Streifzüge, Heft 1/1998
März
1998

Vorwärts zur Nachknappheitsordnung!

Anthony Giddens und die Plattheiten der zweiten Moderne

Jeder erfolgreiche Politiker hat seine Einsager. Tony Blair hat Tony Giddens. Grund genug, nachzulesen, was hinter „New Labour“ steckt. Stellenweise liest sich der Band auch wie ein Parteiprogramm, was für eine wissenschaftliche Publikation nicht unbedingt ein Kompliment ist. Natürlich ist es richtig, wenn Giddens meint, daß der Sozialstaat in seiner bestehenden Form nicht überleben kann, daß dieser auch bisher die wirtschaftliche Ungleichheit nicht abgebaut hat, daß Vollbeschäftigung als Ziel wenig Sinn macht, daß Klasse nicht mehr als soziale Zugehörigkeit erlebt wird. Was aber nun?

Einmal mehr soll die Demokratie demokratisiert werden. „Mehr Transparenz der Regierung würde der Demokratisierung der Demokratie nützen“, müssen wir da lesen. — Müssen wir das lesen? Daß solch abgestandene Allerweltsslogans noch immer nicht hinterfragt werden, verwundert, nachdem sie nun schon Jahrzehnte zum Standardrepertoire aller Demokratiereformer gehören. Der Komparativ „demokratischer“ verbaut jedoch die Analyse, da er eine historische und kritische Sicht der Demokratie verstellt. Ihre Leistungen wie Beschränkungen verschwinden in einer enthusiastischen Bewunderung.

Das Ideal der Demokratie funktioniert wie ein Wunschkonzert. Der Begriff der Demokratie steht heute mehr denn je unter einem politischen Modezwang, den man „zu allen möglichen Zwecken und bei allen möglichen Anlässen benützen zu müssen glaubt“, wie der bedeutende österreichische Rechtsgelehrte Hans Kelsen bereits vor mehr als siebzig Jahren feststellte. Und daher „nimmt dieser mißbrauchteste aller politischen Begriffe die verschiedensten, einander oft sehr widersprechenden Bedeutungen an, sofern ihn nicht die übliche Gedankenlosigkeit des vulgär-politischen Sprachgebrauchs zu einer keinen bestimmten Sinn mehr beanspruchenden, konventionellen Phrase degradiert.“

Da Demokratie so hoch im Kurs ist, soll sie nun als verallgemeinertes Meta-Prinzip weit über den öffentlichen Sektor hinausgreifen: „Der Bereich der persönlichen Beziehungen ist eine maßgebliche Arena potentieller Demokratisierung“, er ist „heute von erstrangiger Bedeutung für viele Aspekte der politischen Reform.“ Was ist aber ein demokratisiertes persönliches Leben? Vor allem dann, wenn Giddens selbst Demokratie auf Repräsentation zurückführt? Wer wird nun in einer Beziehung repräsentiert? Wie demokratisiert man eine Beziehung, ohne daß sie am Ende selbst weg ist? Zu schlechter letzt werden wir noch einmal diskutieren müssen, was ein demokratisches Essen, ein demokratisches Vergnügen oder gar ein demokratischer Beischlaf ist. Und das ist nicht zu weit hergeholt. In seinem Sexualitäts-Buch erstellte Giddens ein Kapitel mit dem bezeichnenden Titel „Intimität als Demokratie“.

Wenn die Linke — auch die gewendete — Demokratie aufkocht, stellt sich stets die Frage, welch Substantiv oder Adjektiv ihr denn nun wieder einfällt, um die wahre von der wirklichen Demokratie zu scheiden. Daß die Identität der beiden möglicherweise ein Schlüssel zu ernsthafter Gesellschaftskritik wäre, will ihr hingegen nicht in den Sinn. Was nun kommen soll, ist gar eine „dialogische Demokratie“. Deren dürre Definition liest sich bei Giddens so: „Die dialogische Demokratie unterstellt lediglich, daß der öffentlich geführte Dialog, ein Mittel bereitstellt, um im Verhältnis gegenseitiger Toleranz mit dem anderen im Nebeneinander zu leben ...“

Spielen wir es durch, nehmen wir den Fall eines Arbeitslosen: Man kann ihm wohl plausibel machen, warum sein Arbeitsplatz dem ökonomischen Kalkül zum Opfer fallen mußte, man kann ihm ganz rational erklären, daß sein Unternehmen nicht anders konnte, daß die Entlassung keinen böswilligen Akt darstellt, man kann ihm weiters sagen, daß nach ebendieser Logik bei einer steigenden Arbeitslosenzahl die Leistungen der staatlichen Gemeinschaft gekürzt werden müssen, da sie ansonsten den öffentlichen Haushalt überlasten.

Nur, was wird ihm das alles nutzen, wo fast alle individuellen Bedürfnisse und Notwendigkeiten an Geld geknüpft sind, an Geld, das er nun nicht mehr oder nicht mehr ausreichend hat. Mangels an Perspektive wird er sich an Zustände klammern, die gerade obsolet werden. Was macht er mit dem Dialog, der gegenseitigen Toleranz und dem Nebeneinander, wenn er seine existentielle Lage bedroht sieht, sich ausgespuckt und entwertet fühlt? Die dialogische Demokratie kann hier doch nur noch als zynische Zumutung, als Gipfel der Unverschämtheit empfunden werden. Als Palaver, das Probleme einfach wegredet. Toleranz und Offenheit, Risikofreude und Flexibilität erscheinen vor diesem Hintergrund zusehends als die aktuellen Werbetexte am Jahrmarkt politischer Sinnstiftungen.

Nicht mehr der Sozialismus wird angestrebt, sondern eine Nachknappheitsgesellschaft. Von der Umverteilung wird Abschied genommen: „Gäbe es in der Nachknappheitsgesellschaft immer noch einen Sozialstaat? Nein, den gäbe es nicht mehr“. Laut Giddens geht es nun um ein „Lebensstil-Abkommen“. — Nur, sind alle Lebensstile wünschens- und tolerierenswert? Ist der Lebensstil eines Obdachlosen eine individuelle Möglichkeit oder nicht doch eher eine individuelle Verunmöglichung?

Wie soll die nun propagierte „Subpolitik“, diese „Gesellschaftsgestaltung von unten“ (Ulrich Beck) dem Markt und seinen Anmaßungen Grenzen ziehen? Wie sollen Machtverhältnisse überwunden werden? Wie kann die Pauperisierung ganzer Bevölkerungsgruppen verhindert werden? Hier gerät Giddens — wie so oft — auf die Ebene frommer Wünsche. Was er postuliert, hat mehr von einer Predigt als von einer Untersuchung: „Dialog beruht zwar nicht auf materieller Gleichheit, setzt aber voraus, daß unterschiedlich verteilte Ressourcen nicht dazu benutzt werden, die Äußerung bestimmter Ansichten zu verhindern, oder die Voraussetzungen des dialogischen Austauschs in ein drastisches Ungleichgewicht zu bringen.“ Na, bravo.

Das Hohelied der Politik feiert Auferstehung, ohne freilich angeben zu können, warum sie können soll, wozu sie ausersehen ist. Politik hat jedenfalls — wie bei Ulrich Beck — wiedererfunden zu werden: „Die erfinderische Politik ist eine Politik, der es darum geht, Individuen und Gruppen im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Belange und Ziele die Möglichkeit zur Veranlassung des Geschehens zu geben, anstatt daß ihnen die Dinge widerfahren. Der erfinderische Politikbegriff tritt für eine öffentlich ausgetragene Politik ein, die den alten Gegensatz zwischen Staat und Markt überwindet. (...) Eine Schlüsselthese des vorliegenden Buches besagt, daß die erfinderische Politik das wichtigste Mittel ist, um heute wirksam Armut und sozialer Ausgrenzung begegnen zu können.“

So geht es die ganze Zeit dahin. Giddens schwadroniert. Da ist weder Stringenz im Denken noch Eloquenz im Ausdruck. Er kann so auch nicht das eine durch das andere wettmachen. Daß er trotzdem gefällt, sagt mehr über die Gefälligkeit der Bewunderer als über den Bewunderten. Nicht nur im Feuilleton, selbst auf den politischen Seiten feiert Anthony Giddens seltsame Hochzeiten. Daß er sogar von Jörg Haider — man verweise nur auf seinen neuesten Buchtitel — ausgeschlachtet werden kann, sagt viel über die beliebige Beliebtheit dieser Art von Sozialwissenschaft aus. Schon Giddens letztes Buch über die Sexualität („DerWandel der Intimität“) war von einer ganz dem Thema widersprechenden Trockenheit. Langweilig ist auch dieses. Solch Soziologie ist in ein regressives Stadium getreten: Sie schwätzt.

Da wird eifriger plakatiert als analysiert. Appell und Postulat sind es, die dieses Werk beherrschen, seine negative Pointe ist der Fatalismus: „Zur Natur oder zur Tradition können wir zwar nicht mehr zurückkehren, doch als einzelne wie als Menschheit insgesamt können wir eine neue Moral anstreben für unser Leben im Kontext der positiven Hinnahme hergestellter Unsicherheit.“ Die Hinnahme steigert sich zur Hingebung, obwohl sie doch bloß eine Hinrichtung ist. Das Risiko wird von einer kritischen zu einer akklamierten Größe. Nicht die abgestellte Unsicherheit, sondern die hergestellte Unsicherheit wird zur programmatischen Leitlinie.

Wie paßt nun die „positive Hinnahme der Unsicherheit“ zu der sebstbestimmten „Möglichkeit zur Veranlassung des Geschehens“? Nun, des Rätsels Lösung bei Giddens oder auch bei Blair ist wohl ganz einfach: Es geht darum, dafür zu sein, was auf einen zukommt. Propagiert wird die blanke Affirmation des Geschehens, und die Überaffirmation desselben feiert sich dann als erfinderische Politik, als dialogische Demokratie oder gar als radikale Perspektive.

Es ist nicht viel, was hier an erfinderischer Politik erfunden wurde. Wenn Ulrich Beck, der Herausgeber der „Edition Zweite Moderne“ bei Suhrkamp, behauptet, die Bände dieser Reihe „brechen aus dem ‚ehernen Gehäuse‘ derWissenschaften aus und bestimmen die Prozesse der Zweiten Moderne in einer lebendigen und verständlichen Sprache“, so muß dem ganz entschieden widersprochen werden. Ein Buch wie das von Giddens erscheint viel eher als der letzte Sud abendländischer Wissenschaft. Da ist nichts neu, da ist nichts lebendig, und was da verständlich ist, wurde längst verstanden.

Anthony Giddens
Jenseits von Links und Rechts — Die Zukunft radikaler Demokratie.
Aus dem Englischen von Joachim Schulte
339 Seiten, Paperback, DM 30,— (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main)