Streifzüge, Heft 1/1997
März
1997

Variation oder Alternative?

Die Linke und der Kapitalismus

Überarbeitete Fassung eines Referats im Rahmen des „Linken Dialogs“ am 16. November 1996.

Einleitend möchte ich nicht verhehlen, daß ich mit den sogenannten Widerspruchspaaren Schwierigkeiten habe. Weil sie das Problem verkehren, nämlich hinsichtlich der Frage, ob das Kapitalverhältnis Ausdruck der Klassengegensätze ist, oder ob umgekehrt das Kapitalverhältnis die Klassen konstituiert? Daraus ergeben sich meiner Ansicht nach zwei verschiedene Konzepte: das eine verlangt Parteiergreifung in einem Interessenskampf, betont das Trennende, das andere verlangt die Überwindung der Gesamtstruktur der ökonomischen Gesellschaftsformation, betont das diese Gegensätze Einigende. Die Frage: Konstituieren die Klassengegensätze, die Geschlechtergegensätze etc. die Gesellschaft oder umgekehrt, formieren die Produktions-, Zirkulations- und Konsumtionsverhältnisse diese Gegensätze, müßte man diskutieren.

Nicht auf die Widersprüche kommt es an, sondern darauf, welche Struktur diese Widersprüche hervorbringt und vorantreibt. Nicht an den Widersprüchen ist anzusetzen, sondern eine Kritik der basalen Logik ist zu entwickeln. Nicht an der Oberfläche der Erscheinungen gilt es sich zu orientieren, interessensborniert dieses und jenes zu fordern, sondern das Gesamtsystem zu benennen und zu kritisieren.

Es ist also wenig getan, wenn wir uns vom sogenannten Hauptwiderspruch „Lohnarbeit-Kapital“ verabschieden, um dann in der Beliebigkeit der vielen Widersprüche aufzugehen. Der alte Klassenkampfgedanke blüht hier noch einmal auf, indem er sich nun auf verschiedenste Widersprüche verteilt. Kapitalismus meint nicht primär die Hervorbringung und Stabilisierung von Widersprüchen, sondern die Unterordnung der menschlichen Kommunikation in Produktion, Zirkulation und Konsumtion unter den Wert. Es geht nicht um die Addition der Widersprüche, um ihre Zusammenfassung in Interessen, die sich doch nur jeweils am gesellschaftlichen Sozialprodukt orientieren können, sondern es geht um die Grundkonstellation dieser Erscheinungen, um das Wesentliche, das sie entfaltet.

Die Widersprüche sind dann ihrem Wesen nach gar keine Widersprüche mehr, sondern Entsprechungen, somit Positionierungen, um das Kapitalverhältnis zum Funktionieren zu bringen. Die Arbeiter sind dann notwendig zur Ausbeutung der Arbeitskraft, um eben die Akkumulation zu ermöglichen — ohne Mehrwertabpressung keineVerwertung des Werts; die Frauen sind dann notwendig, um die Reproduktion und Erziehung der Arbeitskräfte zu gewährleisten und zu erleichtern — ohne vorgelagerte konkrete Tätigkeiten keine Reproduktion der Arbeitskräfte; der historische Kolonialismus war notwendig, um die ursprüngliche Akkumulation erst so richtig in Gang zu bringen; etc.

Die Widersprüche entpuppen sich nur auf der Erscheinungsebene als Störungen, eigentlich sind sie die immanenten Mechanismen funktioneller Realisierung der Kapitalakkumulation. An ihnen ist aber auch schon gar nichts antagonistisch. Diese Widersprüche bleiben also im Kapitalismus befangen, weil sie immanente Widersprüche sind, nirgendwo treiben sie darüber hinaus, aus all ihren konkreten Forderungen ist das auch ersichtlich. Als diese sind sie nicht geringzuschätzen, aber sie verbleiben bürgerlich. Sie gehören zum Kapitalismus, und solange sich die einzelnen Menschen hier irgendwo abarbeiten und Stellung beziehen — was in unmittelbaren Lebenslagen natürlich überhaupt nicht ausgeschlossen werden kann und soll — funktionieren sie selbst als Charaktermasken diverser bürgerlicher Interessen und Bedürfnisse. Das sei mit aller Deutlichkeit gesagt. Mehr als die Widersprüche interessieren mich aufjeden Fall die Entsprechungen.

Welchen Charakter hat die aktuelle gesellschaftliche Krise?

Die zentrale Frage ist: Welchen Charakter hat die gesellschaftliche Krise in der wir uns befinden? Ist sie konjunktureller oder struktureller Natur? Das heißt: erkennt man in ihr nur die Wiederkehr des immer gleichen kapitalistischen Krisenprozesses, dann sind wohl traditionelle Politikformen und -muster angesagt und Forderungen wie höhere Löhne, staatliche Beschäftigungspolitik, mehr Rechte, Demokratisierung. Ist die Krise allerdings struktureller Natur, d.h. nähert sich der Kapitalismus ökonomisch, ökologisch und sozial seinen systemischen Grenzen, dann ist meiner Ansicht nach völlig anderes von Nöten.

Der Kapitalismus ist deswegen in einer strukturellen Krise, weil das Akkumulationsmodell nicht mehr funktioniert. Mehr stofflicher Reichtum bedeutet nicht mehr die Schaffung und Realisierung von mehr Wert. Das Gegenteil ist der Fall. Reichtum ist nicht mehr mit Wertsteigerung verbunden. Wir sind in einer Phase, wie sie Marx im dritten Band des Kapitals mit dem durchschnittlichen Fall der Profitrate beschrieben hat. Freilich ist dieser Fall nicht nur mehr einer der Rate, sondern auch der Profitmasse und somit des Werts insgesamt. Das Dilemma des Kapitals ist: Da es immer mehr und billiger produzieren muß, verfällt der Wert einer vergleichbaren Produktmasse zusehends. Dieser Verfall ist nur aufhaltbar, wenn die Produktion sich ständig ausweitet. Nur, wohin?

Die Synchronität von Reichtums- und Wertproduktion ist erstmals wirklich in Frage gestellt. Das ist das fundamental Neue an der Situation, und daher sind auch alle Maßnahmen, der Krise mit alten Mustern zu antworten, so hilflos und so zum Scheitern verurteilt. Der Kapitalismus ist davon abhängig, ob Kapital gebildet werden kann, ob der Wert sich also verwerten läßt. Mit Marx gehe ich davon aus, „daß trotz aller Wertrevolutionen die kapitalistische Produktion nur solange fortexistiert und fortexistieren kann, als der Kapitalwert verwertet wird, solange also die Wertrevolutionen in irgendeiner Art überwältigt und ausgeglichen werden.“ [1]

Ich interpretiere die Krise als eine der Verwertung. Das Kapital hat den Punkt erreicht, an dem der, heute auch schon mehrfach angesprochene, tendenzielle Fall der Profitrate in einen tendenziellen Fall der Profitmasse umschlägt. Und das ist die interessante Größe. Wenn nämlich nur die Profitrate fällt, die Profitmasse aber steigt, ist das unmaßgeblich. Wobei mit Profitrate und Profitmasse immer die durchschnittliche gemeint ist, von Supergewinnen bestimmter Unternehmungen also abstrahiert wird. Aus den Veränderungen in der organischen Zusammensetzung des Kapitals — grob gesprochen, wenn die tote Arbeit gegenüber der lebendigen, das konstante Kapital gegenüber dem variablen im Produkt zunimmt, was durch die Produktivkraftentwicklung bedingt ist, — wird das Kapital tendenziell ausbeutungs- und akkumulationsunfähiger.

Die Krise der Arbeiterklasse, die ja allerorten diskutiert wird und empirisch manifest ist, muß als eine Krise des Gesamtverhältnisses des Kapitals interpretiert werden. Wir müssen ernsthafter und ausführlicher über den tendenziellen Fall der Profitrate reden, um so den Charakter der Krise zu bestimmen. Ebenso darüber, was den Kapitalismus eigentlich ausmacht. Für mich ist der Kapitalismus die durchgesetzte Warenform. Von Kapitalismus ist also dann — und erst dann — zu sprechen, wenn der Warenverkehr die herrschende Form des Stoffwechsels einer Gesellschaft bestimmt. Die Elementarform des Kapitalismus war für Marx nicht die Trennung in Klassen sondern die Ware, die er in Gebrauchswert und Tauschwert aufgeschlüsselt hat. Das Charakteristische an der Ware ist der Wert oder Tauschwert.

Wenn wir schon von Widersprüchen reden wollen, dann sollten wir den, der von Marx zentral angesprochen wurde, nämlich den Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse nicht vergessen, sondern in den Mittelpunkt rücken. Denn meiner Ansicht nach ist es gerade dieser Widerspruch, von dem die objektive Sprengkraft des Kapitalverhältnisses zu erwarten ist.

Wenn also die These von einer finalen Krise des Kapitalismus, wie sie etwa Robert Kurz vertritt und auch am weitesten entwickelt hat, stimmt, dann ist ein Paradigmenwechsel linker Inhalte unausweichlich und auch absehbar. Dazu sind, ich will das vorläufig einmal nur negativ formulieren, einige Abschiede unumgänglich.

1. Abschied von der Marktwirtschaft

Der Markt ist keine objektive Tatsache, sondern ein historisch begrenztes Feld fetischisierter Kommunikation. Es gibt kein anthropologisches Prinzip von Markt und Tausch, die Marktwirtschaft ist, selbst in den Zentren, erst seit einigen Jahrhunderten gesellschaftlich vorherrschend. Tauschen ist nichts anderes als deformiertes Geben und Nehmen. Die Menschen drücken sich nicht in ihren Produkten direkt zueinander aus, sondern über abstrakte Arbeitsquanta. Distribution der Güter meint im Kapitalismus — und nur hier — Zirkulation von Waren. Der Tausch ist also kein vom Kapital abziehbares Phänomen oder ein Modus. Marx schreibt dazu in den Grundrissen: „Es ist also ein ebenso frommer wie dummer Wunsch, daß der Tauschwert sich nicht zum Kapital entwickelt, oder die den Tauschwert produzierende Arbeit zur Lohnarbeit.“ [2] Es geht nicht an, daß die Linke sich in unmittelbaren Realitäten geschlagen gibt, sie als Ewigkeiten wahrnimmt, anstatt als spezifischen Auswurf der Geschichte. Gerade das müßte Theorie leisten, vom Empirischen zu abstrahieren.

Sozialismus und Markt haben absolut nichts miteinander zu tun, sozialistische Marktwirtschaft ist ein hölzernes Eisen. Marx schreibt über den Sozialismus: „Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus. Ebensowenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren.“ [3] Also unabhängig davon, ob man sich positiv oder negativ auf Markt orientiert, Markt und Sozialismus schließen einander aus.

2. Abschied von der Arbeiterklasse und vom Klassenkampf

Es gibt keinen antagonistischen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Dieser Widerspruch ist ein immanenter. Ihre Differenz ist ein ordinäres Konkurrenzverhältnis. Ihr Kampf, der Klassenkampf, ist nichts anderes als eine Fluktuation des Wertes der Ware Arbeitskraft, eine Auseinandersetzung um das Verhältnis von v:m, vom variablen Kapital zum Mehrwert.

Die Arbeiterklasse ist eine bürgerliche Klasse, der Klassenkampf ist eine immanente bürgerliche Form gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Sozialismus und Arbeiterbewegung sind keine Synonyme. Als Lohnarbeiter können Lohnarbeiter gar kein antikapitalistisches Bewußtsein haben. Klassenbewußtsein kann nicht sozialistisch sein. Was an Klassenbewußtsein noch vorhanden ist, wird immer mehr zu einer regressiven Größe, zu einem bloßen Anhängsel des produktiven Blocks. Obwohl die gesellschaftlichen Widersprüche sich verschärfen, entschärfen sich die Klassenwidersprüche.

3. Abschied von der Arbeit als sinnstiftender Instanz

Arbeit — verstanden als abstrakte Arbeit, als Lohnarbeit — ist kein positiver Wert, sondern eine historische Notwendigkeit, begrenzt auf bestimmte Epochen. Wenn ich hier von Arbeit spreche, meine ich das, was man im Englischen unter „labour“ versteht, denn das Deutsche hat diese sinnvolle Differenzierung zwischen Arbeit(en) und Werk(en) im Laufe der Jahrhunderte verloren.

Der rechts-linke Konsens von „Arbeit schaffen“, der auch heute vorgetragen wurde, muß durchbrochen und negiert werden. Die grundsätzliche Frage hat zu lauten: Wer soll eigentlich wozu vollbeschäftigt werden? Die fetischisierte Formel setzt nämlich voraus, daß gesellschaftliches Auskommen an monetäres Einkommen gekoppelt zu sein hat. Doch gerade dies gilt es zu durchbrechen. Das Auskommen muß vom Einkommen entkoppelt werden. Es geht nicht nur darum, Arbeit und Einkommen zu entkoppeln, es geht darum, individuelles Auskommen von individuellem Einkommen in monetärer Form zu entkoppeln. Vollbeschäftigung in der Form von Lohnarbeit wird es so und so nie mehr geben, dafür sprechen alle empirischen Daten. Welche Ausweitung von Produktion ist heute noch vorstellbar? Es gibt genug Butter, Schweine, Autos, Bier; die Frage ist „Warum müssen sie bezahlt werden?“ Perspektivisch geht es nicht darum, Arbeit zu schaffen, sondern Arbeit abzuschaffen.

Im Wesen der Lohnarbeit haben geistige Beschränktheit und Konformismus ihre Wurzeln. Sie ist der Grund von Dumpfheit, Abgestumpftheit und Abgeklärtheit der bürgerlichen Individuen. Dazu ein Zitat von Günter Anders: „Der Betrieb ist der Ort, an dem der Typ des medial gewissenlosen Menschen hergestellt wird, der Geburtsort des Konformisten.“ [4] Arbeit macht dumm. Das emanzipatorische Ziel kann also nur darin bestehen, die Menschen weniger zu beschäftigen, damit sie sich beschäftigen können, womit sie sich beschäftigen wollen.

4. Abschied von der Politik

Politik ist keine neutrale Form, sondern eine warenförmige Regulationsmaschine der kapitalistischen Verwaltung. Politik ist a priori kapitalkonform. Sozialistische Politik ist ein Widerspruch in sich. Politik ist kein Prinzip, das über die Ökonomie hinausgeht, sie ist das Ein- und Auspendeln gesellschaftlicher Möglichkeiten auf dem Niveau der aktuellen Verwertungsbedingungen. Politik ist keine autonome Gestaltungskraft und hat auch immer weniger (die in den alten Neuen Linken so abgefeierte) relative Autonomie. Sie ist letztendlich nichts anderes als die gebundene Verwaltungskraft, die an der Ökonomie hängt.

Nur die spezifische, fordistische Periode hat sie als etwas anderes erscheinen lassen können, weil die Verwertungsbedingungen im Westen so ausgezeichnet waren, daß Bedürfnisse befriedigt werden konnten, die in der Zwischenkriegszeit außerhalb jeder Reichweite lagen. Daher bewerte ich Entpolitisierung bzw. Politikverdrossenheit anders als üblich, nämlich positiv. Sie erscheint zwar heute in einer negativen Form, aber ich kann nicht erkennen, warum man von der Politik, die von Rechts und Links gemacht wird, nicht verdrossen sein soll. Politik und Praxis sind nicht identisch. Die Absage an die Politik ist also keine Absage an die Praxis.

5. Abschied von den bürgerlichen Leitwerten

Ich wende mich nicht nur gegen die Politik sondern auch, ganz in Marxscher Tradition, gegen Freiheit und Gleichheit, Demokratie, Sozialstaat, Menschenrecht. Zur Disposition stehen auch Konstruktivität und Sachlichkeit, die nichts anderes sind, als positivistische Zwangsmodi bürgerlicher Betrachtungsweise. Eines der Grundmißverständnisse linker Theorie war stets die metaphysische Trennung von Form und Inhalt. Diese führt dazu, daß die Form als quasi wesenlose Hülle erscheint, die mit beliebigen Inhalten auszufüllen sei.

Das affirmative wie leere Verständnis von Politik, Recht, Demokratie oder Staat ist Ausdruck dieser Haltung. Diese Begriffe sind bisher nicht als bürgerliche Realkategorien erkannt worden, sondern werden als überhistorische Formen menschlicher Kommunikation verkannt. Wenn ich z.B. etwas von sozialistischer Demokratie höre, schlafe ich sofort ein. Es geht nicht mehr darum, auch wenn es in diesem Sozialdemokratischenjahrhundert durchaus notwendig und sinnvoll war, eine andere Politik, mehr Demokratie, mehr Sozial- und Rechtsstaat einzufordern, sondern darum, die objektive Begrenztheit dieser Instrumentarien aufzuzeigen und Kritik an diesen immanenten, d.h. bürgerlichen Formprinzipien des Gesellschaftssystems zu üben.

Das Gleiche gilt natürlich auch und gerade für die Demokratie. Daß Demokratie sich brausen kann, wenn es um Wirtschaft geht, müßte doch schön langsam dämmern. Da können noch so alle etwas anderes wollen, wenn es der Rentabilität widerspricht, wird es fallen. Die Bedürfnisse der betroffenen Menschen sind letztendlich nur von Belang, wenn sie in-Wert-gesetzt werden können. Sind sie es nicht, dann werden jene abartig und absonderlich, schlußendlich ausgesondert. Die Menschen sind im Kapitalismus ja auch nicht Ausgangspunkt und Ziel — wie fälschlicherweise jede demokratische Staatsbürgerkunde behauptet —, sondern ihre Rolle ist die eines Mediums der Verwertung.

Und noch etwas, es ist schon sonderbar: Alles, was die Demokratie trägt — die Politiker, die Parteien, die Bürokratien, der Parlamentarismus, der Proporz, die Gesetzgebung — ist in Verruf geraten. Und das leere Füllwort, das jetzt völlig nackt im Raum steht, wird affirmiert bis zum „Geht nicht mehr!“. Alle sind für die Demokratie, obwohl immer weniger klar ist, was man sich positiv darunter vorstellen kann. Im historischen Bezug kann man zeigen, daß alle Versuche einer sogenannten Demokratisierung von der Konzeption der Rätedemokratie bis zur Basisdemokratie an objektiven Kriterien gescheitert sind und nicht daran, daß die subjektivenTräger nicht entschieden genug den Anforderungen nachkommen konnten.

6. Abschied vom bürgerlichen Subjektdenken

Zurück zu unserem Ausgangspunkt: Die Linke denkt den Kapitalismus immer dualistisch, nicht struktiv. Hört sie vom Kapital, denkt sie sofort an die Kapitalisten, an die Konzerne, an den Klassenkampf, an die Kartelle. Dieser K&K-Sozialismus ist meiner Ansicht nach völlig überholt. Eifrig benennt die Linke die Schuldigen und vergißt, was der Kapitalist eigentlich ist, was im ersten Band des „Kapitals“ nachzulesen ist; nämlich nichts anderes als eine Charaktermaske, der Funktionär der kapitalistischen Produktion. [5] Nicht, was heute mehrfach unterstellt wurde, machthabende und -schaffende Elite, die entscheidet, wo es langgeht.

Kapital und Arbeit sind dem Kapitalverhältnis untertan. Sie sind unterschiedlich positioniert, aber den Zwangsgesetzlichkeiten der Kapitalherrschaft müssen sie sich beide unterwerfen. Die Linke muß wegkommen vom Moralisieren, von dem Suchen und Finden der Schuldigen und zur Analyse gesellschaftlicher Totalität übergehen.

Was heißt das für die gesellschaftliche Emanzipation?

Eine Linke, die fortfährt in den konventionellen Formen dieses Jahrhunderts, wobei für den Westen die sozialdemokratische Form und für den Osten die bolschewistische Form, trotz aller Deformationen durchaus funktionsfähig war, kommt nicht über die Variation des Kapitalverhältnisses hinaus. Um über sie hinauszukommen, muß man die der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde gelegten Formen einer radikalen Kritik unterziehen. Im Prinzip heißt das, daß Emanzipation sich heute von Demokratie emanzipiert hat und in jeder Hinsicht interessensunspezifisch und damit klassenunspezifisch, geschlechtsunspezifisch und regionenunspezifisch geworden ist. Ganz im Sinne der propagierten Klassenlosigkeit.

Ein Ziel der klassenlosen Gesellschaft ist aufrecht, daß nämlich Emanzipation erstmals zur allgemeinen menschlichen Angelegenheit geworden ist. Zu einer Angelegenheit, die über den Interessen steht und nicht als partielles Interesse formuliert werden kann. Vor allem die Ökologiefrage verdeutlicht das am Prägnantesten. Es geht nicht mehr um den Kampf der Einen gegen die Anderen, sondern um die Überwindung dieses Kampfes. Es geht nicht um irgendeinen Sieg, sondern um die Aufhebung der menschlichen Vorgeschichte. Denn diese ist wahrlich zu Ende — insofern ist das postmoderne Gerede durchaus richtig, auch wenn das Ende der Geschichte mit dem Ende der Vorgeschichte verwechselt wird. Wir stehen also tatsächlich vor der Alternative Sozialismus oder Barbarei

Wenn man sich die weltweite Entwicklung anschaut, dann sind — außer in einigen westlichen Zentren — barbarische Zustände hergestellt. Zwischen Afghanistan und Äthiopien kann man nicht davon sprechen, daß Marktwirtschaft funktioniert. Selbst wenn man sich die zum Kapitalismus hinaufgefallenen Länder im Osten anschaut, muß man sagen, daß die Transformation nur teilweise geklappt hat. In Tschechien z.B. besser, in der ehemaligen DDR und in Ungarn schon weniger, aber wie dieser Prozeß in Jugoslawien vollzogen wurde und wird, wissen wir. Was weiter im Osten geschieht, ist nur weniger bekannt, aber afghanische und tschetschenische Zustände sind kennzeichnend. Verglichen mit letzterem, war das Sowjetsystem fast anheimelnd. Die Barbarei ist also schon da, zwischen Rumänien und der Mongolei und zwischen Äthiopien und Afghanistan ist kaum an menschenwürdige Existenz zu denken. Da ist keine Perspektive. Daher reagiert der Westen empfindlich und baut neue Mauern, damit die Menschen nicht dem Geld folgen und hierher kommen, um ihr Glück zu versuchen.

In nur einer Hinsicht hat das Wort „Spielraum“, das in der Themenstellung formuliert ist, eine Berechtigung: die Politik ist im Kapitalismus zum Spielraum geworden. Spielraum im Verständnis von Spielzimmer. Rechte und linke Politik spielt Verwaltung. Sie meint etwas tun zu können und kann nichts tun, als sich permanent den ökonomischen Gesetzlichkeiten zu unterwerfen. Paradigmatisch dafür sind die Vorgänge rund um die Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten, bei denen der Gleichklang traditioneller Interessen der Unternehmer und der Arbeiterklasse offenbar wird, nämlich die Öffnungszeiten nicht zu erweitern. Aber der internationale Druck des Kapitals fungiert über diese Interessen beinhart hinweg.

Die Linke muß sich von ihren alten Mythen, d.h. den falschen Wahrheiten befreien, wir leben nicht 1923, auch nicht 1956, und nicht 1976, auch wenn ich heute einige déjà vu-Erlebnisse hatte. Will die Linke Zukunft haben, darf sie nicht weiter Vergangenheit spielen.

[1Karl Marx, Das Kapital. Zweiter Band (1885), MEW Bd. 24, S. 109.

[2Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58), MEW, Bd. 42, S. 174.

[3Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms (1875), MEW, Bd. 19, S. 20.

[4Günther Anders, Die Antiquiertheit des Men­schen, Band II. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, Mün­chen 1980, S. 289-290.

[5Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Erster Band (1867), MEW, Bd. 23, S. 167-168, 247, 618 etc.