Heft 6/2000
Oktober
2000

Wer Klarinette spielt, nimmt keine Drogen!

Die Mythologie des Klarinettenspiels

Wie sollte jemand, der nichts tut als Klarinette in einem beschissenen Blasmusikverein eines immer noch in klerikalfaschistischer Tradition stehenden Dorfverbandes zu spielen, auf vernünftige Gedanken kommen? Und umgekehrt: Wie sollte jemand dessen Gedanken zwischen Dorfgasthaus, dem zehnten Bier und der österreichischen Bundeshymne — von Gamsbärten und Goldhauben ganz zu schweigen — ihren Horizont gefunden haben, leben können?

Die Wurzel dieses fabel-haften Vergleiches pflanzte ein Denker der Österreichischen Volkspartei, dessen Ausspruch den Denkhorizont derselben brutal vor Augen führt: Wer Klarinette spielt, nimmt keine Drogen!

Die Klarinette bleibt im Schrank!

Was Menschen zu VertreterInnen spießigen Kleinbürgertums macht, ist, dass sie im Kopf nicht über die Schranken hinauskommen, über die ihr Leben nicht hinauskommt [1] und dass sie ebenso nicht über Schranken hinausleben können, die diskursive Formationen markieren. Also, dass sie nicht zu leben imstande sind, was nicht denkbar ist oder erscheint.

Eine gefinkelte Situation. Spießige Praxis stabilisiert spießiges Denken und umgekehrt. Doch wie sind gesellschaftlich organisierte und legitimierende Halluzinogene zwischen gesellschaftlichen Strukturen und deren diskursiver Darstellung im Detail formiert? Oder: Wie funktionieren Verschleierung und harmonisierende Erklärungen gesellschaftlicher Widersprüche im politischen Diskurs?

Wir stellen in aller Kürze ein uns für diesen Zweck geeignet scheinendes Instrumentarium dar: Das semiologische Konzept des französischen Linguisten Roland Barthes über Mythologie und Riten des Alltags.

Roland Barthes spricht von mythischen Strukturen der Sprache. Der Mythos wird allerdings nicht durch das Objekt seiner Botschaft — beispielsweise durch eine Klarinette — definiert, sondern durch die Art und Weise, wie er diese ausspricht. [2] Nebenbei meint Objekt hier nicht einen materiellen Gegenstand, sondern es kann mythische Konstruktionen höherer Ordnung (wie das Nationale der Volksgesundheit) umfassen. Texte und Bilder erhalten ihre Bedeutung durch die Verweise, die ihre Bestandteile beinhalten und durch deren Zusammenstellung.

Umweg

Barthes Semiologie liest gesellschaftliche Gegenstände als Zeichen, d.h. Gesellschaft wird zum Text. [3] Fragmente dieses Textes, die zu lesen im Alltag bedeutet, sie als Handlungsanleitungen in das eigene Verhalten zu übersetzen, finden wir allerorts, auch an vermeintlich leeren Plätzen: Eine rote Ampel bei leerer Straße, ein Werbespruch, einige Schilder, eine (möglicherweise nur fingierte) Überwachungskamera, Bodenmarkierungen, ein Wachhund in einer Zeitung, Kleidung ...

Der Mythos ist für Barthes ein semiologisches System zweiten Grades, d.h. er baut auf bereits bestehende semiologische Systeme [4] auf und reduziert sie auf Zeichen in mythologischen Systemen. [5]

Mythos

Ich sitze beim Friseur, und man reicht mir eine Nummer des Paris-Match. Auf dem Titelblatt erweist ein junger Schwarzer in französischer Uniform den militärischen Gruß, den Blick erhoben und auf eine Falte der Trikolore gerichtet. Das ist der Sinn des Bildes. Aber ob naiv oder nicht, ich erkenne sehr wohl, was es mir bedeuten soll: Dass Frankreich ein großes Imperium ist, dass alle seine Söhne, ohne Unterschied der Hautfarbe, treu unter seiner Fahne dienen und dass es kein besseres Argument gegen die Widersacher eines angeblichen Kolonialismus gibt, als den Eifer dieses jungen Schwarzen, seinen angeblichen Unterdrückern zu dienen. Ich habe also auch hier ein erweitertes semiologisches System vor mir: Es enthält ein Bedeutendes, das selbst schon von einem vorhergehenden System geschaffen wird (ein farbiger Soldat erweist den französischen militärischen Gruß), es enthält ein Bedeutetes (das hier absichtlich eine Mischung von Franzosentum und Soldatentum ist), und es enthält schließlich die Präsenz des Bedeuteten durch das Bedeutende hindurch. [6]

Das Bedeutete der mythischen Form, in unserem Fall der französische Imperialismus als Beispiel, ist, im Gegensatz zur reichen, konkreten Form des Bedeutenden der mythischen Form, „leer“, nebulos und im eigentlich Sinn nicht anwesend. So paradox es aber erscheinen mag, die mythische Form verbirgt nichts. Sie hat die Funktion zu deformieren, nicht verschwinden zu lassen. [7]

Die Funktion des Mythos ist weiter, Geschichte in Natur zu verwandeln, der Mythos ist eine exzessiv gerechtfertigte Aussage. „Alles vollzieht sich, als ob das Bild (des grüßenden Schwarzen) auf natürliche Weise den Begriff hervorriefe (die Gesamtheit der kolonialen Präsenz, g.m.), als ob das Bedeutende das Bedeutete stiften würde“. [8] Das Bedeutete wird durch das Bedeutende der mythischen Figur (scheinbar) rationalisiert, gerechtfertigt.

Der in der mythischen Figur entstehende Eindruck von Kausalität und Natürlichkeit ist natürlich künstlich und falsch, schlüpft aber dennoch in den Güterwagen der Natur. Barthes bringt hierzu ein Beispiel von sinkenden Marktpreisen, die natürlich der Einwirkung der Regierung zugeschrieben werden, eigentlich aber saisonal bedingt sind. [9] Ebenso treffend wäre ein Bezug auf die politische Konstruktion der bösen EU-14 und einer sozialistischen Verschwörung gegen alle Österreicher. Und demgegenüber die links-liberale Imagination einer widerständigen und patriotischen Zivilgesellschaft.

Stark-Schwarz-Weiblich

Wir sitzen beim Friseur, durch unsere Hände wandert eine Zeitschrift mit folgendem Inserat: Auf dem Bild eine junge Frau in einem roten, hochgeschlitzten Kleid, in selbstbewusster Haltung. Zu ihren Füssen liegt eine weitere Person, entweder eine Frau, die ihr männliches Outfit durch besonders feminine Haltung kontrastiert, oder ein äußerst femininer junger Mann, die von der zentralen Figur deutlich dominiert wird. Und im Hintergrund Motorboot, Helikopter und roter Sportwagen. Der Text: "Sag niemals nie — Mehr Mut und weniger Selbstzweifel ist angesagt. Frauen, die sich trauen, haben einfach mehr Erfolg. Warum nicht auch Sie? [10]

Regel Nr. 1: Schlimmer geht’s immer!
(ÖVP-„Frauenoffensive“)

Angesichts realer frauenfeindlicher Politik möchten wir im folgenden näher auf die ÖVP eingehen, deren SpitzenfunktionärInnen schon vielerorts mit äußerst bodenständigen Emanzipationsvorstellungen brilliert haben — von ihren KollegInnen in der FPÖ wollen wir schweigen.

Das Bild vermittelt einen Typus James-Bond-Frau durch Anknüpfung an unrealistische Action-Agenten Filme. Im Grunde stellt das Plakat eine funktionierend verschobene Anwendung gängiger sexistischer Klischees dar, auf denen aufbauend mythisch über eine imaginäre ÖVP-Frauenpolitik gesprochen wird.

Wiederholung

Wir haben auch bei unserem Friseur ein erweitertes semiologisches System vor uns: Es enthält ein Bedeutendes, das selbst schon von einem vorhergehenden System geschaffen wird eine (von sich überzeugte) Frau im Abendkleid vor Sportwagen, Helikopter und entweder mit einem hübschen Jüngling zu Füssen — oder mit ihrem eigenen Kontrastbild innerhalb der Spanne attraktiver konservativer Frauenbilder. Weltmännisch wie Bond, selbstbewusst wie Goldfinger und attraktiv wie Grace Jones und aktiv wie alle drei zusammen). Es enthält ein Bedeutetes (Frauen von heute sollen „selbstsicher, weltmännisch, attraktiv und aktiv“... im schwer konservativen Sinne der ÖVP sein).

Dieses Bedeutungssystem funktioniert über Identifikation mit klassischen Bildern von männlicher Stärke, Unabhängigkeit usw. — als sexistische Abziehbilder. Dabei werden diese Klischees affirmiert und abermals gerechtfertigt. Die angebotene Identifikation von Frauen mit Klischees männlicher Souveränität setzt die oberste Grenze der Emanzipation. Dieses Bild funktioniert ebenso wie die anderen in der Kampagne verwendeten Sujets zusätzlich durch die Wahl von Darstellungen aus der Filmindustrie. Würden die Protagonistinnen in der Haut realitätsnäherer Männerrollen oder -figuren stecken, wäre die Aussage für das angesprochene Publikum vermutlich eine lächerliche. Und die Kultfilmsujets machen ein weiteres: Die Aufforderung, sich mit Leinwandheros zu identifizieren verlangt gemeinsam mit den inhaltsleeren Kurztexten, kein konkretes Programm an den eigenen Bedürfnissen zu messen, sondern der Vorstellung eigener Stärke zu ihrem träumerischen Recht zu verhelfen.

Das semiologische System setzt schließlich die Präsenz des Bedeuteten durch das Bedeutende (eine Agentenfilm/Bondgirl-Abziehfolie) hindurch. [11] Bedeutet wird eine Frauenkampagne, die Frauen nicht bevormunden oder zum passiven Objekt von Zuwendungen und Förderungen machen will — so die ÖVP. Nahegelegt wird die Vorstellung der Möglichkeit individualisierter Selbstemanzipation in einem sexistischen Rahmen und mit männlichen Stereotypen. Der Status Quo derzeitiger Geschlechterverhältnisse wird affirmiert und einer diese verändernden Politik eine Absage erteilt. Emanzipierte Frauen sind in der ÖVP-Kampagne nur als starke Männer denkbar. Dieses Bild dient der tolldreisten Kaschierung forcierter Diskriminierungspolitik mit Hollywoodfassaden, konservative Politik ist eben nicht Stillstand, sondern Rückschritt. Wenn die ÖVP formuliert, es würden Frauen-Männer-Klischees um 180 Grad gedreht und verabschiedet, meint dies eine als Verdrehung und Entlarvung getarnte Berufung auf sexistische Klischees und deren Verabschiedung als Affirmation und Institutionalisierung. Patriachale Strukturen werden exzessiv gerechtfertigt, zur Normalität erklärt.

Konsum des Mythos

Was der LeserIn ermöglicht, den Mythos unschuldig zu konsumieren ist, dass er/sie in ihm kein semiologisches, sondern ein induktives System sieht. Dort, wo nur eine Äquivalenz besteht, sieht er einen kausalen Vorgang. Das Bedeutende und das Bedeutete haben in seinen Augen Naturbeziehungen. Man kann diese Verwirrung auch anders ausdrücken: Der Verbraucher des Mythos fasst die Bedeutung als ein System von Fakten auf. [12]

Worin besteht das eigentlich Eigentümliche des Mythos? Es besteht in der Umwandlung eines Sinnes in Form. Der Mythos begeht Diebstahl an einer Ausdrucksweise. [13]

Entnennung

Ein Phänomen moderner bürgerlicher — sich selbst als Zivilgesellschaften definierender — Gesellschaften ist eine partielle Ent-Nennung. Im ökonomischen Bereich wird kapitalistische, bürgerliche Ökonomie als solche benannt. [14] Das Benannte gewinnt aber auch im ökonomischen Diskurs seine Bedeutung durch eine Vielzahl von mythifizierenden Verweisen: Auf ein Menschenbild, das im Kapitalismus seinen Rahmen fände, auf eine in die Zukunft projizierte Fähigkeit des Systems, benannte Widersprüche ausgleichen zu können usw.

Widersprüche bleiben durch das Herstellen naturalisierter Kausalzusammenhänge gerade durch ihre Benennung verdeckt. Der Mythos verschleiert nichts. Aufhebung oder Verdeckung funktioniert über mythologische Zusammenhänge und Naturalisierungen, das heißt beinahe rituelle Anrufungen einer unveränderbaren Natürlichkeit.

Diese Strategie des direkten Ansprechens gekoppelt an das Ausblenden und Verschieben von Antagonismen nennt Barthes Ent-Nennung.

Vergessen und naturalisiert wird ebenso die patriachale und rassistische Strukturierung. Zivilgesellschaft, universale Menschenrechte und Chancengleichheit im Leistungssystem benennen die kapitalistische Moderne.

Eine wesentliche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Begriff „Nation“, der als Universalie Differenzen verstellt. „Wenn es nur noch eine einzige, ein und dieselbe menschliche Natur gibt, kann sich die Bourgeoisie ungehindert entnennen“. [15] Damit dürfte zumindest Wesentliches zum Konzept eines nationalen Schulterschlusses gesagt sein. Nation wird als natürliche Kategorie dargestellt, die Menschen nominiert, als StaatsbürgerInnen anspricht und Differenzen und Konflikte verschiebt.

Barthes thematisiert „normalisierte Formen“, deren eigentlich historische und ideologische Gestalt verdeckt bleibt.

Mythische Formen begründen eine illusionistische Undifferenziertheit des sozialen Raumes, in gesellschaftlichen Verhältnissen, deren Machtstrukturen gerade auf technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, auf einer Umwandlung der ´Natur´ aufbauen. Bürgerliche, kapitalistische Ideologie stellt gleichzeitig eine imaginierte, unveränderliche Natur wieder her. Der Mythos ist in diesem Sinn eine entpolitisierte Aussage, er organisiert eine Welt ohne Widersprüche und begründet eine glückliche Klarheit. [16]

Dagegen angehen?

„Es ist bekannt, dass manche bis zur puren Auflösung des Diskurses [17] gegangen sind, nachdem sich das — wirkliche oder transponierte — Schweigen als einzige mögliche Waffe gegen die überlegene Macht des Mythos (...) erwiesen hatte“. [18] Die beste Waffe gegen den Mythos wäre jedoch lt. Barthes ihn selbst zu mystifizieren, d.h. einen künstlichen Mythos zu schaffen.

„Der Mythos ist ein Wert, wie wir wissen. Es genügt seine Umgebung zu verändern, das allgemeine (und widerrufliche) System, in dem er seinen Platz innehat, um seine Tragweite aufs Genaueste zu regulieren“. [19]

Klarinetten-Epilog

Die heile Dorfwelt, der Blasmusikverein, gesunde rotbackige Burschen und Dirndln. All dies dient als Hintergrund der mythischen Aussage eines ÖVP-Mannes, der eine imaginierte, und weitverbreitete Bedeutungsstruktur entwendet für Aussagen zur Drogenpolitik.

Mythischer Aussagen verwenden weitverbreitete Klischees für andere Zwecke, seien dies nun häuslbauerische Sparerfahrungen oder Klischees von der intakten gesellschaftlichen Struktur dörflicher Idylle.

Anzapft is!

Umta Umta Täterä …

[1Vgl. Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, S.142.

[2Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt 1964, S 89.

[3Es soll hier nicht darum gehen, das linguistisches Modell auf das Barthes zurückgreift — eine Beziehung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem, also Gegenstand und Wort, die ein sinnbehaftetes Zeichen bildet — kritisch zu analysieren, sondern darum, die Funktion mythischer Konstruktionen darzustellen. Ansatzpunkte möglicher Kritik finden sich beispielsweise bei Ludwig Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe. Band 1, Frankfurt 1984)

[4Bedeutungssysteme

[5Für eineN LinguistIn wohl eine haarsträubende Verkürzung.

[6Barthes 1964, S. 95.

[7Barthes 1964, S. 102.

[8Barthes 1964, S. 113.

[9Barthes 1964, S. 114.

[10Bild und Text sind Teil der neuen Kampagne der ÖVP. Nähere Infos auf der ÖVP-Url: www.frauenoffensive.at

[11Barthes 1964, S. 95.

[12Barthes 1964, S. 115.

[13Barthes 1964, S. 115.

[14vgl. Barthes 1964, S. 124.

[15Barthes 1964, S. 126.

[16vgl. Barthes 1964, S. 129ff.

[17Auflösung des Diskurses: Graffiti, wilder Streik, Hacking, Überschreitung geschlechtlicher Identität, ... ?

[18Barthes 1964, S. 120, vgl. Gilles Deleuze, Hakim Bey, Kollektiv A/Traverso (nähere Infos unter http://www.goldfisch.at/manana)

[19Barthes 1964, 133.

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