Streifzüge, Heft 32
Oktober
2004

Warum nichts mehr geht …

Überlegungen zu den persönlichen Bedingungen eines Ausbruchs aus der Warengesellschaft

„Im letzten Zimmer“

Das Arbeitsleben der heute aktiven Generationen gleicht bedrohlich dem Schicksal der Maus in Fanz Kafkas „Kleiner Fabel“. Die Maus sieht in ihrem Lauf „rechts und links in der Ferne Mauern“ auftauchen, „aber“, so sagt sie, „diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – „Du mußt nur die Laufrichtung ändern, sagte die Katze und fraß sie“, lautet der nächste und zugleich letzte Satz.

Die langen Grenzmauern der Freiheit unserer Arbeitswelt laufen jetzt in der Tat schnell aufeinander zu. Was vor wenigen Jahren noch als kapitalistische Unverschämtheit und Provokation betrachtet worden wäre, ist heute oft schon sozialpartnerschaftlicher Konsens. Der systemkonforme Widersinn z. B., dass trotz eines wachsenden Heers von Arbeitslosen ausgerechnet die Arbeitszeit verlängert werden muss, wird angesichts der Konkurrenz, die niemals schläft, zu der Weisheit letztem Schluss.

Wenn eins nur noch die Katze des Systemzwangs im Rücken spürt und vor sich bloß noch die Falle des drohenden Kollaps alles dessen sieht, was als soziale Sicherheit durch Arbeit verheißen wurde, sind Rücksichtnahme und Menschlichkeit schnell ein Luxus, ja eher existenzgefährdend. Sichert etwa ein gewissenloser Vorstand, der mit allen Wassern gewaschen ist, unsere Arbeitsplätze wirklich schlechter als ein moralisches Weichei? Wie viel Verhandlungs- und Überlebensspielraum bleibt noch, wenn „die Märkte“ jeden abstrafen, der nicht allen andern das Weiße aus den Augen zu kratzen bereit ist? Konkurrenz lodert nicht nur zwischen den Betrieben, Mobbing grassiert von der Chefetage bis zur Putzkolonne. Angesichts der bald schleichenden, bald ganze Landstriche und Staaten abrupt in Elend und Gewalt stürzenden Krise des herrschenden Weltsystems zersetzt sich Solidarität wie Stahl im Säurebad. „Rette sich, wer kann“, wird zur allseits befolgten Parole, auch wenn keins mehr recht weiß, wie das denn auf längere Sicht noch gehen soll in einer Welt, wo ein Schlupfloch nach dem anderen verstopft wird.

Depression und Aggression

Natur und Mensch sind den Zwillingen „Kapital und Arbeit“ von Anfang an fremd gewesen. [1] Natur zählt als toter Rohstoff, Menschen nur als Arbeiter und Funktionäre des prozessierenden Kapitals, dem sie unterworfen sind, und als Konsumenten dessen, was sich günstig kaufen und verkaufen lässt. Ihr sozialer Kampf wird tunlichst eingeschränkt auf mögliche Proportionen zwischen Kosten für Personal, Sachinvestitionen und staatliche Infrastrukturen des Prozesses der Verwertung. Dessen Gelingen frisst jedoch Mensch und Natur auf. Sein Nichtgelingen aber erst recht, wie die Gegenwart uns zeigt; denn heutzutage können auch der Abriss aller sozialen Rechte und die forcierte Zerstörung der Natur im Feuer der globalisierten Konkurrenz, aber auch staatliche Repression und Weltordnungskriege den Verfall der Verwertung nicht mehr stoppen, soweit diese nicht sowieso nur noch durch Schuldenmachen und Spekulation zu simulieren ist.

Kurz atmen und flach denken, Lotto spielen und sich mit irgendwas das Fühlen und Denken verkleistern, das sind daher die verbreitetsten Rezepte, mit dieser deprimierenden „No Future“-Situation umzugehen. Auf dem Grund der Massenpsyche wächst das dumpfe Gefühl der Angst, dass es mit einer anderen Regulierung des bestehenden Szenarios nicht mehr zu schaffen ist. Unter dem bunten Treiben der Ramsch- und Glitzerwelt staut sich eine gewaltige Tiefendepression. Im Kleinen eruptiert sie immer häufiger im (Blut)Rausch unversehenen Überschnappens, in (Selbst)Mordaktionen und in Amokläufen einzelner Menschen, denen das niemand zugetraut hätte, im Großen in den irren „Fundamentalismen“ der Räuber und Gendarmen dieser Weltordnung sowie in rassistischem und antisemitischem Terror von Banden und Mob. Das Konkurrenzsubjekt der „Leistungsgesellschaft“, der Wolf-Mensch des Thomas Hobbes enthüllt sich am brutalsten, wenn mit der modernen Warengesellschaft sein System am Zerbrechen ist.

Widerstand auf Abstellgleis

Mit den Demonstrationen und Streiks jedoch, die sich gegen die wachsenden Zumutungen der herrschenden Ordnung zur Wehr setzen, indem sie sich gegen deren Exekutoren in Staat und Wirtschaft wenden, verbindet sich die Hoffnung, wir könnten dem drohenden Verhängnis entkommen und doch noch eine lebenswerte Zukunft erkämpfen. Freilich sind auch solche Anläufe zumindest derzeit weitestgehend von der etablierten Gedankenwelt geprägt, beschränkt und gewissermaßen auf ein Abstellgleis gesetzt. Die auffällige Erfolglosigkeit der großen Aufmärsche und auch Streiks der letzten Jahre etwa in Frankreich und Italien, aber auch in Österreich und in Deutschland entmutigt denn auch viele Menschen und vertieft die grassierende Verzweiflung.

Manchmal lässt sich das Dilemma der herrschenden Denkweise des Widerstands sogar anhand einer einzelnen Parole veranschaulichen. Eine solche war auf einer Tafel mit der Aufschrift „Menschen Würde(n) Arbeit(en)“ auf deutschen Montagsdemonstrationen im Sommer 2004 zu sehen. Ein Mensch wird gemessen und misst sich selbst nach seinem Preis und Wert (das Wort Wert ist mit Würde stammverwandt), den er durch Arbeit erzielt. Er sieht sich vernichtet, weil entwertet, wenn daraus ein irrealer Konjunktiv wird. Die darin liegende Depression lässt sich mit der weiteren Parole „Andere Politiker braucht das Land“, die ebenfalls immer wieder mitgetragen wurde, bloß noch steigern. Dass mit Stoiber und Merkel oder mit Lafontaine oder auch mit dem Sozialisten und gescheiterten Berlin-Sanierer Gysi eine Wende zum Besseren kommen sollte, ist ja wirklich schwer zu glauben. Und die Erfahrungen mit den revolutionären Parteien sind nach hundertfünfzig Jahren auch eher katastrophal gewesen.

Fehlanpassung an die Arbeit

Es hat Jahrhunderte gedauert, bis den Menschen Arbeit als die „hohe Braut“ und als Menschenwürde, Faulheit und Müßiggang als „aller Laster Anfang“ und als Hauptsünde mit allen Mitteln eingehämmert war. „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ ist ein Satz, auf den sowohl der Apostel Paulus als auch Lenin schworen. Jetzt aber, wo das Hohelied der Arbeit von allen VerantwortungsträgerInnen gesungen wird und die Anpassung der Menschheit an diese historische Zumutung nahezu abgeschlossen scheint, stellt sich diese als Fehlanpassung heraus, ist das verlangte „Arbeits-Leben“ auch für Millionen in den so genannten reichen Ländern nicht mehr zu haben. Auch für den Arbeitswilligsten wachsen die Barrieren und hängt der Brotkorb immer höher. Jetzt bekommen auch wir, was im Trikont, ja in weiten Teilen Osteuropas ein Normalfall ist. Der reale Staatskapitalismus ist der Marktwirtschaft nur in den Tod vorangegangen, denn auch in den Wirtschaftswunderländern ist das System im Begriff, seine Arbeitsseele als unrentabel auszuhauchen. Das „letzte Zimmer“ ist erreicht und der „Winkel“ mit der Falle in Sicht. Als Fortsetzung der Konkurrenz- und Arbeitsgesellschaft nach dem Zerbröckeln ihres Fundaments, der gelingenden Verwertung, ist eine umfassende Brutalisierung und Mafiotisierung des gesellschaftlichen Lebens bereits im Kommen.

Eine Alternative kann nur noch jenseits der seit Jahrhunderten immer weiter in alle Lebensbereiche eindringenden Welt der Ware und des Staates gefunden werden. Was sich da so kurz sagen lässt, ist aber eine lange Schwierigkeit. All das geht nämlich recht leicht von der Zunge, aber nur schwer in unsere Köpfe und Herzen hinein, ohne tiefe Ratlosigkeit, ja Panik auszulösen.

Der Grund dafür ist nicht so sehr die Trägheit des Denkens vieler Menschen oder die Fehler und Unfähigkeit derer, die solche Gedanken breiteren Kreisen zu vermitteln versuchen. Die wichtigste Ursache dafür liegt vielmehr darin, dass ein Verfolgen dieser einzig offenen Perspektive eines Auswegs jenseits von Markt und Staat eine tiefgehende Änderung verlangt. Eine Änderung nicht bloß im Denken, sondern in der ganzen Lebenseinstellung und in fast allen Facetten der Lebensweise. Dieser Aufgabe sehen sich Menschen gegenüberstehen, die vom Leben in einer bis in kleine Alltäglichkeiten auf die Notwendigkeiten der Verwertung ausgerichteten Gesellschaft mitgenommen und zugerichtet sind. So zugerichtet, dass sie oft bereit sind, wie die Lemminge auf ihrem Zug sich auch dann noch ins Wasser zu stürzen und loszuschwimmen, wenn kein Land mehr in Sicht ist.

Warenmenschen sind selbst-los

Die Bedürfnisse des Menschen und die Energie, nach deren Befriedigung zu streben, basieren auf einer in der Evolution entstandenen Konstitution und äußern sich in gesellschaftlicher Form. Die moderne Gesellschaft der Diktatur der Verwertung drängt uns dazu eine vom Ansatz her inadäquate Form auf: Bedürfnisbefriedigung ist hier nicht gesellschaftlicher Zweck, sondern Mittel zu dem außerhalb alles Menschlichen liegenden Zweck der Wertvermehrung. Menschliches Tun ist von Bedürfnisbefriedigung abgeschnitten, je mehr es zu verkaufsorientierter Arbeit wird – ich arbeite weder für mich noch für sonst einen Menschen, sondern für Geld, mit dem ich Waren kaufe, von denen ich hoffe, dass sie mein Bedürfnis befriedigen. In aller Wirklichkeit habe ich jedoch meine Bedürfnisse an das anzupassen, was sich gewinnbringend verkaufen lässt und von mir bezahlt werden kann. Zusätzlich werden auch die Zusammenhänge meiner Arbeit, ihr Vorlauf und ihre Konsequenzen in aller Regel völlig undurchschaubar und ungreifbar, denn das Regulans der Veranstaltung sind eben keine menschlichen Bedürfnisse (auch keine ausbeuterischen), sondern die Preisimpulse der diversen Märkte. Arbeit ist nicht ein Werk, für dessen Herkunft und Auswirkungen ich mich verantwortlich fühlen könnte oder müsste, sondern steht in einem unbegreifbaren, nicht nachvollziehbaren, mir fremden und sinnlosen, nicht persönlichen, sondern bloß sachlichen Zusammenhang, dem ich ausgeliefert bin.

Weil in unserer Gesellschaft eine solche Tätigkeitsform dominiert, können wir auch kein Vertrauen darauf haben, dass wir einfach als Mitglieder der menschlichen Gesellschaft leben, tätig und angenommen sein können, ohne dauernd auf dem Prüfstand irgendeiner vorgegebenen Leistung stehen zu müssen, deren Sinn für uns nicht wirklich erfahrbar ist. Im Gegenteil: was uns ausfüllt oder besser: verstopft, ist das Bewusstsein eines leeren Leistungszwangs, dem nachzukommen aber überlebenswichtig ist. Diese geschäftige innere Leere wird zum „Bestandteil einer falschen Identität, die auf Leistungen beruht und die auseinanderfällt, wenn der gesellschaftliche Kontext diese Leistungen unmöglich macht“ [2] bzw. deren Anerkennung vereitelt.

Das bedeutet aber, dass ein fundamentales Defizit an Selbstsicherheit und an Erfüllung der grundlegenden emotionalen Bedürfnisse, eine spezifische „Selbstlosigkeit“ also, für Menschen dieser Gesellschaft kennzeichnend ist.

Das Surrogat, die leere Leistung, existiert immer nur im Komparativ und in der Konkurrenz. Selbstvertrauen braucht das Versagen anderer, Glücksgefühl fremdes Unglück, fruchtbares Zusammenwirken den Kitt eines Feindbilds. Lust, Genuss und Geselligkeit als befriedigender Selbstzweck sind kaum Dinge, die in dieser Gesellschaft einen lebenstüchtigen Menschen ausmachen. Das tun eher ein (selbst)destruktiver Lebensstil, Anlehnung an Macht und Autorität, Kampfhundqualitäten und Indolenz gegen sich und andere.

Die Pathologie der Gesellschaft betrifft auch ihre KritikerInnen

Diese Lebensweise ist hochgradig pathogen. Psychische Gesundheit lässt sich nur noch als das durchschnittliche, einigermaßen stabile und daher unauffällige Maß an Krankheit definieren. In einer Zeit der Krise des gesellschaftlichen Zusammenhangs verliert dieser Zustand zusehends an Stabilität, verschiedenste pathologische Schübe über das „normale“ Maß hinaus häufen sich ringsum.

Die kranke Verfassung der Individuen wird jedoch meist ignoriert, ja als Tabu behandelt. Jemandes „ausrastendes“ Verhalten zu „pathologisieren“ (aus seinem Leiden, seiner Krankheit zu erklären, an der so gut wie jede/r teilhat) gilt nicht als naheliegend, sondern ist verpönt. Die Fiktion des autonomen bürgerlichen Subjekts in home and castle seiner privacy wird nicht als Keimzelle des Wahnsinns erkannt, sondern eher als unhintergehbare Grundlage des zwischenmenschlichen Umgangs imaginiert.

Das gilt freilich keineswegs nur für unreflektiert dahinlebende ZeitgenossInnen, sondern auch für GesellschaftskritikerInnen. Dass auch das eigene alltägliche Verhalten, die eigene kranke Seele zum Gegenstand der Erkenntnis und Kritik zu machen wäre, wird meist als Psychologisiererei verachtet oder liegt von vornherein im blinden Fleck der eigenen Wahrnehmung. Die Belange des Individuums haben ja im üblichen Betrieb der Textproduktion und des Vortragswesens (sehr arbeitsähnlich übrigens) weder Platz noch Bedeutung. Die Folgen sind so banal wie destruktiv: Geltungsdrang und Eifersucht, Hackordnung nach Hoch- und Minderleistern, Autoritätshörigkeit, Verletzung und Ranküne, Gezänk und Mobbing usw. Die verheerenden Verarbeitungsformen der wertgesellschaftlichen Realität und ihres wachsenden Drucks, werden auch bei und von Menschen, die ansonsten um ein sehr hohes Reflexionsniveau bemüht sind, als „Privatproblem“ und „spezieller Fall“ betrachtet und entsprechend der Leistungshierarchie gegen Hochleistungen aufgerechnet (wenn nicht gar als neuester Geniestreich angenommen) oder aber als Bestätigung der Minderleistung betrachtet. Dass dieser flächendeckende Zustand kaum thematisiert, geschweige denn behandelt wird, erschwert die Formierung von geistigem und praktischem Widerstand gegen die Zumutungen, ja oft schon dessen adäquate Formulierung ungemein, wenn es sie nicht schon im Ansatz vereitelt.

Es ist vermutlich eine Illusion so zu tun, als könnten wir Ursachen und Verlauf des gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfalls genügend begreifen oder gar uns auf einen Ausweg machen, ohne dabei auch die gemeinsame Erkenntnis und Therapie der Krankheiten der je eigenen Psyche als gesellschaftliches Anliegen, als Akt des Widerstands und der Transformation zu begreifen.

Dies ist in Gesellschaftskritik und Widerstand umso wichtiger, als auch die stillschweigende Voraussetzung der Theorieproduzentinnen und ihrer Rezipienten, dass es sich bei ihrem Tun bloß um einen Vorgang intellektueller Erkenntnis handle, der auch von (natürlich stets gerechter) Wut nicht zu trüben sei, eine grobe Selbsttäuschung ist. Die ganze Palette der unserer Lebensweise entspringenden, vom kritischen Bewusstsein aber ignorierten seelischen Belastungen und Störungen spielen auch hier eine mitentscheidende Rolle und treten dank ihrer Verdrängung (oder der selektiven Wahrnehmung nur bei den anderen) mehr oder weniger unvermeidlich in der Maske der Erkenntnis auf. Auch hier gilt, dass diese weit verbreitete Verirrung meist nur als „Fieberschub“ wirklich kenntlich wird (und Fans und Jüngern oft auch dann noch verborgen bleibt).

Freude gewinnen und Leid vermeiden, ein gutes Leben haben und einem schlechten abhelfen, sind grundlegende individuelle Ziele, deren Erreichen aber in dieser Gesellschaft erstens auf die Form mörderischer Konkurrenz verwiesen wird und die zweitens als gesellschaftliche Ziele gar nicht etabliert werden können, weil auf deren Platz Gott Mammon sitzt oder besser: das alles verschlingende schwarze Loch des Werts (und aller seiner Ableitungen). Das bedeutet aber, dass uns ein gesellschaftliches Maß für ein gutes Leben umso mehr abgeht, je mehr die Logik der Verwertung das soziale Leben durchdringt und sinnvolle Tätigkeit durch leere Leistungen ersetzt. Destruktivität oder Beitrag zum gesellschaftichen Wohlbefinden als Motiv und als Ergebnis Surrogat oder Wunscherfüllung lassen sich nicht mehr sicher unterscheiden, ja auch Leid und Freud werden in dieser Welt des Scheins leicht selber falsch.

Zu den Bedingungen des Auswegs

Solange der soziale Kampf auf dem festen Boden einer noch entwicklungsfähigen kapitalistischen Gesellschaft ausgetragen wurde, war deren psychosoziales Rüstzeug für alle Seiten grundsätzlich angemessen und einigermaßen verwendbar. Dass auch geistige Erkenntnis von dem betroffen und deformiert sein könnte, was die bürgerliche Gesellschaft aus Menschen so macht, musste nicht als Problem gelten. In der Arbeiterbewegung ließen sich Theorie und soziale Befreiungsbewegung als einigermaßen säuberlich geschiedene Lebensbereiche leistungsstarker Individuen auf dem allen gemeinsamen Boden nicht allzu schwer miteinander vermitteln.

Heute ist in dieser Gesellschaft einerseits das Verwertungsdenken in jeden Bereich des Lebens vorgedrungen, andererseits aber erlahmt die Verwertung selber und der morastige Boden der Gesellschaftsordnung taut auf. Immanenter Widerstand hat da keinen Halt mehr, wird über kurz oder lang aussichtslos, wenn er nicht mit dem Ziel der Überwindung der immer irrer werdenden geld- und staatsförmigen Verhältnisse verbunden ist. [3] Für diese anstehende Überwindung wächst sich aber der auf Leistung, Konkurrenz, Angstbeißen und Isolation getrimmte „alte Mensch“ zu einem Hindernis der eigenen Befreiung aus – im Denken wie im Handeln, in der Theorie wie in der Praxis.

Dass die Bemühungen, den verdrängten Diskurs der Achtzigerjahre vom Ende der Arbeit auf wertkritischer Grundlage neu zu etablieren, voranzukommen scheinen, ist so erfreulich wie eine notwendige Grundlage für erfolgreichen sozialen Widerstand. Die Fähigkeit zu einem Leben in Kooperation ohne und statt Konkurrenz, eine Selbstsicherheit und ein Selbstbewusstsein, die darauf beruhen, dass mein Wohlbefinden auch ein Anliegen meiner Mitmenschen ist, lassen sich jedoch als Voraussetzung eines alternativen Zusammenlebens zwar erkennen und als Erfordernis plakatieren, sie müssen aber erst in einem bewussten praktischen Lernprozess entwickelt werden, und das schon in einem Umfeld, das tatsächlich feindlich ist. Ohne die Bildung von vielfältigen offenen Gemeinschaften für Palawer und gegenseitige Hilfe, die in ihrem Innenverhältnis das Neue entwickeln und erproben, wird da kein Weiterkommen sein – wie beschränkt und speziell solche Zusammenschlüsse zunächst auch sein mögen.

Elemente, die eine solche Entwicklung ermöglichen könnten, sind da bzw. absehbar. Einerseits bestehen auch in unseren Gegenden schon hie und da solche Gemeinschaften als Experimente ganz verschiedener Dichte und Tiefe und auf verschiedenen, weit voneinander liegenden Gebieten, von Diskussionszirkeln, organisierter Nachbarschaftshilfe, gesellschaftlich engagierten Wohnprojekten bis zu den Freaks der Freien Software. Ein wenn auch (noch?) sehr kleiner Teil der Jugend ist angesichts der trüben Aussichten an Alternativen durchaus (wieder) interessiert und für (auch schon laufende) Experimente ansprechbar.

Andererseits könnte die Besetzung von Boden, Häusern und Betrieben als Methode von Stadtteil-Komitees, ruinierten Belegschaften und radikalisierten Arbeitslosenvereinigungen und andere Formen direkter Aneignung mit Verschärfung der Krise auch in Europa die üblichen Geld- und Arbeitsplatz-Forderungen an Management und Politik zumindest „ergänzen“. Die Erfolglosigkeit immanenter Kämpfe kann nämlich nicht bloß frustrieren, sie kann auch für den Gedanken empfänglich machen, dass Sich-Abputzen, Konkurrenz und Spaltung (zwischen den Geschlechtern, den „Standorten“, den Herkünften und den Berechtigungsscheinen der Menschen) uns ruinieren, wir uns in Kooperation aneigenen müssen, was wir zu einem guten Leben brauchen – und dass wir uns dringend und ausführlich darüber unterhalten und damit Erfahrungen sammeln sollten, was und wie denn ein gutes Leben ist. Ohne das Projekt einer grundlegenden Umgestaltung der Beziehungen zwischen den Menschen und als Voraussetzung und Folge zugleich auch ihrer selbst ist ein Ausweg aus der kapitalistischen Malaise nicht gangbar. Und auch nicht wirklich denkbar. Denn je mehr das verinnerlichte Leistungsethos, der leere olympische Zwang des „citius, altius, fortius“ (schneller, höher, stärker), „am Stand durchdreht“, dysfunktional und destruktiv wird, desto mehr verdunkelt diese uns aufgeherrschte Haltung auch das kritische Denken, wenn sie nicht je selbstkritisch als Krankheit benannt und behandelt wird. Ich vermute, dass nur Gemeinschaften, die sich dieser Aufgabe stellen, eine fruchtbare theoretische und praktische Kritik unserer Lebensweise und der mit ihnen verbundenen Leiden formulieren und realisieren können, ohne gleich oder später zumindest in sterile Polemik und Sektengezänk zu verfallen und damit zum Gegenteil eines guten Lebens für sich und andere beizutragen.

Übrigens ist es auch kaum vorstellbar, dass eine soziale Bewegung, die von vielen quasi als deus ex machina erwartet wird, in Richtung Empanzipation gehen würde, wenn nicht schon heute von verstreuten Gemeinschaften Bemühungen unternommen und Erfahrungen gemacht werden.

[1Schwarze Film-Parabeln stellen das zuweilen dar: So „The Matrix“ (Brüder Wachowski, 1999), in der in einer Scheinwelt gefangene Menschen mit ihrer Lebensenergie Maschinen am Leben halten, oder John Carpenters „Sie leben“ (1988), wo Aliens mit Hilfe einer Scheinwelt und veritablen Gehirnwäsche der Menschheit den Kapitalismus aufzwingen.

[2Arno Gruen, Die politischen Konsequenzen der Identifikation mit dem Aggressor. Das Bedürfnis bestrafen zu müssen, 2000, auf: http://info.uibk.ac.at/c/c6/bidok/texte/beh1-00-identifikation.html#fn1).

Als medizinische Diagnose findet sich diese Feststellung auch in einer Äußerung von Gudjon Magnusson vom WHO-Regionalbüro für Europa: „Wenn jemand arbeitsunfähig ist, unterliegt er einer starken sozialen Ausgrenzung, die bekanntermaßen mit Stress, Depression und Selbstmord einhergeht.“ (http://derStandard.at/investor 14.10.04)

[3Zum Umgang mit dieser Schizophrenie des Lebens in alles durchdringenden Verhältnissen, die eins ablehnt und überwinden will, haben Franz Schandl, Stefan Meretz und Ulrich Weiß einige lesenswerte Gedanken geschrieben – in der Serie „Utopie konkret“ in Freitag 11.06.04, 18.06.04 und 02.07.04, im Netz auch zu finden auf unserer Website: www.streifzuege.org/akt_arch_andere.html.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)