MOZ, Nummer 58
Dezember
1990
Marguerite Duras:

Wenn ich schreibe, sterbe ich nicht

Ein Porträt, eine Lektüre

Alle suchen wir diese Augenblicke, in denen wir uns vor uns selbst zurückziehen, dieses Inkognito uns selbst gegenüber, das wir verheimlichen.

Marguerite Duras. Geboren 1914 in Vietnam. 1932 ‚Rückkehr‘ nach Frankreich. Studium an der Sorbonne. Paris. 1935-41 Sekretärin im französischen Kolonialministierum. Im Krieg in der Resistance. Journalistin beim „Observateur“. Jahrelang Mitglied der Kommunistischen Partei. Ausschluß. Seit 1943 zahlreiche Veröffentlichungen. Durchbruch mit dem Drehbuch zum Film „Hiroshima mon amour“ (1960). Prix Goncourt 1984 für „Der Liebhaber“. Theaterstücke, Hörspiele, Filme. Drei Alkoholentziehungskuren. 1990: Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Literatur.

Feed-backs: „Sie müssen wahnsinnig sein. / Sie zu lesen macht mich krank.“ Sie: „Ich probiere die Leere aus. / Enthüllung durch das Wort. / Das heißt, daß ich die Literatur wieder einsetze, mit ihrem tiefen Schweigen.“

Hommage einer Verführten. „Die Anziehungskraft der Leere gehört zum Wesen der Verführung“ (Baudrillard). Denn nicht nur durch die Schönheit wird man verzaubert, sondern auch durch die Auflösung des Sinns. Das ist untrennbar mit dem Tod verbunden.

Ich weiß nicht, wovon die Leute ausgehen; wenn sie von einer Geschichte ausgehen, bin ich mißtrauisch, von einer abgeschlossenen, völlig fertigen Geschichte, sehen Sie, fertig schon, noch ehe sie geschrieben ist, mit Anfang, Mitte und Ende, mit Peripetien; da bin ich mißtrauisch. Ich weiß niemals ganz genau, worauf es hinausläuft; denn wüßte ich es, so würde ich nicht schreiben, da es ja schon gemacht ist; es wäre nämlich schon gemacht.

(aus: „Die Orte der M.D.“)

M.D. verweigert die Fixierung — und damit letztendlich die fortwährende schriftlich rehabilitierende Legitimation — der Gewalt des (gesellschaftlichen) Zusammenhangs. Sich ausliefern „dem dunklen Keller, den jeder hat“, sich ausliefern dem, was von außen kommt, wie „der Verrückte, mit dem Siebkopf’. Das Schreiben als eine Dialektik von Innen und Außen wahmehmen; die Schrift als Transformation eines nie enden wollenden Prozesses des sich Aussetzens. Sie ist all die Frauen ihrer Texte, sagt sie. „Von alters her, seit Tausenden von Jahren ist das Schweigen eine Sache der Frauen, Ob sie von ihnen handelt oder von ihnen gemacht wird — es ist ihre Sache.“

Bild: Suhrkamp Verlag

Frauen — Schreiben

Das Schweigen ist allen Unterdrückten gemeinsam. „Der Mann muß lernen zu schweigen ... Er spielt den theoretischen Polizisten ... Er hat wieder angefangen zu sprechen und allein zu sprechen und für alle, im Namen von allen, wie er sagt. Sofort hat er die Frauen, die Verrückten zum Schweigen gebracht, er hat die alte Sprache eingeschaltet ...“

Da Werke schriftlicher Art ursprünglich einer männlichen Produktionsweise entschlüpft sind, handelt es sich im Grunde genommen beim weiblichen Schreiben vorab um einen Aneignungsprozeß, um nicht zu sagen eine Usurpation einer fremden Identität. „Die Frau, die schreibt, verkleidet sich als Mann.“

Die Schrift — als das Paradebeispiel einer indirekten Kommunikation, in der die Kommunikation selbst vergegenständlicht wird und die zur Funktion hat, diese unsterblich zu machen (als männliche Todesbewältigung) — ist von Frauen adaptiert, adoptiert worden. Bis zur zugeeigneten Aufgabe hin, daß „die Frau sich schreiben muß, denn das Erfinden eines neuen aufständischen Schreibens läßt sie im Augenblick ihrer Befreiung die notwendigen Brüche und Veränderungen ihrer Geschichte vollziehen“ (H. Cixous). „Ich merke, daß ich über eine Frau spreche, wenn ich über mich spreche“ (M.D.).

Sie setzt ein organisches Schreiben als Unterschied. Bis zur Selbstvergessenheit. Schreiben als Erinnerung auch an Nichtgelebtes. Der Textkörper als materialisierte Antwort der persönlichen Metaphysik. Die „Unbefangenheit der Verzweiflung“ setzt Schrift und Schmerz als Gleichung, macht den Schreibprozeß zum Akt der Empfänglichkeit. Wie entsteht solch ein Text?

Ich entwende mir von der inneren Masse, ich mache draußen, was ich drinnen machen muß (...)

Das kann man sagen. ‚Im besten Fall verstümmle ich mein inneres Dunkel. Ich habe die Illusion, Ordnung zu schaffen, während ich entleere, zu erhellen, während ich auslösche. Oder aber man erhellt ganz und gar und ist verrückt. Die Verückten vollziehen die Umwandlung des gelebten Lebens außen. Das erhellende Licht, das in sie eindringt, hat das innere Dunkel verjagt, ersetzt dieses aber. Nur die Verrückten schreiben vollständig.‘

(aus: „Gespräche mit Xavière Günthier“)

Ver-rückt

Wenn die Travestie erst einmal verrückt ist, d.h. wenn die Bestimmung des Weiblichen als Spiegel des Männlichen mit negativen Vorzeichen verworfen wurde, kommt weibliches Schreiben zu Wort, zur Existenz. Es ist der Versuch, das unter der symbolischen Ordnung verschüttete, sprachlose Weibliche zur Schrift, ins Bild zu bringen. Für den Mangel ein Wort zu finden. „Das einzelne Wort zählt mehr als die Syntax.“ Das Tasten, die Suche nach dem verlorenen Augenblick, die wir alle kennen, das könnte die Erzählung sein, die sich durch alle Geschichten M.D.s schreibt. Es ist immer und immer eine Liebsgeschichte, die Liebesgeschichte. Die Unmöglichkeit, die Distanz zum anderen, zur anderen aufzuheben; wobei gerade die Distanz die Verbindung darstellt. Das Begehren, das sich durch den Mangel konstituiert, das ihn aber auch erst ermöglicht um m/ein Gegenüber „zu ergreifen, zu begreifen“. Es scheint, als kreisten alle Textbewegungen um diese Lücke. Diese Art leichter Melancholie wird von einigen Kritikern als — auch neurotische — Depression bestimmt, die zu ewigen Wiederholungen führt. Der Vorwurf: M. D. als Vielschreiberin. Depression gesehen als das Nichtakzeptierenkönnen der Szene des Urverlusts des geliebten Objekts — der Mutter? Die Wunde als unendlich schwärende und eine nie enden wollende Trauer. Ist es das?

Abgesehen davon, daß sich M.D. gegen jegliche Psychologisierung verwehren würde, wer kennt es denn nicht, das Verlassenwerden, das man als Verlassenschaft unaufhörlich mit sich herumträgt? Als Zuschauerin ihrer selbst hat M.D. das Ereignis des Schnitts präzis benannt und ebenso Fiktion zur Lösung/Löschung des Autobiographischen gemacht. Die Grammatik des Unbewußten, das nach Freund und Lacan immer schon wie eine Sprache strukturiert ist, quasi als unsere innere Schreibmaschine, aus seinem Schattenbereich annähernd zu erlösen — ohne analytisch zu werden. „... Meine Gestalten befinden sich alle vor jener Zeit des Nachdenkens, ich meine die Gestalten, die ich liebe, die aufs tiefste liebe.“ Das sind die Minen des Schreibens. „Das ist sie, Lol V. Stein, jemand, der sich jeden Tag zum ersten Mal erinnert, und dieses alles wiederholt sich tagtäglich; sie erinnert sich täglich zum ersten Mal, als ob es zwischen den Tagen von Lol V. Stein unergründliche Abgründe des Vergessens gäbe. Sie gewöhnt sich nicht an die Erinnerung. Auch nicht an das Vergessen übrigens.“

In Vietnam
Bild: Suhrkamp Verlag

Die tragende Hintergrundfigur, das Modell sämtlicher Frauenfiguren, Anne-Marie Stretter, war eine reale Erscheinung im Leben der jungen M.D. „Manchmal meine ich, ihretwegen habe ich geschrieben (...) Ich frage mich, ob die Liebe, die ich für sie hege, nicht immer existiert hat. Ob das Elternmodell nicht überhaupt sie war und nicht meine Mutter, die ich zu verrückt, zu überspannt fand, und die das nun ja auch wirklich war. Es war diese geheime Macht.“

In dem Stück „Eden Cinema“ wird der realen Muttergestalt jedoch ein nachdenkliches Denkmal gesetzt.

Die Frauen — alle Figuren — in den Inszenierungen drücken eine Form des nicht Bei-sich-Seins aus, das es gerade darum umso mehr ist. Sie schillern zwischen einer manchmal beinah pornographisch-gewalttätigen Fleischlichkeit („Der Mann im Flur“) und einer fast gläsernen porösen Anonymität („Die englische Geliebte“), die wiederum zwischen archetypisch anmutenden Konflikten („Zerstören sagt sie“) und einer ästhetisierten Prätention („India Song“), die bis zur Eigenschaftslosigkeit herme- tisiert ist, den Schwindel erzeugt („Im Sommer abends um halb elf“). Die Figuren zehren sich zunehmend auf. „Sehr viel Arbeit war nötig, um das Buch auf diese Kargheit zu reduzieren, auf das, was noch unbedingt hat stehen bleiben müssen.“ Was der Leserin und der Zuschauerin vor die Augen kommt, hat immer schon stattgefunden.

Duras: „Da bin ich achtzehn Jahre alt“
Bild: Suhrkamp Verlag

Der Zuschauer

Die Stücke und die Filme basieren ebenso auf der Sprache. Die handelnden Personen agieren (meist) völlig statisch, ‚reduziert‘ aufs Äußerste der Bewegungslosigkeit. Es ginge darum, die Räume sehen zu lernen: „Die Bühne ist nur ein Vorzimmer, das klare Bewußtsein (...) das schwarze Zimmer ist das, was ich das Zimmer der Lektüre nenne.“ Deshalb die Intention: „Ich bin soweit, daß ich ein Passepartout-Bild ins Auge fasse, das über eine endlose Reihe von Texten gelegt werden kann, ein Bild, das in sich keinerlei Bedeutung haben sollte, das weder schön noch häßlich wäre und das seinen Sinn nur aus dem Text erhielte, der darüber geht.“

Marguerite Duras mit ihrem Bruder Joseph
Bild: Suhrkamp Verlag

Was sie sucht, ist der ursprüngliche Zustand des Textes, so wie man sich an ein weit zurückliegendes Ereignis erinnert, das man nicht erlebt hat, aber vom Hörensagen kennt. „Der Sinn stellt sich später ein, er braucht mich nicht.“ Dieser ungeheuerliche Anspruch ist ‚natürlich‘ eine exklusiver und bedarf besonderer Zuschauer. M.D. entwickelt zwar keine ästhetische Theorie des Filmischen — sie verweigert jedwelche Theorie als solche —, aber sie wehrt sich (fast aggressiv) gegen die größte Fabrik des Imaginären.

Dieser Zuschauer ist der der breiten Masse. Er ist jene seit eh und je unveränderte, unveränderbare Mehrheit, die Mehrheit der Kriege und der rechten Wählerstimmen, die Mehrheit, die sich quer durch die Geschichte zieht, deren Objekt sie ist, und die doch nichts davon weiß. Genauso macht sie es mit dem Kino. Stumm und neutral, gibt sie keine Kommentare, keine Urteile ab über den Film, den sie sieht. Sie geht hin, oder sie geht nicht hin.

Zu diesen Leuten muß man noch eine ganze Schar von Kritikern hinzuzählen, die Mehrheit der Kritiker, die die Wahl des primären Zuschauers bestätigen, die individuelle Filme anprangern, das auf jedermann zugeschnittene Action-Kino verteidigen und gegen den Autorenfilm einen derartigen Haß hegen. (...)

(aus: „Die grünen Augen“)

Das Politische

Doch ihr daraus den Vorwurf des Elitären zu machen, wäre blind, denn die Weigerung der Nivellierung der Projektion ins Massenhafte ist eine politische Setzung. „Ich sehe nicht, wie dieser Zuschauer, so wie er in der Kindheit mit der — offiziell oder offiziös — herrschenden Ideologie genährt wurde, der Falle seiner eigenen Herrschaft entgehen könnte. Er hält die Civitas in Gang, aber wir sind da, in der Civitas, gleichzeitig mit ihm.“

Gerade als jahrelange Marxistin hat M.D. nicht aufgehört, gegen die Vermassung (und Verdummung) durch die Kommunisten zu rebellieren: „Diese Vereinfachung des Menschen, das war der Hitlerismus, das war der Stalinismus. Jede Vereinfachung ist faschistisch (in der Armee, den Parteien, der Polizei) (...) die (...) saubere Krankheit des Parteimitglieds, des vorbildlichen Sohnes (...) besteht darin (...), daß er bereits ein vereinfachtes Bewußtsein hat.“ Jeder revolutionäre Mensch hingegen hat den ungezähmten Ort seines Widerspruchs in sich, der immer dann auftaucht, wenn er von Indoktrinierungen bedrängt, „aus dem Inneren, das sein Ort ist“, vertrieben wird. Wobei nicht der bekannt neuen Innerlichkeit das Wort geredet wird.

Deshalb wohl auch wendet sich M. D. gegen die Abgeschlossenheit einer militanten Frauenbewegung. Doch darin bleibt sie widersprüchlich: Einmal ist von der Notwendigkeit einer organisierten Frauenbewegung die Rede, dann wieder von wilden Verweigerungsstrategien (z.B. Telefon- und Stromrechnungen boykottieren) und letztlich von der Weigerung durch Passivität, die den Frauen als beinah genuine Fähigkeit und damit Chance zugesprochen wird. Gegen den Mann, jeden Mann als ‚Paramilitär‘, wird der passive Widerstand gesetzt, „die Weigerung zu antworten“.

„Seit ich nicht mehr mit einem Mann lebe, habe ich mich erst völlig wiedergefunden.“ Später wird sie wieder mit einem Mann leben, einem wesentlich jüngeren, der, wenn man es zutreffend entziffern kann, homosexuell ist. Alle Männer sind es, sie wissen es nur nicht („Das tägliche Leben“). Und wenn, dann: „Es sind zwei Überschreitungen, die sich begegnen“ — die schöpferische Frau und der Homosexuelle.

Auch wenn das Begehren zwischen diesen zum leiden-schaftlichen Sinn-los erklärt ist. Die Verschränkung von Lust und Verlust ist nicht nur eine Angelegenheit des Privaten:

Für viele Leute ist der wirkliche Verlust einer politischen Orientierung gleichbedeutend mit dem Eintritt in eine Partei und der Unterwerfung unter ihre Regeln, ihr Gesetz. Viele andere Leue aber meinen, wenn sie von apolitischer Haltung reden, vor allem einen Verlust oder einen Mangel an Ideologie. Bei Ihnen weiß ich nicht, wie Sie darüber denken. Für mich bedeutet Verlust des Politischen vor allem, sich selbst zu verlieren, seine Wut zu verlieren ebenso wie seine Zartheit, Verlust seines Hasses, seiner Fähigkeit zu hassen, ebenso wie seiner Fähigkeit zu lieben, Verlust der Unvorsichtigkeit ebenso wie der Besonnenheit, Verlust der Übertreibung ebenso wie Verlust des Maßes, Verlust des Wahnsinns, der Aktivität, Verlust des Mutes wie auch der Feigheit und Verlust des Entsetzens vor allem wie auch des Vertrauens, Verlust der Tränen wie der Freude. So denke ich.

Marguerite Duras Werk ist in den Verlagen Suhrkamp, Deutscher Taschenbuch-Verlag, Brinkmann & Bose und Stroemfeld/Roter Stern erschienen.