ZOOM 7/1996
Dezember
1996

Vierzig Grad

Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo, über die sizilianisch-amerikanische Mafia, den Corleonesi-Clan, seinen Kampf gegen die Mafia und die Frage, warum ein Ministerpräsident einen Mafiaboss küßt.

ZOOM: Immer mehr inhaftierte Mafiosi erklären sich zur Zusammenarbeit mit Polizei und Justiz bereit. Im Juni beispielsweise gestand Calogeri Ganci, für über 100 Morde und Gewaltverbrechen mitverantwortlich gewesen zu sein. Unter anderem habe er 1982 den Carabinieri-General Dalla Chiesa erschossen. Schwächen Aussagen wie diese die Mafia?

Leoluca Orlando: Ja, natürlich. Aber wir bräuchten hundert Gancis mehr, um alles zu erfahren, was die Mafia in diesen Jahren in Italien gemacht hat. Und selbst das wäre nicht genug. Was wir erreichen müssen, ist, daß die Mafia nicht mehr die Mafia sein kann, sondern nur mehr eine normale Form der organisierten Kriminalität. Wir müssen die Beziehungen zwischen Mafia, Politik und der Finanzverwaltung trennen.

Viele prominente Bosse der Cosa Nostra wurden verhaftet: Leoluca Bagarella, Giovanni Brusca oder Salvatore „Totò“ Riina, der „capo di tutti capi“. Ist die Cosa Nostra heute zerschlagen?

Wenn von der Mafia die Rede ist, möchten viele Leute nur über Totò Riina sprechen, über einen Kriminellen, der mit Waffen Geld verdient. Das ist wichtig, aber nicht genug. Denn die Mafia repräsentiert eine eigene Qualität der Gewalt. Sie agiert nicht nur gegen den Staat, sondern im Staat. Unsere Geschichte, die offizielle wie die kriminelle, ist gleichzeitig eine Geschichte über die Beziehungen zwischen Mafia und legaler Gewalt, zwischen Mafia und Geheimdienst, Mafia und Freimaurerlogen wie der P 2, Mafia und Geheimorganisationen wie Gladio.

Ich kann nur über meine eigenen Erlebnisse sprechen. Wenn ich meine Stimme gegen einen Mafiaboss erhebe, der mit Waffen handelt, steigt meine Temperatur auf 37. Spreche ich über einen Mafioso, der mit dem Bankensystem in Verbindung steht, steigt meine Temperatur auf 38. Spreche ich über einen Mafioso, der Beziehungen zu Politikern hat, und über Politiker, die Beziehungen mit einem Mafioso haben, steigt meine Temperatur auf 39. Spreche ich aber über Geheimdienste und Freimaurerorganisationen, steigt meine Temperatur auf 40.

Wir dürfen nicht vergessen, daß die Mafia eine große politische und internationale Rolle gespielt hat. Es gibt zwei verschiedene Modelle der Mafia. In dem einen, versucht ein Mafiaboss, Geld zu bekommen, und träumt davon, daß sein Sohn ein normaler Politiker wird. Um das zu erreichen, darf er keine Richter und Polizisten töten. Denn wenn der Vater einen Richter tötet, wird es für seinen Sohn schwierig, ein normaler Politiker zu werden. Dies nennt man das sizilianisch-amerikanische Modell. Es war das normale Modell in Italien nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Amerikaner sind mit Hilfe der Mafia nach Sizilien gekommen – der Zweite Weltkrieg endete in Sizilien bereits im Frühjar 1943 und nicht erst im Frühjahr 1945. Unsere Republik und unsere Demokratie wurden mit Hilfe der Mafia geboren. Das bedeutet, Staat und Gegenstaat, Recht und Unrecht sind damals zusammengekommen.

In diesen Jahren herrschte das sizilianisch-amerikanische Modell. Ein kleiner Teil dieser Organisation waren die Corleonesi, eine Killertruppe, die von den Mafiabossen benutzt wurde. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre sind diese dann in eine strategische Position gekommen, und seitdem haben sie alles kontrolliert. Viele Richter und Polizisten wurden getötet, viele Autobomben gelegt. Dieses neue Modell, das Corleonesi-Modell, hat das alte System mit Leuten wie Unseril, Bontade und Buscetta kaputtgemacht

Buscetta hat dann als erster Mafiaboss das Gesetz des Schweigens gebrochen?

Buscetta war ein Geständiger, ein Pentito. Da er unter dem Schutz der Polizei stand, konnten die Corleonesi ihn nicht töten. Aber sie haben alle seine Freunde getötet. Buscetta hat zwar gesprochen, aber nie über Politiker. Denn seine politischen Freunde waren sehr mächtig.

Als die Corleonesi die strategische Führung übernahmen, haben sie zur christdemokratischen Partei gesagt: Ihr müßt mit uns einen Vertrag schließen. In der Vergangenheit war kein Vertrag notwendig, denn für die traditionelle Mafia war es normal, gute Beziehungen zur christdemokratischen Partei zu haben. Also haben sie diesen Vertrag geschlossen. Warum hat Andreotti im September 1987 Riina geküßt? Weil für die Mafia ein Kuß so gut ist wie die Unterschrift unter einem Vertrag. Andreotti sollte eine Garantie abgeben, die Mafiabosse nicht zu verurteilen. Doch 1992 hat der Gerichtshof die Bosse der Corleonesi schuldig gesprochen. Deshalb haben die Corleonesi Salvo Lima getötet. Lima war Mitglied des Parlaments und ein Freund von Andreotti, sein Mann in Sizilien. Sie töteten ihn, weil er und Andreotti die Garantie, die Mafiabosse nicht zu verurteilen, nicht respektierten.

Nach diesem Mord hatte Buscetta, ebenfalls ein Freund Salvo Limas, keinen Grund mehr, nicht über Politiker zu sprechen. Er war bereit, mit Falcone und Borsellino zu reden. Als dann die Corleonesi 1992 Falcone und Borsellino ermordeten, [1] löste dies eine heftige Reaktion aus – sowohl der amerikanischen Regierung als auch der amerikanischen Mafia. Das war der Anfang vom Ende der Corleonesi-Mafia. Heute sitzt Riina im Gefängnis, Bagarella im Gefängnis, Brusca im Gefängnis, Ganci spricht. Das Imperium bricht zusammen.

Und trotzdem ist die Mafia nach wie vor sehr mächtig?

Heute sagen alle Leute: Die Mafia ist geschlagen, wir haben gewonnen. Das ist falsch. Wir haben zwar gegen die Corleonesi gewonnen, aber nun ist die traditionelle Mafia wieder mächtig. Diese ist anders als die Corleonesi. Normalerweise töten ihre Mitglieder keine Richter, aber sie sind trotzdem gefährlich. Wer kontrolliert in diesem Moment den Drogenhandel, wer den Waffenhandel, wer die Geschäfte – heute, wo die Corleonesi in Schwierigkeiten sind? Die sizilianisch-amerikanischen Bosse sind wieder an der Macht. Wenn die Leute sagen, sie seien zufrieden, weil Brusca, Bagarella und Riina inhaftiert sind, so sehen das auch die neuen Mafiabosse mit Zufriedenheit, weil dies es ihnen leichter macht.

Es kann sein, daß der militärische Arm in Sizilien bleibt – oder vielleicht in Moskau, Kambodscha oder Kolumbien. Aber nur der militärische Arm. Der politische Kopf kann in Bonn, Rom, Paris, London oder New York sitzen. Das Geld kann überall auf der ganzen Welt liegen, nur nicht in Sizilien. Die sizilianischen Banken werden zu gut kontrolliert. Jeden Tag wirft ein Richter oder ein Polizist einen Blick auf die sizilianischen Banken. Aber Justiz und Polizei kontrollieren nicht jeden Tag die Wiener Banken, die französischen oder die deutschen.

Der Zusammenbruch des Corleonesi-Systems hat also, um bei ihrem Bild zu bleiben, ihre Temperatur auf nicht mehr als 37 Grad steigen lassen?

37 Grad, vielleicht 38, aber nicht mehr.

Wenn ein Mafiaboss verhaftet wird, führt dies nur dazu, daß dieser durch einen anderen ersetzt wird? Am System ändert sich nichts?

Vier, vielleicht sechs Stunden nachdem ein Mafiaboss inhaftiert wurde, gibt es bereits einen neuen Boss. Das geschieht ganz automatisch, dazu bedarf es keiner Wahlen. Auch wenn ein Boss stirbt, steht schon ein neuer bereit.

Aber das Gefängnis ist nicht die Frage. Ein Richter hat diese Tage etwas sehr Interessantes gesagt: Ein Boss im Gefängnis mit Geld ist gefährlicher als ein Boss in Freiheit ohne Geld. Die Inhaftierung eines Bosses bedeutet nicht, daß wir die Mafia besiegt haben. Für einen Mafiaboss ist das Gefängnis Teil seiner Karriere. Ein Botschafter ist einmal in Hongkong, einmal in Tokio, einmal in Paris. Ein Mafiaboss ist einmal in Palermo im Gefängnis, einmal in Mailand, einmal in Bonn. Für einen Mafiaboss ist Gefängnis ein Statussymbol. Verliert er Geld, so ist dies das Symbol seiner Niederlage. Verliert er seine Freiheit, gewinnt er an Status.

Er kann also aus dem Gefängnis ungehindert weiteragieren?

Ja. Deswegen ist es notwendig, die Mafia finanziell zu kontrollieren. Ich habe als Bürgermeister in Palermo ein Gesetz durchgesetzt, durch welches das Eigentum der Mafiosi von der Stadtverwaltung beschlagnahmt werden kann. Sie haben ihr Eigentum mit kriminellen Aktivitäten erworben, und wir brauchen dieses Eigentum. Sie müssen das Geld, das sie uns gestohlen haben, zurückgeben.

Ich vertrete Palermo als Bürgermeister vor Gericht und fordere die Verurteilung der Mafiosi sowie die Wiedergutmachung der Schäden, die sie der Stadt zugefügt haben. Normalerweise trete ich vor Gericht gemeinsam mit vielen anderen gegen die Mafia auf: mit der lokalen Verwaltung, der Regionalregierung, der Staatsregierung. Als ich aber im Prozeß gegen Andreotti dessen Verurteilung verlangte, war ich völlig alleine. Niemand sonst unterstützte die Forderung des Bürgermeisters. Es ist sehr viel schwieriger, die Verurteilung Andreottis zu verlangen als diejenige Riinas.

Werden die Massaker, die Italien zwischen den späten sechziger und frühen achtziger Jahren erschüttert haben, jemals restlos aufgeklärt werden? Um ein Beispiel zu nennen: Alle Urteile gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen für das Blutbad auf der Mailänder Piazza Fontana im Jahr 1969 wurden wieder aufgehoben. Heute ermitteln die Behörden gegen den Faschisten Delfo Zorzi, ehemaliges Mitglied der von ihrem „Kollegen“ im Europaparlament, Pino Rauti, gegründeten Terrorgruppe „Ordine Nuovo“.

Alles ist miteinander in Verbindung. Wir werden nie die Wahrheit über einen Fall allein erfahren – nie. Entweder über alle oder über keinen. Wenn wir den Knoten an einem Punkt trennen können, wird alles getrennt sein.

Italien ist das einzige Land, in dem niemand weiß, wer die Verantwortlichen für Hunderte von Ermordeten sind, wer die Mörder, wer die Befehlsgeber. Eines Tages werden wir alles wissen. Aber bis dahin werden wir nichts wissen. Das war schon bei der militärischen Fraktion der Mafia so. Als der erste Pentito gesprochen hat, haben alle gesprochen. Heute wissen wir fast alles über die militärische Organisation. Und so wird es auch sein, wenn wir beginnen, über die politischen Verbindungen zu sprechen.

Wenn wir wissen möchten, was 1970 passiert ist, 1960 oder 1950, müssen wir wissen, was heute passiert. Deswegen ist es so wichtig, daß die Richter heute handeln. Viele Jahre lang haben die italienischen Richter gesagt, die Mafia existiert nicht. Kennen sie den Ursprung des Wortes Mafia? Es kommt aus dem Arabischen und heißt „existiert nicht“. Die Mafia existierte nicht, und die Richter haben die Mafia nicht verfolgt. Später haben sie gegen Mafiosi prozessiert, die mit Waffen handelten, aber gegen Mafiosi, die nicht mehr an der Spitze standen. Wir hatten das Gefühl, daß die Mafia entscheidet, wer gewinnt und wer verliert. Wer verloren hatte, gegen den konnte der Staat prozessieren – mit Erlaubnis der Mafia. Heute gehen die Richter auch gegen Mafiosi und Politiker vor, die an der Macht sind – heute, nicht gestern. Das ist eine Folge des Prozesses gegen Andreotti. Nach dem Andreotti-Prozeß begannen die Richter mit Untersuchungen über Politiker, die heute mächtig sind. Sobald die Richter Beweise gegen diejenigen in den Händen haben, die heute an der Macht sind, und sobald diese schuldig gesprochen werden, werden wir auch die ganze Wahrheit über die letzten vierzig Jahre kennen.

Andreotti steht zur Zeit in Palermo vor Gericht. Er wird beschuldigt, die Mafia 1979 mit der Ermordung des Journalisten Mino Pecorelli beauftragt zu haben, der den Hintergründen der Ermordung Aldo Moros auf der Spur war. Welchen Rückhalt haben die Mafia und rechtsextreme Organisationen heute noch im staatlichen Machtapparat?

Viele Politiker der sogenannten Ersten Republik sind nicht mehr aktiv. Aber die Richter, die Polizisten und Beamten sind alle noch im Dienst. Das ist das wirkliche Problem, denn sie sind die Schuldigen.

Ende letzten Jahres bestätigte ein Kassationsgericht die Strafen gegen zwei Offiziere des militärischen Geheimdienstes SISMI und gegen P 2-Chef Licio Gelli, weil diese die Ermittlungen wegen des Massakers von Bologna behindert hatten. Waren Geheimdienst und P 2 nur in die Vertuschung der faschistischen Anschläge verwickelt, oder waren sie die eigentlichen Auftraggeber?

Wir haben es hier nicht mit einer hierarchischen, sondern einer horizontalen Struktur zu tun. Es handelt sich um einen Zusammenschluß von Gleichgesinnten, in dem jeder seine Rolle spielt. Ein Politiker kann im Einvernehmen mit einem Mafiaboss handeln, ohne diesen jemals zu treffen. Ein SISMI-Offizier kann im Einvernehmen mit einem Politiker agieren und diesen nie treffen. Deswegen spielen Geheimbünde wie die Freimaurer, die in Italien geheim sind, eine so wichtige Rolle. Dort können sich Politiker, Richter, Mafiabosse und Killer im Geheimen treffen, um Entscheidungen zu fällen. Wenn Sie also fragen, wer die Auftraggeber sind, so ist diese Frage vielleicht nicht korrekt. Die Leute operieren in derselben Arena mit denselben Interessen.

Anfang Juni hat die italienische Polizei einen riesigen Waffenring ausgehoben, dessen Kontakte vom Erzbischof von Barcelona bis Wladimir Schirinowski reichten. Einer der Drahtzieher soll wieder einmal Licio Gelli gewesen sein. Ist Gelli immer noch aktiv?

Was passiert, wenn ein Mann wie Licio Gelli in das Licht der Öffentlichkeit gerät? Er hat eine große Macht, aber er kann sie nicht mehr benutzen. Meiner Meinung nach ist die Strategie immer noch die alte P 2-Strategie, doch Gelli ist vielleicht nicht mehr so mächtig. Die Frage ist: Wer ist der neue Mafia-Boss, wer der neue Riina? Und: Wer ist der neue Gelli? Würden wir das wissen, wäre dies für uns eine Versicherung. Unser Problem ist: Wenn wir gegen jemanden vorgehen, von dem wir glauben, daß er der Boss ist, besteht das Risiko, daß er der falsche ist. Dann kann es passieren, daß der echte Boss aktiv wird, aber alle halten den falschen Boss für verantwortlich.

In Östereich erregten vor einigen Monaten 79 von der CIA Anfang der fünziger Jahre angelegte geheime Waffenlager großes Aufsehen. Sie dienten vermutlich einem ähnlichen Zweck wie die italienischen Gladio-Waffenlager. Welche Rolle spielten diese Strukturen in Italien?

In der Vergangenheit hat das eine große Rolle gespielt, besonders nach Ende des Zweiten Weltkriegs und auch noch in den sechziger Jahren. Damals bestand in Italien die Gefahr einer kommunistischen Bewegung, und es gab ein internationales Interesse, die linke Bewegung zu unterdrücken. Dieses Interesse ist heute verschwunden, aber die CIA muß die Vergangenheit schützen. Das ist ähnlich wie bei Andreotti. Andreotti würde heute nicht mehr in seinem damaligen Interesse handeln, aber er muß die Vergangenheit schützen. Er ist ein Gefangener seiner Vergangenheit. Das gilt auch für viele andere, die in der Vergangenheit eine Rolle gespielt haben.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den CIA-Aktivitäten in Österreich und in Italien?

Darüber kann ich nichts sagen. Was ich sagen kann, ist, daß Plätze wie Österreich, wie Wien, eine große Rolle als Mittler zwischen Ost und West gespielt haben. Die Situation in Österreich war ähnlich der in Italien oder in Jugoslawien. Die Frage ist: Welche Instrumente hat der Westen benutzt, um den Kommunismus zurückzudrängen? Wir wissen, was der Kommunismus in Jugoslawien gemacht hat, und wir wissen, was der Antikommunismus in Italien gemacht hat. Nach Ende des kalten Kriegs haben wir in Jugoslawien eine ethnische Explosion gehabt. In Italien haben wir eine ethische Explosion gehabt.

In Jugoslawien wurden im kalten Krieg die verschiedenen ethnischen Gruppen vom Kommunismus kontrolliert. In Italien wurden Kriminelle vom Antikommunismus beschützt. Leute wie Andreotti oder Craxi waren notwendig, um den Kommunismus zurückzuhalten, um die Freiheit zu schützen und auch den katholischen Glauben. Versuchte ein Richter gegen Andreotti oder Craxi vorzugehen, so konnten diese sich an die Amerikaner, Franzosen und Deutschen wenden und sagen: Wenn wir kapitulieren, besteht das Risiko, daß auch die Freiheit in Italien kapitulieren muß. Dann kommt der Kommunismus. Der kalte Krieg funktionierte wie ein Schutzsystem für die Illegalität, als Schutz für diejenigen Leute an der Macht, die kriminell und korrupt waren. Meine Antwort ist daher eine Frage: Österreich lag im kalten Krieg an der Grenze zwischen Ost und West. In Italien haben wir starken Widerstand geleistet, in Österreich aber gab es keinen Widerstand. Ich weiß es nicht, ich kann dies nur als Frage stellen.

Sie haben eingangs von den 40 Grad gesprochen, auf die ihre Temperatur steigt, wenn Sie über das Verhältnis von Mafia, Geheimdiensten und Polizei sprechen. 40 Grad können tödlich sein. Werden Sie mit dem Tod bedroht?

Ja. Sehr oft. Manchmal weiß ich nicht, wie. Aber die Polizisten wissen es. Ich sehe, daß der Schutz verstärkt wird und frage sie: Was ist passiert? Meistens ist es eine neue Drohung.

Leben Sie in Angst?

Ja, aber ich lebe. Angst zu haben, ist normal.

Wir danken für das Gespräch.

Leoluca Orlando: „Palermo e nostra e no cosa nostra.“

Leoluca Orlando war einer der jüngsten Rechtsprofessoren Italiens. Nach der Ermordung seines Freundes Piersanti Mattarella, des sizilianischen Regionalpräsidenten, im Jahr 1980 begann Orlando, sich gegen die Mafia zu engagieren. Er vertrat Mafia-Opfer vor Gericht und gründete die Anti-Mafia-Bewegung La Rete (Das Netz). Heute ist Orlando Bürgermeister von Palermo und grüner Abgeordneter im Europaparlament.

Im Sommer 1996 trat Orlando in Wien vehement gegen die Anonymität der österreichischen Sparkonten auf. Die Mafia hätte heute ihr Geld nicht mehr in Corleone liegen – einem kleinen Ort südlich von Parlermo, der dem Clan der Corleonesi seinen Namen gab –, sondern überall auf der Welt: „Wäre ich ein Mafiaboß, würde ich mein Geld in Wien anlegen.“ Die Mafia brauche die Anonymität der Konten, und die Bankiers bräuchten Leute mit viel Geld. So würden letztere automatisch zu Freunden der Mafiabosse. Am Ende seien dann die Mafiosi die neuen Herren der Banken. Die Mafia, ist Orlando überzeugt, kann nur besiegt werden, wenn es gelingt, sie in eine gewöhnliche Form organisierter Kriminalität zu verwandeln.

Für seine Heimatstadt Palermo wünscht sich Orlando Normalität – nicht bloß Normalisierung. Letztere sei nicht mehr als die „toten Augen eines gefangenen Fisches“. Normalität hingegen die „lebenden Augen eines lebenden Fisches“. Denn: „Palermo e nostra e no cosa nostra.“ – Palermo gehört uns und nicht der Cosa Nostra.

[1Ende August gestand Giovanni Brusca, genannt „u verru“ (das Schwein), im Mai 1992 jene Bombe ferngezündet zu haben, die den gegen die Mafia ermittelnden Staatsanwalt Giovanni Falcone, dessen Frau und drei Leibwächter tötete. Er soll auch bei der Ermordung des Richters Paolo Borsellino sowie den Anschlägen in Florenz, Rom und Mailand im Mai 1993 – Racheaktionen für die Verhaftung „Totò“ Riinas – die Fäden gezogen haben. Brusca entlastete auch den angeklagten Andreotti, der Opfer eines Komplotts geworden sei. Es wird allerdings befürchtet, daß hinter Bruscas plötzlicher Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Justiz der Versuch steht, falsche Fährten zu legen.

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