gescheitert angesehen werden.

Neben der vielzitierten österreichischen Mentalität der Widerspruch zwischen Herr und Knecht wird nicht auf-, sondern ausgeschaukelt hat das reibungslose Funktionieren des Korporativismus verschiedene Gründe.
Die Einheit, der soziale Konsens, der nach 1945 gesucht wurde, war sowohl für den Wiederaufbau als auch für die Wiedererlangung der Nationalstaatlichkeit ideologische Notwendigkeit. Zugespitzt formuliert, wurde die neue Schein-Einheit Österreichs durch das gemeinsame ‚KZ-Erlebnis‘ von Heimwehrlern und Sozis gestiftet.

Zu dieser andauernden ideologischen Eintracht war mit der Vorherrschaft von Kleinund Mittelbetrieben bei gleichzeitiger Verstaatlichung der Großindustrie eine Wirtschaftsstruktur gegeben, die die Kampfstärke der Unternehmer für den „Klassenkampf von oben“ (Bruno Kreisky) schwächte. Hier zeigen sich jedoch erste Brüche: die immer größer werdende Internationalisierung der Wirtschaft, die wachsende Dominanz von vor allem BRD-Kapital in Österreich reduziert den Spielraum nationalstaatlicher Wirtschaftspolitik. BRD- oder US-Konzerne aber haben weder für einen über Patriotismus vermittelten Kompromiß noch für ständische, manchmal fast zünftische Reglementierung etwas übrig. Dem anbrechenden Zeitalter der offenen Märkte und völliger Deregulierung können Institutionen wie die Paritätische Lohnund Preiskommission nur hinderlich sein. Wenn die Arbeiterkammer auch betont, diese wäre mit EG-Recht durchaus konform, so zeigt die Realität, daß im Zuge der ‚freiwilligen‘ Anpassung an Westeuropa dereguliert wird: vor allem in wettbewerbsintensiven Branchen werden immer weniger Waren preisgeregelt.

Schon seit einigen Jahren trifft die sozialpartnerschaftliche Faustregel durch Wirtschaftswachstum zur Vollbeschäftigung nicht mehr zu. Deutlich sinkende Wachstumsraten haben zum Abrücken von der Prämisse Vollbeschäftigung in den 70er Jahren keineswegs eine Marotte Kreiskys, sondern „allgemein anerkannt“ (der Politologe Wolfgang C. Müller) geführt.

Eine weitere Voraussetzung für die Konfliktlösung am grünen Tisch das ausgeprägte Lagerdenken mit großer Loyalität der eigenen Führerschaft gegenüber wird durch den tiefgreifenden Strukturwandel der Gesellschaft abgeschwächt. Traditionelle Berufsbilder werden ersetzt durch neue aus dem klar zuordenbaren Arbeiter im blauen Overall wird der abstrakte ‚white-collar‘. Diese Umschichtung macht die klare Segmentierung der Gesellschaft hie ‚Rot‘, da ‚Schwarz‘ brüchig; ‚Blau‘ und ‚Grün‘ ergeben zumindest wahlarithmetisch bereits 30%. Die Zahl derer, die aus dem Rahmen sozialpartnerschaftlichen Wirkens fallen, wächst: Nach ‚oben‘ entschwindet die ‚neue‘ Mittelschicht, die gut genug gestellt ist, um die AK oder den ÖGB noch zu benötigen, ja die von einer Deregulierung am Lohnsektor profitieren würde, nach ‚unten‘ verschwindet der wachsende Prozentsatz an Arbeitslosen, Teilzeitbeschäftigten, PensionistInnen.

Die soziale Umstrukturierung wird begleitet von einem Wertewandel ‚neuen‘ Themen wie Ökologie oder Mündigkeit der BürgerInnen ist die Sozialpartnerschaft nicht gewachsen. Das erste sozialpartnerschaftlich abgesegnete Projekt, das am Widerstand der Bevölkerung scheiterte, war die Inbetriebnahme des AKW Zwentendorf. In den Auseinandersetzungen um den Kraftwerksbau in der Hainburger Au spielten sowohl ökologische als auch demokratiepolitische Aspekte eine Rolle und wieder scheiterten die Sozialpartner.

Streik 1950: Der Widerstand wurde gebrochen
Bild: Bildarchiv des ÖGB
Winter 1984: Demonstration gegen ...
Bild: Bildarchiv des ÖGB
... und für das Sozialpartnerprojekt Kraftwerk Hainburg
Bild: Bildarchiv des ÖGB

Gewerkschaften: Stur fürs Wirtschaftswachstum

Von den Rahmenbedingungen der Sozialpartnerschaft blieb lediglich die Ausrichtung der Gewerkschaften und der SPÖ am staatstragenden Konsens unverändert. Sie sind Gefangene ihrer eigenen Ideologie: Der Kuchen und mit ihm die für die Arbeiterschaft und die Angestellten abfallenden Stücke werden kleiner, doch statt dagegen anzukämpfen, beharrt der ÖGB auf der „Gesundung der Wirtschaft“. Ob eine konfliktorientiertere Gewerkschaft mehr für ihre Mitglieder herausholen könnte, ist Spekulation. Josef Cap hat sicher nicht ganz unrecht, wenn er Robert Menasse in einem Streitgespräch in der „AZ“ vorhält: „Den ehrlichen Interessenskonflikt, jetzt im Sinne des Sportiven, den gibt es halt nicht. Was es gibt, ist die unsoziale Konfliktpolitik, wie sie uns Frau Thatcher vorexerziert aber auf die kann ich verzichten.“ Dem warnenden Beispiel der britischen Bergarbeiter, die unter ihrem kämpferischen Führer Scargill den Kampf gegen die Regierung Thatcher verloren hatten und anschliessend politisch vernichtet wurden, steht jedoch eine demokratiepolitische Überlegung gegenüber. Nur wenn es gelingt, die lähmende Entpolitisierung abzuschütteln. nur wenn es den Arbeitenden gelingt, Konflikte und in ihnen ihre eigenen Interessen zu erkennen, können sie ihre Wehrlosigkeit überwinden. Anzeichen jedoch, daß die Arbeitnehmerseite aus der Viererbande ausbrechen könnte, gibt es nicht. Grüne — „Ich hoffe, daß wir ArbeitnehmerInnen gewinnen, die es riskieren wollen, an mehr Demokratie teilzunehmen“ (Voggenhuber) — und KommunistInnen — „Der ÖGB sollte sich aus der Sozialpartnerschaft rauslösen, damit er seine ursprünglichen Aufgaben wahmehmen kann“ (GLB-Sekretär Schlechter) — steuern zwar eine solche Politik, die Kräfte der Beharrung aber überwiegen. „In Wahrheit wollen alle am korporativen System festhalten“, vermutet Emmerich Talos, „es geht nur darum, es neu zu strukturieren.“

Das gelte sogar für Haiders FPÖ, deren permanente Angriffe auf die Sozialpartner leicht erklärbar sind: ‚Blau‘ kommt in der rot-schwarzen Regulierung des Landes nicht vor, deshalb fordern die Freiheitlichen jetzt auch ‚ihren‘ Teil. Und die Unternehmerseite, so Talos weiter, sei keinesfalls am Ausscheren interessiert. „Diese Bestrebungen waren unter der SP-Alleinregierung stärker. Heute sehe ich keinen Grund, der sie dazu veranlassen könnte.“

Einseitige Deregulierung

Die Aufhebung der Pflichtmitgliedschaft würde also weniger wie die „Wochenpresse“ prophezeit „das politische System Österreichs aus den Angeln heben“ als eine Verschiebung des angeblichen Gleichgewichts zuungunsten der Werktätigen bewirken. „Es geht um die Schwächung der Sozialpartnerschaft“, erläutert Hansjörg Schlechter, Bundessekretär des GLB, allerdings nur einseitig: „Geschwächt wird nur die Gewerkschaftsseite, die (bei Aufhebung der Pflichtmitgliedschaft) mit weniger Gewicht Interessen der Lohnabhängigen einbringen kann.“ Auch Emmerich Talos ortet keineswegs das Ende der ‚Viererbande‘. Die Kosten der Deregulierung, seien es Massenentlassungen und eine unsoziale Pensionsreform, seien es Verschärfungen bei Arbeitslosenbestimmungen oder beim Studium, müssen gesellschaftlich durchgesetzt werden. Und welches Instrument würde sich besser dazu eignen als die von oben nach unten funktionierende Sozialpartnerschaft, zu der immer noch zwei Drittel der ÖsterreicherInnen stehen?

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