Grundrisse, Nummer 22
Juni
2007

Warum eigentlich Materialismus?

Helmut Fleischers praxisanalytisches Materialismuskonzept

Helmut Fleischer (Jg. 1927) hat in Debatten um Ethik, um Sozialismus und um die Analyse historischer Transformationen mit einer Fülle von Arbeiten interveniert. Einen [1] roten Faden seines Werkes bildet die Frage, was als Materialismus heute mit guten Gründen vertreten werden kann. Fleischers praxisanalytisches Materialismuskonzept unterscheidet sich von der weit verbreiteten Überzeugung, es handele sich beim Materialismus notwendigerweise um die Reduktion von Phänomenen auf die ‚hinter’ ihnen stehenden Interessen, [2] und vom marxistisch-leninistischen Kult der Materie (vgl. zur Kritik auch 1977, 184ff. –Quellenangaben ohne Namensnennung verweisen auf ein Zitat aus Fleischers Werk.).

„Materialismus bildet den gemeinsamen Nenner für Denkbemühungen, die die Aufmerksamkeit verlagern von der Unmittelbarkeit der „Bewusstseins- und Gedankenformen, in der alles Wirkliche sich uns darstellt, auf die Handlungsinhalte im Kontext der Lebenstätigkeit, in die alle ideellen Gehalte eingelagert sind“ (1977, 176). Fleischer arbeitet verschiedene Ursachen heraus, derentwegen die dem Bewusstsein gegenwärtigen Inhalte und die Vergegenwärtigung der Realität auseinanderfallen.

Erstens können praktische Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Aufgaben und Zielen und unsichere und brüchige Zusammensetzungen von sozialen Bündnissen bei Unsicherheit über die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen und die der anderen zu Formelkompromissen und überkompensatorischen Selbststilisierungen verleiten. „Wenn die soziale Inhaltskomposition aus einer spannungsreichen Synthesis erwächst, oder auch, wenn die Durchsetzungspotenz dem Interessengehalt nicht angemessen ist, wird der ideelle Ausdruck einen mehr oder minder erheblichen Idealitäts-Überschuss zeigen. Je mehr umgekehrt an zwangsloser Gemeinsamkeit der Interessen besteht und je höher die Durchsetzungspotenz ist, um so mehr Interessen-Transparenz wird im ideellen Ausdruck walten ... Die Materialismus-Fähigkeit ist nicht Sache bloßer theoretischer Einsicht, sondern liegt in sozialpraktischen Qualifikationen beschlossen“ (1977, 181). Es „steht nicht nur der Vollzug einer Praxis in Frage, sondern in eins damit ein theoretischer Akt des Begreifens, das sich nicht nur auf die Praxis selbst thematisch bezieht, sondern in ihr auch … Möglichkeitsbedingungen für seinen eigenen Erkenntnisvollzug findet“ (1976, 223). Die „Materialitätsthese“ des Materialismus lautet, das Bewusstsein des Subjekts sei nicht allein vom Gegenstand her bestimmt, wie dies der ältere Materialismus annehme, sondern „Möglichkeit und Modus der kognitiven Sachverhalts-Erfassung“ sei „auch von der praxisgeschichtlichen Zuständiglichkeit des betreffenden Subjekts präjudiziert“ (1977, 175).

Für Fleischer gründet ein zentrales Moment von Ideologie im Vorsatz, „einen ‚schwächeren Logos’ zum stärkeren zu machen (Platon, Apologie des Sokrates)“ (1993, 249). Den „ideativen Überhang“ (ebd., 263) des ideologischen Denkens macht Fleischer durchsichtig auf die sozialpraktische Verfasstheit sozialer Kräfte, Ressourcen, Qualifikationen, Kooperationen, Vernetzungen usw. „Mit den Ideen-Titeln (wie Freiheit, Vaterland, Solidarität, Sozialismus, Neuer Mensch) erhebt sich das Denken auf eine abstraktive und hoch-stilisierende Stufe von ‚Wesens’bestimmung. In solcher Erhabenheit oder ‚ideativen Überhöhung’ tritt es den Profanitäten der gewöhnlichen Erfahrungswirklichkeit entweder als ein höheres Sollen gegenüber, oder es legt sich als eine idealisierende Deutung bzw. höhere ‚Sinnstiftung’ über ein allzu profanes und unbefriedigendes Dasein“ (1989, 617f.). Die für die Ideologie typische „ideomagische“ Selbst- und Fremdsuggestion und Überredung (1989, 617f.) verweist auf reale Schwächen in der sozialen Wirklichkeitsgestaltung, die (über-)kompensatorisch Geistesaktivitäten in Gang setzen. [3] Mythologie wäre dann nicht nur vormodernen Gesellschaften eigen, sondern verlagert sich von der imaginären Bewältigung einer real unbewältigten Natur auf die einer ebensolchen Gesellschaft. [4]

Eine zweite Aufmerksamkeitsverschiebung von den Handlungsinhalten im Kontext der gesellschaftlichen Lebenstätigkeit hin zur Bewusstseins- und Gedankenunmittelbarkeit resultiert aus der Subjektform. In ihr sind die Menschen der Meinung, es sei ihr Bewusstsein, das ihr Handeln anleite. Fleischer bezieht diese Subjektform weder auf die Rolle, die der Wille durch die Verallgemeinerung von Vertragsverhältnissen in der kapitalistischen Gesellschaft gewinnt, noch auf die Überbaubereiche. Auch sie tragen zur Vorstellung bei, in der kapitalistischen Gesellschaft werde aus Willen und Bewusstsein gehandelt. [5] Nicht alles, was mit freiem Willen getan wird, geschieht aber aus freiem Willen. Charakteristischerweise arbeitet das Ideologisieren „mit bloßem Gedankenmaterial, das er (der Ideologe – Verf.) unbesehen als durch’s Denken erzeugt hinnimmt und sonst nicht weiter auf seinen entfernteren, vom Denken unabhängigen Ursprung untersucht, und zwar ist ihm das selbstverständlich, da ihm alles Handeln, weil durch’s Denken vermittelt, auch in letzter Instanz im Denken begründet erscheint“ (MEW 37, 97). Fleischer konzentriert sich darauf, zu zeigen, wie die Orientierung an der Unmittelbarkeit und der erscheinenden Selbstständigkeit und Autonomie des Bewusstseins gerade die Vergegenwärtigung des wirklichen In- der- Welt- Seins verstellt. Bewusstsein wird zum Schein, insofern das in ihm Erscheinende nicht mehr als Erscheinung, als „Phänomen eines hinter ihr vorgehenden Prozesses“ (Marx 1974, 166) deutlich wird. Fleischer widmet sich weniger der Konstitution des Bewusstseins aus den kapitalistischen Verhältnissen als vielmehr der dem Bewusstsein in seiner Unmittelbarkeit eigenen Gefahr, eine selbstbezügliche Autonomie zu erlangen. Diese legt ihrerseits dem Individuum eine Selbstinterpretation als Subjekt nahe, insofern es sein Handeln als Ausdruck seines Bewusstseins verstehen mag und allein dies sich in ihm ausdrücken sieht. „Das Bewusstsein ist die Weise, in der Sein, Seiendes, Momente des Lebensprozess zusätzlich über ihre Wirklichkeit und Wirksamkeit hinaus und auch ohne deren direkte Präsenz sozusagen stellvertretend für die Menschen da sind“ (1976, 255). Die Konsequenz aus dieser Feststellung lautet: „Es ist fortan nicht vom ‚Bewusstsein’ zu sprechen, ohne das in ihnen bewusste Wirkliche, das Gedachte in seiner die Bewusstseinsform transzendierenden Materialität mit zu vergegenwärtigen“ (ebd.). Das Bewusstsein ist weder Aktionspotential noch Antriebsvermögen. „Das, was durch Bewusstmachen ein Mehr an Handlungsenergie erbringt, .... liegt in der assoziativen Verknüpfung, die das Bewusstsein zwischen den vorher schon vorhandenen Triebkräften herzustellen vermag“ (Negt, Kluge 1981, 473).Um nichts geht es hier weniger als um ein „Prioritätsverhältnis innerhalb einer Pluralität distinkter Instanzen“ zwischen den verdinglichten Wesenheiten ‚Sein’ und ‚Bewusstsein’ (1991, 66). Die Re-Integration des Bewusstseins in seine gegenständlichen und sozialen Praxisbezüge und Feldkontexte ist das Thema, nicht Reduktion des Geistigen auf selbst wiederum verdinglichte Materie. „Das Sein der Menschen ist als Lebenstätigkeit selber schon ‚bewusstes Sein’. So ergibt sich für die Funktionsbestimmung des Bewusstseins kein reduktionistisches ‚Nichts als’, sondern im Gegenteil ein erweiterndes ‚Mehr als’. Das sog. Bewusstsein ist als ein Modus des Seins, das als ein Lebendig-Sein ganz in ihm gegenwärtig ist, stets mehr als das, was sich als ein ‚Bewusstseinsinhalt’ an ihm zeigt. Wenn man die lebendige Essenz von ‚Bewusst- Sein’ … auf den sog. ‚Bewusstseinsinhalt’ …reduziert, ist das akkurat die ‚Bewusstseins-Abstraktion’, über die das geschichtsmaterialistische Denken hinauskommen will“ (1991, 54).

Die Eigenkreativität des Bewusstseins stellt eine dritte Möglichkeit bereit für das Bewusstsein, sich vom bewussten Sein zu lösen. Beim Operieren mit unmittelbar aufgenommenen Gedanken ist deren Heraustrennung aus ihrem gesellschaftlichen Kontext sowie die Ungewissheit über ihn leicht möglich. Was zunächst als „Facettierung und Parzellierung“ (1978, 15) des gesellschaftlichen Kontextes seinen Sinn hatte, wird getrennt und unabhängig von ihm nicht mehr sichtbar. Die derart isolierten und hypostasierten Gedanken missraten zum Spielmaterial ideologischer Kombinatorik. Die Ideologien versetzen und transponieren den Betrachter in Kommentar- und Erwägungskulturen getrennt und unabhängig von den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und stellen deren wirkliche Probleme und Strukturen nicht dar. [6] Die „Verselbstständigung der realen Verhältnisse“ führt dazu, dass die „Allgemeinheiten und Begriffe als mysteriöse Mächte gelten“ (MEW 3, 347). Die „Abstraktionen oder Ideen“ erscheinen nicht mehr als „theoretischer Ausdruck jener materiellen Verhältnisse, die Herr über sie sind“ (Marx 1974, 82). Vielmehr werden umgekehrt die verselbstständigten Verhältnisse mit jenen Begriffen interpretiert, die auf der Grundlage der unbegriffenen Verhältnisse sich erst hatten bilden können. „Erst wird eine Abstraktion aus einem Faktum gezogen, dann erklärt, dass dies Faktum auf dieser Abstraktion beruhe“ (MEW 3, 469).

Fleischer knüpft an an der Bestimmung von Ideologie als „Beschäftigung mit Gedanken als mit selbstständigen, sich unabhängig entwickelnden, nur ihren eigenen Gesetzen unterworfenen Wesenheiten“ (MEW 21, 203). Statt „Denken von Gegenständlichem“ kommt es zu „Vergegenständlichungsweisen von Gedanken“ (1977, 178f.). „Man hat die aller Welt bekannten ökonomischen Kategorien in eine wenig bekannte Sprache übersetzt, in der sie aussehen, als seien sie soeben funkelneu einem reinen Vernunftskopf entsprungen; dergestalt scheinen diese Kategorien einander zu erzeugen, sich zu verketten und auseinanderzugliedern. ... (Hegel) glaubt, die Welt mittels der Bewegung des Gedankens konstruieren zu können, während er nur die Gedanken, die in jedermanns Kopf sind, systematisch rekonstruiert ...“ (MEW 4, 129f.). Dies ideologische Bewusstsein verfällt in seiner Abstraktheit und in seiner selbstbezüglichen Kreativität auf die „Begriffsanknüpfungsmethode“ (MEW 19, 371). Verschiedene Behelfstricks des „Gedankenschmuggels“ bei sachlich fehlendem Zusammenhang werden in der ‚Deutschen Ideologie’ gewürdigt (MEW 3, 139f., 255ff. 286ff.). Auch in der Sozialwissenschaft lassen sich Denkformen identifizieren, die das Denken jenseits der wirklichen Gegenstände erleichtern: 1) Formelle Abstraktion, 2) Analogie und Vergleich, 3) Funktionalismus, 4) Versubjektivierung, 5) Verobjektivierung, 6) Faktoren- und Komponenten-Scheidung und -kombinatorik (vgl. Creydt 1997a).

Insofern das verselbstständigte Bewusstsein sich nicht in der gesellschaftlichen Welt verorten kann, muss es intern und aus eigener Macht und Kraft selbstgenügsam und selbstherrlich Ordnung stiften (vgl. a. MEW 3, 49). Besonders die in den Überbauten Tätigen, die das normale Bewusstsein der Gesellschaftsmitglieder jeweils ästhetisch, politisch, juristisch, pädagogisch o.a. artikulieren und homogenisieren, arbeiten an Ideologie als an einer Gestaltschließung, als einem „in sich zusammenhängenden Ausdruck, der sich nicht durch innere Widersprüche ins Gesicht schlägt“ (MEW 39, 451; vgl. Engels zur Juristerei MEW 37, 491). Es entsteht ein „Selbstbewusstsein, das die Totalität seiner Welt in der Transparenz der eigenen Mythen erlebt“ (Althusser 1974,138).

Fleischers (an Marx anknüpfende) Kritik an der Verselbstständigung der Gedankenabstraktion lässt sich zugleich lesen als Kritik an einer frivolen Geistesgeschäftigkeit. Fleischer vergegenwärtigt das Missverhältnis zwischen der luxurierenden Verausgabung, Verfeinerung und Verstiegenheit von Intelligenz und ihrer Not- Wendigkeit: „Es wirkt immer wieder faszinierend, welcher geistig-kulturelle Reichtum uns auf dem jetzigen Stand der Kulturindustrie jederzeit und bequem zugänglich wird, und es kann sich darin eine schrankenlose Beliebigkeit von lauter hochrespektablen Interessen und Kennerschaften ergehen. Um so mehr mag man es als einen Mangel empfinden, wenn inmitten solcher Fülle eine Konzentration gemeinschaftlicher Aufmerksamkeit auf einiges wenige streng Obligate, weil Lebenswichtige nicht stattfindet. Ein wichtiger Effekt des verbindlichen Zusammenwirkens wäre es, eine Konzentration auf den Kreis von Schlüsselproblemen des Zivilisationsprozesses zustande zu bringen“ (1987, 231).

Die übertriebene Wertschätzung des Bewusstseins verbindet sich oft mit Konzepten der Zivilisierung und Humanisierung der Verhältnisse, die der Vorstellung einer Durch- oder Umsetzung von Ideen folgen. Es handelt sich dabei um das vierte Moment der Verselbstständigung des Bewusstseins. Fleischer kritisiert die „umgekehrte Proportionalität“ zwischen „humanisierender Praxis“ und der „ideellen Manifestationen des Humanismus; je mehr an effektiver Humanisierung, desto entbehrlicher der verbale Aufwand mit dem Humanismus“ (1980a, 56). Es erscheine „als völlig zweifelhaft, ob die Ausformulierung der humanistischen Normen überhaupt einen relevanten Praxisbeitrag darstellt oder nur Ausdruck der unbehobenen Negativität einer bestehenden Praxislage ist“ (ebd.). Zur Förderung der Arbeit an der Gestaltung von Gesellschaft durch ihre Mitglieder müssten Fragen gestellt werden, die in der Rede von Normen und Idealen eher gerade verschwinden: „Fragen wir nach ihren (der Prozessbeteiligten – Verf.) wirklichen höheren und niederen, jedenfalls profanen Interessen, nach den elementaren Lebensinteressen der einen und nach den höheren sozialen Positionsinteressen der anderen; danach, wie solche Interessen sich in verschiedenen gesellschaftlichen Milieus ausgebildet, ausgebreitet und potenziert haben; wie sie in vielerlei parallele und gegenläufige Aktionen und endlich (in der russischen Revolution – Verf.) in einen vielschichtigen revolutionären Vitalprozess ausgemündet sind. Fragen wir schließlich stets danach, was an wirklichen Befähigungen bei den Prozessbeteiligten verschiedener Provenienz ausgebildet gewesen ist: was an zivilisatorisch-produktivem Leistungs- und Organisationsvermögen, was an personaler Eigenständigkeit und was an Befähigungen zu sozialer Kooperation und Integration; fragen wir zumal danach, wo jeweils die einen wie die anderen in die Schranken ihres Leistungsvermögens gebannt sind“ (1989, 620). Auch der „handlungsmotivierende Effekt“ solcher „Beschwörungen von Prinzipien“ steht in Frage: „Eine Idee der Humanität bringt nichts eigenes hervor, sie bringt bestenfalls die humanisierende Potenz einer gegebenen gesellschaftlichen Gruppierung zum Ausdruck – und je reeller diese Potenz ist, umso unaufdringlicher wird ihr sprachlich-deklarierter Ausdruck sein“ (1980a, 52). Gegenüber Normen und Idealen geht es um „hinreichend (und weitaus bestimmtere) Gründe“ dafür, dass es solche Potenzen gibt. Sie sind „in den Kräftedispositionen der jeweiligen Gegenwart enthalten – und wem diese nicht hinreichend sind, der wird sich auch durch Begründungen auf einer Ebene höherer theoretischer Allgemeinheit dann auch nicht bestimmen lassen“ (ebd., 52). Die im Normativismus pathetisch beschworenen Aufgaben und Ziele sind für Fleischer eher „abgeleitete Projektionspunkte aus den Aktionsrichtungen gegenwärtig wirksamer Energien, nicht Leuchtfeuer einer Zukunft, welche das Gegenwärtige zu sich hinzuziehen vermöchte. ... Nicht die Gegenwart ist Funktion der Zukunft, sondern die Zukunft ist Funktion der Gegenwart“ (Dahmer, Fleischer 1976, 156).

Werte und Ideale beinhalten und befördern einen kritikwürdigen Modus von Praxis. Die „monumentalen Singular-Titel“ der Ideale und Grundwerte blenden die „Vieldimensionalität von Weisen des Frei- und Gebundenseins, des Gleich- und Ungleichseins und des Solidarisch- und Gleichgültigseins (oder auch der Gegnerschaft)“ aus und ebenso „die in allen diesen vielen Dimensionen vorkommenden sozialen Abstufungen und Mengenverteilungen“ (Fleischer 1987, 167). Auch Sonderschichten in der Ethikdebatte können diesem Mangel nicht abhelfen: Die vielen notwendigen Konkretionen „aus der Essenz normativer Universalien zu deduzieren“ bleibt der Vorsatz zu einer „überanstrengt- zwanghaften Veranstaltung“ (ebd., s. a. Türcke 1989,78). Es geht vielmehr um einen Perspektivwechsel weg von der „Axiomatik von Prinzipien“ hin zur „Analytik der wirklichen geschichtlichen Bewegung und ihrer menschlichen Grundqualifikationen“ (1976, 245). Die ethische Rede nutze hier nicht nur wenig, sondern schade mit der ihr eigenen Verführung zum plakativen Gebrauch. „Die Gegenwart zeigt auch deshalb ein unklares Bild, weil authentische Beweggründe, Bereitschaften und Kompetenzen von vielerlei aufgesetzten Identifikationen verstellt sind“ (Fleischer 1984, 141). Viele Freunde der Werteorientierung scheinen nur allzu gern der Versuchung nachzugeben, sich bei ersten Prinzipien zu beruhigen und gewissermaßen das ‚Kleingedruckte’ geflissentlich übersehen zu wollen. „Das Übel gedeiht hinter dem Ideal am besten“ (Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit). Der Teufel steckt im Detail. Problematisch, weil umstritten und entscheidend, sind weniger die ersten Prinzipien als die „Inhalts- und Maßbestimmungen, die Reichweitenbestimmungen von Verbindlichkeiten, die ‚im Prinzip’ unstrittig sind und wo nur ein ‚Aber...’ auf dem Fuß folgt. ... ‚Du sollst nicht töten’ – aber es gibt Konstellationen, in denen du es nicht nur darfst, sondern sogar sollst“ (1987, 113). [7]

Zudem reproduziert die Selbstbeflügelung durch Werte und Ideale eine Unmündigkeit, in der die Menschen sich nicht auffassen können aus und in ihrer Welt, sondern gerade in autoritativer Unterstellung unter höhere Verbindlichkeiten und Bestimmungen ihr Heil suchen. „Im Grund aber ist es nur Indiz einer unbehobenen praktischen Schwäche, wenn jemand sich auf solche Instanzen berufen muss und nicht in der Wirklichkeit selbst eine neue, höhere humane Energie aufbieten kann. Es ist nicht nur eine ernüchternde negative Einsicht, sondern es steht auch eine positive Kraft dahinter, wenn man auf solche übergeschichtlichen Leitideen verzichtet und alle Legislativen des menschlich-geschichtlichen Bildungsprozesses im Möglichkeitshorizont des hic et nunc beschlossen findet. In diesem Sinne heißt es, ‚dass die Menschen sich jedesmal so weit befreiten, als nicht ihr Ideal vom Menschen, sondern die existierenden Produktivkräfte ihnen vorschrieben und erlaubten’ (Deutsche Ideologie)“ (Fleischer 1976, 244). Für Fleischer beinhalten die Produktivkräfte nicht nur den technischen Fortschritt, sondern auch „die produktiven Energien, Qualifikationen und Betätigungsansprüche maßgebender Produzentengruppen“ (Fleischer 1987b, 29).

Statt über das Wollen und Können pflegt man sich normativistisch über das Sollen und Müssen zu ergehen, „solange nicht ausgemacht ist, wer aus eigenstem Antrieb etwas in Gang bringen wird“ (1982, 349f.). Das „normative Gestikulieren mit den Erfordernissen und Aufgaben höherer und höchster Ordnung“ stellt nur dann einen Beitrag zur Freisetzung der Eigenantriebe dar, wenn die „leere rhetorische Geste“ und die „inkompetente, unreife oder neurotische Politik“ überwunden werden (ebd.). Die von Ansprüchen und Vorsätzen absorbierte Aufmerksamkeit ist zu überführen in eine Vergegenwärtigung der „Maßbestimmungen, Verknüpfungs- und Dissoziierungsweisen von selbstbestimmter und fremdbestimmter Tätigkeit, von Solidaritätsfähigkeit und Interessenpartikularität“ (1977, 193). Es geht um die „Analytik und Metrik sozialer Verbindungs- und Trennungsenergien in ihrer jeweiligen Feldverteilung“ (1980, 418). Das Terrain, auf dem der gelebte Ethos tatsächlich zu befördern oder zu hemmen ist, eröffnet sich, wenn auf die „praktischen Akte der Verstärkung und Verbreitung gesellschaftlicher Handlungspotentiale“ gesehen wird. Wir haben es zu tun mit „Wachstumsdimensionen von Fähigkeiten, mit anteiligen Verschiebungen in ihren Kompositionsverhältnissen und mit der Zunahme von Handlungs-Reichweiten: Wie steht es jeweils um die relative Erweiterung von Potenzen der Selbsttätigkeit, um die Ausweitung ihres Dimensionsreichtums und des Aktionsradius, in dem sie eine Integration herbeizuführen vermögen“ ? (1978, 57) Das sittliche Bewusstsein könne nichts anderes sein als das bewusste sittliche Sein, und das sittliche Sein der Menschen liege in den „Gesittungsqualitäten ihres wirklichen Lebensprozesses“ (1984, 134). Fleischer folgt hier Hegels Aufmerksamkeitsverlagerung weg von den moralischen Exaltationen hin zur Sittlichkeit oder zum Ethos als „normativ festgestellter personal-sozialer Verhaltenskultur in den Güterverhältnissen menschlichen Einzel- und Zusammenlebens. Als ein Ensemble praktischer Ansprüche, Befähigungen, Bereitschaften und Leistungen ist das Ethos nicht, wie es die schulmarxistische Lesart will, eine ‚Bewusstseinsform’, sondern eine Dimension des ‚Seins’“ (1993, 277).

Das hier in seinen Grundzügen skizzierte Materialismuskonzept Fleischers trägt bei zu einer Ernüchterung, die nicht im Positivismus und Pragmatismus endet. Fleischer leitet dazu an, die Komplementarität von vermeintlichen Sachzwängen und „ideomagischer“ (Fleischer) (über)kompensatorischer Aufplusterung (s. a. Marx zur Kritik des politisierenden Staatsbürger-Enthusiasmus in MEW 1, 355f., 360, 401f.) als eine Problematik zu begreifen und auf dem dieser Problematik zugrunde liegenden Feld sich Rechenschaft über Kräfte und Konstellationen von jedweder möglichen substanziellen Veränderung abzulegen. Fleischer folgt der Maxime, die Humanität in „theoretisch-analytische Begriffe (zu) transformieren ... in der Überzeugung, dass es bedeutsamer sein kann, eine wirkliche humanisierende Potenz zu diagnostizieren als eine ideale humane Potenzialität zu beschwören“ (1980a, 52) – sei es in der „selbstgefälligen und überhöhenden Deutung des Erreichten“ oder in der „unzufriedenen Beschwörung dessen, was nicht erreicht, verfehlt oder gar verraten worden ist“ (ebd., 50). Das Vernünftige sei „nur als ein Wirkliches fassbar; die Kritik ist nicht mehr ein Konfrontieren der Wirklichkeit mit einer Idee, sondern einer Wirklichkeit mit einer anderen“ (1993, 266).

Hansgeorg Conert hat zu Recht die mangelnde Berücksichtigung von Strukturen bei Fleischer kritisiert. [8] Wenn Fleischer der „kapitalistischen Produktion den Charakter eines offen-kontingenten Aggregats von Prozessen“ zuschreibt (1993, 52), so übergeht er damit die Grenzen der kapitalistischen Formen (s. Creydt 2000, 216ff.), die Marx in seinen Schriften zum ‚Kapital’ herausarbeitet. Fleischers Verdikt, diese „Kapital-Analyse (sei) nicht den höchsten Einsatz wert“ gewesen (1993, 52), zeigt einen Mangel an Kapitalismustheorie. Auffällig wird dies z. B., wenn Fleischer den Wachstumszwang auf eine etwas nebulös ausfallende (Über-)Mobilisation zurückführt (1993, 170f., s. a. 2001, 49) und die Konkurrenz der Kapitale und die ihr eigenen Zugzwänge aus dem Spiel lässt. Als Schranke seiner eigenen Ideologietheorie macht sich geltend, dass Fleischer Ideologie im Horizont eines gesellschaftsformations-unspezifischen Praxisbegriffs fasst. Damit werden jene Bewusstseinsmomente nicht mehr darstellbar, die Marx in seinen Schriften zum Kapital bestimmt erklärt als in eins aus der kapitalistischen Ökonomie hervorgehend und als sie notwendig mystifizierend gedanklich verarbeitend. Es handelt sich um den sog. Waren-, Geld-, Lohn- und Kapitalfetisch, um die Mystifikationen der Konkurrenz und der Oberfläche sowie die Mystifikationen der Börse als „Mutter aller verrückten Formen“ (Marx). Auffällig ist überdies, dass Fleischer die Schwierigkeiten der Praxis nicht auf die Probleme bezieht, die einer Gestaltung der Gesellschaftsstrukturen und der gesellschaftlichen Lebensweise durch die Gesellschaftsmitglieder entgegenstehen. Fleischers in Bezug auf die Gesellschaftsformation unspezifischer Praxisbegriff wäre allerdings insofern in der Realität selbst objektiv fundiert, als Probleme der Selbstvergesellschaftung und der entsprechenden Gesellschaftsgestaltung (im Unterschied zu einer despotischen oder theokratischen Vergesellschaftung von oben und einer indirekten Vergesellschaftung auf Waren-, Arbeits- und Kapitalmärkten) nicht allein in den kapitalistischen Reichtumsstrukturen gründen. Auch die davon unterschiedenen, wenn auch real kapitalistisch überdeterminierten modernen Strukturen geben der Gesellschaftsgestaltung bislang ungelöste Probleme auf (vgl. dazu und zum Folgenden Creydt 2000).

Ausbeutungs-, Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse sind ein sich in andere Strukturen (Arbeitsteilung, gesellschaftliche Synthesis, Verhältnis der Individuen zu den Techniken, Organisationen und Reichtümern usw.) einbauendes und sie überformendes Moment. Ausbeutung reproduziert sich selbst, wird aber erst möglich durch die Schwierigkeiten, die in den Strukturen liegen, in die bspw. Ausbeutung sich einbaut. Diese Schwierigkeiten betreffen die Gestaltung der Gesellschaftsstrukturen durch ihre Mitglieder selbst. Es gibt keine Überwindung von Ausbeutung, Herrschaft und Unterdrückung ohne die Überwindung jener Gesellschaftsstrukturen,

  • die zwischen den Akteuren systemisch und systematisch Gleichgültigkeit, Konkurrenz, Interessendivergenz und Intransparenz der gemeinsamen Perspektiven und damit Schwierigkeiten kollektiven Handelns erzeugen; [9]
  • die zwischen den gesellschaftlichen Techniken, Organisationen und Reichtümern einerseits und den Individuen andererseits notwendige Gegensätze erzeugen sowie Subalternität, Bornierung der Individuen, Fesselung an die jeweilige arbeitsteilige Sondersphäre inkl. Fachidiotentum; [10]
  • die banale, überanstrengende oder hohe Spezialisierung beinhaltende Arbeiten erfordern und damit die Individuen in einem Maße und auf eine Weise absorbieren, so dass für eine Gestaltung von Gesellschaft nicht viel Aufmerksamkeit, Energie und Wissen übrig bleibt;
  • die eine Massenhaftigkeit von Gütern, Dienstleistungen und Handlungen beinhalten. Kommt dieser Massenhaftigkeit eine sozial zentrale Rolle zu, so liegt eine die Gesellschaft dominierende formale, administrativ-bürokratische Verarbeitungsweise nahe. Mit ihr gehen dann eng gestellte Selektionsfilter einher, die allein durch ebenso sachfremde wie komplexitätsreduzierende Formalisierungen und Neutralisierungen die gesellschaftliche Synthesis vor ihrer Zersplitterung bewahren.

Fleischers Ansatz findet seine Grenze darin, dass die Beschreibung der Praxis und ihrer Probleme – und damit auch die Analyse der Ideologie – insofern formal verbleibt, als die genannten, sozialstrukturell beschreibbaren zentralen Ursachen des Nichtzustandekommens der mit Fleischer thematisierbaren Praxis einer Selbstvergesellschaftung und entsprechenden Gestaltung von Gesellschaftsstrukturen und Lebensweisen von ihm nicht thematisiert werden. Es fragt sich allerdings, ob der an Fleischer kritisierte Aufmerksamkeitsmangel in Bezug auf Form- und Strukturaspekte sein Materialismuskonzept notwendig infrage stellt oder nur eine fragwürdige Festlegung Fleischers in einem von ihm mit Gewinn aufgespannten Horizont betrifft. Wäre Letzteres der Fall, so ließe sich das Materialismuskonzept umbauen auf eine Aufmerksamkeit hin für Strukturen und Institutionen und für die allererst in ihrem Horizont beschreibbaren Probleme der Synthesis von Akteuren und ihrer Gesellschaftsgestaltung. Dies betrifft moderne und kapitalistische Strukturen. Fleischers Festlegung auf einen „sozialanthropologischen und nicht struktursoziologischen“ Praxisbegriff (1993, 223) verengt die Möglichkeiten des von Fleischer vorgetragenen Materialismuskonzeptes ohne Not.

Literatur:

  • Althusser, Louis 1974: Bertolazzi und Brecht. Bemerkungen über materialistisches Theater. In: Alternative H. 97, 17. Jg.
  • Conert, Hansgeorg 1994: Epochenphänomen Marxismus. Eine Auseinandersetzung mit Helmut Fleischer über die Aktualität von Marx. In: Sozialismus H. 6, 21. Jg.
  • Creydt, Meinhard 1997: Protestantische Ethik als gesellschaftlicher ‘Weichensteller’? Zur Kritik an M. Webers pluralistischer Interdependenztheorie. In: Das Argument H. 222
  • Ders. 1997a: Regeln (nicht nur) der soziologischen Methode. In: Das Argument H. 222, 1997, S. 675 - 84
  • Ders. 2000: Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Frankf. M.
  • Ders. 2005: Das Elend der Gerechtigkeit – Gerechtigkeit als normatives Pendant sozialen Elends. In: Streifzüge Nr. 34, Wien)
  • Meine Artikel sind enthalten auf der Seite http://www.meinhard-creydt.de/cms.
  • Dahmer, Helmut; Fleischer, Helmut 1976: Karl Marx. In: Käsler, Dirk (Hg.): Klassiker des Soziologischen Denkens. Bd. 1 München
  • Fleischer, Helmut 1971: Methodologische Vorüberlegungen zum Begreifen revolutionärer Praxis (zur Kritik des programmatischen Normativismus). In: Permanente Revolution. Zeitschrift der GIM Berlin H. 1/2
  • Ders. 1976: Die Wendung der Philosophie zur Praxis. In: Speck, J. (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen – Philosophie der Neuzeit II. Göttingen
  • Ders. 1977: Warum eigentlich Materialismus? In: Jaeggi, Urs; Honneth, Axel (Hg.): Theorien des historischen Materialismus. Frankf.M.
  • Ders. 1977a: Parteilichkeit und Objektivität im Geschichtsdenken nach Marx. In: R. Koselleck, W.J. Mommsen u. J. Rüsen (Hg.): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft. München 1977
  • Ders. 1978: Denkformen in Sachen Sozialismus. In: Wolter, U (Hg.): Sozialismusdebatte. Berlin
  • Ders. 1980: Über die normative Kraft im Wirklichen. In: Jaeggi, Urs; Honneth, Axel (Hg.): Arbeit, Handlung, Normativität. Frankf.M.
  • Ders. 1980a: Sozialismus, Humanismus, Anthropologie. In: Bloch, Ernst u.a. (Hg.): Marxismus und Anthropologie (FS L. Kofler) Bochum
  • Ders. 1982: Begreifen der Praxis. In: Grauer, Michael; Schmied- Kowarzik, Wolfdietrich (Hg.): Grundlinien und Perspektiven einer Philosophie der Praxis. Kasseler Philos. Schriften Bd. 7. Kassel
  • Ders.1982a: Geschichte ohne Heilsgewissheit. In: Heinemann, Gottfried; Schmied-Kowarzik, W. (Hg.): Sabotage des Schicksals (FS U. Sonnemann). Tübingen
  • Ders. 1984: Ethische Aufklärung. In: Neue Rundschau 95. Jg., H. 1/2
  • Ders. 1987: Ethik ohne Imperativ. Zur Kritik des moralischen Bewusstseins. Frankf.M.
  • Ders. 1987a: Jenseits von Strategie und Mobilisierung. In: Kommune H.7, 5. Jg.
  • Ders. 1987b: Der lange Abschied der populistischen Linken. In: Kommune H.2
  • Ders. 1989: Zur Historisierung des Sowjetsozialismus. In: Universitas H.7
  • Ders. 1990: Zum Ausgang der proletarischen Revolution. In: Widerspruch- Münchner Zeitschrift für Philosophie, H. 19/20 10.Jg.
  • Ders. 1990a: Sozialismus am Ende? An die Gebildeten unter seinen Freunden und Verächtern. In: Kommune H. 10
  • Ders. 1991: Materialisierter Kritizismus. In: Lutz-Bachmann, Matthias; Schmid-Noerr, Gunzelin (Hg.): Kritischer Materialismus. München
  • Ders. 1993: Epochenphänomen Marxismus. Hannover
  • Ders. 2001: Politikum Zivilisation. Weltkampf gegen den Terrorismus. In: Kommune H. 11, 19. Jg.
  • Herkommer, Sebastian 1985: Einführung Ideologie. Hamburg
  • Marx, Karl 1974: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin DDR
  • Negt, Oskar; Kluge, Alexander 1981: Geschichte und Eigensinn
  • Türcke, Christoph 1989: Die neue Geschäftigkeit – Zum Ethik- und Geistesbetrieb. Lüneburg
  • Weber, Max 1988: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Tübingen 1988
  • Ders.1982: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre Tübingen.

[1Ich konzentriere mich auf ein Moment von Fleischers Werk und sehe ab bspw. von einer Diskussion seiner in den 60er Jahren erschienenen Studien zur Philosophie im Realen Sozialismus, von Fleischers Marxinterpretation und der in ihr enthaltenen Philosophiekritik (vgl. bspw. 1976), von seiner treffenden Kritik an Habermas (1980), von seinen Überlegungen zum ‚Realen Sozialismus’ (1978, 1989, 1990a) und von seiner grundlegenden, wohl wichtigsten Veröffentlichung, einer „Kritik des moralischen Bewusstseins“ (1987). Ich sehe auch ab von Fleischers letztem Marx-Buch (1993).

[2Max Weber denkt bei ‚historischem Materialismus’ an eine Theorie, die „die Gesamtheit der Kulturerscheinungen als Produkt oder als Funktion ‚materieller’ Interessenkonstellationen deduzieren“ (1982, 166; 1988, 192) möchte, oder an einen ökonomischen Determinismus, der die Kulturerscheinungen „aus sich geschaffen“ habe (1988,11). Vgl. zur Auseinandersetzung mit Materialismuskritiken auch meinen Aufsatz zu Webers ‚Protestantischer Ethik’ (Creydt 1997).

[3Ein in Fleischers Analyse zu wenig berücksichtigtes Moment besteht im Druck auf die Individuen, wenigstens mental Herr ihrer Lebensführung zu sein. Zugrunde liegen die Imperative der Subjektform. Sie nötigt dazu, das eigene Leben von innen her zu leben und eine eigene Identität zu finden und zu bewahren. Als Identität und Autonomie wird gesucht und gepflegt, was zugleich den Zwang darstellt, die stattfin­dende individuelle Existenz als ‚eigenes’ Leben sich vorzustellen, wenn nicht sogar zum eigenen ‚Projekt’ umzudeuten, wenigstens aber subjektiv Ord­nung zu bewerkstelligen – bei objektiv-gesellschaftlicher Unordnung und untereinander nur schwer oder nicht zu vereinbarenden Handlungsanforderungen sowie undurchsichtigen Voraussetzungen und unabsehbaren Konsequenzen des eigenen Handelns.

[4„Alle Mythologie überwindet und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung; verschwindet also mit der wirklichen Herrschaft über dieselben“ (Marx 1974, 30).

[5Werden ökonomisch durch die Vereinzelung der Produktionsagenten zu selbstständigen Personen Privatinteressen allgemein und juristisch Willensverhältnisse notwendig, so bildet der Wille anders als in der Ökonomie, in der hinter dem Rücken der Menschen Ausgleichsbewegungen von Profitraten usw. herrschen, in den Bereichen des Überbaus den Ausgangspunkt des Handelns. Dadurch, dass in den verschiedenen Überbaubereichen mit Bewusstsein an der gesellschaftlichen Wirklichkeit gearbeitet wird, entsteht eine „idealistische Drehung im Bewusstsein der Handelnden“ dergestalt, „dass sie ... ihre gesamten gesellschaftlichen Daseinsbedingungen zurückführen auf ihren freien Willen“ (Herkommer 1985, 69).

[6Engels spricht von Moral und Juristerei als Sphären, in die man uns „versetzt“, wenn man die Gesellschaftsstruktur unangetastet lassen „und doch ihre missliebigen, aber notwendigen Folgen abschaffen will. … Wie Proudhon uns aus der Ökonomie in die Juristerei, so versetzt uns hier unser Bourgeoissozialist aus der Ökonomie in die Moral“ (MEW 18, 237).

[7Fleischer nutzt aufgrund seiner kapitalismustheoretischen Abstinenz nicht das Potenzial der Kritik der politischen Ökonomie, den inhaltlich bestimmten (und kontra-intuitiven) Beitrag der Ideale (vgl. Creydt 2000; zum Ideal ‚Gerechtigkeit’ vgl. Creydt 2005) zur Reproduktion der sich (nur) scheinbar zu den Idealen im Gegensatz befindenden gesellschaftlichen Objektivität zu dechiffrieren. Ein hässlicher Nachteil von Werten und Idealen ist, dass man oftmals „in dem Maß, wie der Schatten Gestalt annimmt, bemerkt, dass diese Gestalt, weit entfernt, ihre erträumte Verklärung zu sein, just die gegenwärtige Gestalt der Gesellschaft ist“ (MEW 4, 105).

[8„Das ‚Soziologische’ hat seine Essenz nicht in irgendwelchen ‚Strukturen’, sondern im Inhalt und Modus der sozialen Interaktion zwischen je bestimmten Partnern und Kontrahenten, die distinkt als Individuen im Blick sind“ (1993, 109).

[9Es handelt sich u.a. um:

  • Spaltungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungssegmenten und eine Partikularisierung und Aufsplitterung von Betroffenheiten und Aufmerksamkeiten;
  • gegenseitige Intransparenz der verschiedenen Bereiche und schwierige Übersetzbarkeit zwi­schen partikularen Perspektiven bis hin zum babylonischen Sprachgewirr;
  • Interessendivergenzen und -gegensätze, soziale Schließungen und Konkurrenzen;
  • Differenzen zwischen kurz- und langfristigen Interessen, Chancen für Externalisierung und Vorteilnahme zu Lasten anderer und für Trittbrettfahrerverhalten, Absorption sozia­ler Energie in Nullsummenspielen; Auszahlungs- und Rückkoppelungsordnungen, die un­kooperatives Handeln belohnen.

[10Es handelt sich u. a. um :

  • Komplexität, die Gestaltungswünsche aufgrund nicht beherrschbarer und nicht intendierter Effekte entmutigt und individuelle Informationsverarbeitung überfordert;
  • Ansprüche abweisende ‚Sachgesetze’, Zuschreibungen von Zuständigkeiten und Unzu­stän­digkeiten, gegenseitige Steigerung von Subalternität und ‚Kompetenz’, sachge­rech­te und sachfremde Legitima­tionen von Fremdwissenabhän­gigkeit und Weisungsbe­fug­nis sowie die Schwierigkeit, zwischen beiden zu unterscheiden;
  • ein Missverhältnis zwischen dem in gesellschaftliche Organisationen und Produktiv­kräfte investierten Reichtum und dem Vermögen der Gesell­schaftsmitglieder, die Reich­tums­produktion, -organisation, -zir­ku­lation und -administration auf eine Weise gesell­schaft­lich zu gestal­ten, die nicht auf eine Verselbstständigung des Reichtums gegen die Men­schen hinaus­läuft. Auch aus diesem Missverhältnis erwachsen Machtgefälle sowie der Gesellschaftsgestaltung abträgliche Einschüchterungs- und Entmutigungseffekte.
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