Streifzüge, Heft 47
Oktober
2009

What we do matters

Zu Friederike Habermann: Der homo oeconomicus und das Andere

„What we do matters“, ist der Schlusssatz des Buches. Derlei Sentenzen sagen oft einiges über Stimmung, Haltung und Perspektive, mit der die AutorInnen schreiben. Z.B. das „Dixi et salvavi animam meam“ am Ende von Marxens Kritik des Gothaer Programms, aus dem sein schon resignativer Frust über den Gang der deutschen Arbeiterbewegung spricht. Oder in den letzten Jahren der Satz „Die Gedanken sind frei, auch wenn sonst gar nichts mehr frei ist“ am Ende des Kurz’schen „Schwarzbuch Kapitalismus“ angesichts seiner Verzweiflung über das Nicht-Erscheinen einer mit „theoretischer Innovation“ gerüsteten „Massenbewegung“ für einen „regelrechten Aufstand“.

Emanzipatorischer Impetus

Habermanns Klausel ist da weniger bewölkt. Sie sieht sich dem Geschehen nicht gegenüberstehen, sondern mittendrin, wo das, was eins selber tut, wie auch jenes, das wir unterlassen, den Gang unserer Geschichte macht. Es ist ein roter Faden in ihrem Text: Immer wieder tritt sie mit ihrem Anliegen vor den Vorhang der akademischen Bühne, auf der das Buch ihre Dissertation darstellt. Das vorherrschende Unerträgliche muss geändert, die Gesellschaft den Menschen angemessen(er) gemacht werden. Nur dazu muss untersucht werden, was ist, muss der Berg an Literatur abgetragen und den Gedanken der SchreiberInnen nachgegangen werden. Läge ihrer ungemein nüchternen Schreibweise nicht jede Melodramatik fern, könnte sie mit John Holloways („Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“) poetischen Worten beginnen: „Im Anfang ist der Schrei“, das Gespür, „dass etwas mit der existierenden Welt radikal falsch ist“. Und: „Wir schreien, … weil wir davon träumen, uns zu befreien.“

Es hat wirklich etwas von einem Tagtraum im guten Sinne Montaignes, wenn sich Habermann daran macht, eine Theorie der menschlichen Handlungsfähigkeit in den Strukturen der Unterdrückung zu entwickeln. Eine Theorie, die sich bei den teilweise recht inkompatiblen Herangehensweisen von Leuten wie Gramsci, Althusser, Foucault, Derrida, Hall, Laclau, Mouffe, Butler und vieler anderer aus deren disparaten Umkreisen bedient, um sie dahin abzufragen, was sie begrifflich für das Verstehen und das Abschaffen von Unterdrückung hergeben. Und wie sehr es dabei um Letzteres, um das Ändern, Sich-Emanzipieren geht, macht schon ihre Bemerkung klar, dass, wenn es eine kompakte Theorie (noch) nicht gibt, ein kritischer Eklektizismus durchaus angebracht sei.

„Subjektzentrierte Hegemonietheorie“

Diesen sperrigen Titel gibt Habermann dem Theoriestrang, den sie flechten will. Grob gesagt will sie die Stärke der (post)marxistischen Tradition in der Analyse der gesellschaftlichen Strukturen (den Struktur-Begriff bringt sie mit dem Marx’schen der Form zusammen) mit dem Fokus des „Poststrukturalismus“ und der Diskurstheorie(n) auf Subjekt, Identität und das darin befangene Individuum verbinden und deren Zusammenhang herausarbeiten. Geschichte lässt sich weder als determinierter Ablauf struktureller, herrschaftsförmiger ökonomischer Gesetzmäßigkeiten noch als Folge voluntaristischer Entscheidungen autonomer Subjekte befriedigend deuten. Strukturen und Subjekte mit ihren Identitäten sind ineinander verwoben und das eine ohne das andere nicht denkbar. Die gesellschaftlichen Formen der Herrschaft wirken auf die sozialen Prozesse und Kämpfe der Menschen. Umgekehrt aber existieren diese Strukturen nur als ein Ergebnis dieser Prozesse, als Ergebnis von Kämpfen um die Hegemonie, das sich als fragmentierter, widersprüchlicher Alltagsverstand in den Menschen sedimentiert und Handlungsmotiv wird. Das Leiden der „realen“ Menschen am Leben in den Strukturen der Herrschaft sowie die unvorhersehbaren Entwicklungen, die sich daraus ergeben, dass das „Reale“ von den Diskursen nie erschöpfend fassbar ist, verhindern jedoch die identische Wiederholung von konformen strukturerhaltenden Handlungen. So verschieben sich immer wieder Strukturen und Identitäten, ändert sich der gesellschaftliche Alltagsverstand und entstehen neue Handlungsmöglichkeiten. Gesellschaftliche Veränderungen werden nicht erst als regelmäßige Lawine, sondern schon als unvorhersehbarer Schneeball wahrnehmbar – und sind teilnehmend zu beeinflussen.

Habermanns Analysen enden daher nie im Gegenüber zu einer Revolution oder deren Ausläufern „soziale Widerstands-“ und „Massenbewegung“. Sie reicht nicht die Theorie der gesellschaftlichen Zwangsformen gewissermaßen als Waffe zum voluntaristischen Gebrauch „hinüber“, sondern versteht die Analysanten ausdrücklich als Menschen, die selbst in den sozialen Formen, Subjektivierungsprozessen und eigenen Identitäten und Interessen befangen und im Denken, Fühlen und Handeln in die Strukturen der Herrschaft verwoben sind und in ihrem Horizont beengt werden.

Ein Gedanke, der es wert wäre, auch in seinen Konsequenzen für den theoretischen Betrieb weitergedacht zu werden. Immerhin legt er Skepsis den eigenen Erkenntnissen gegenüber genauso nahe wie einen Zusammenhang zwischen theoretischen Fortschritten und den praktischen Bemühungen der Denkerinnen und Schreiber, aus der von der Lebensweise aufgeherrschten Konkurrenz, Indolenz und Konformität ein Stückchen herauszufinden (der Exkurs Habermanns zum Feminismus des stockbürgerlichen John Stuart Mill mag da durchaus eine Ermutigung sein). Damit wird auch die übliche lebenswirkliche Trennung von Theorie und Praxis und der alte Streit um die Farbenlehre, ob jene grau, grün oder golden sind, ein wenig in Frage gestellt. Dass Habermann diese Erkenntnis recht leicht fällt, hat wohl mit ihrem eigenen Leben zu tun, in dem die beiden klassischen Bereiche eng verquickt zu sein scheinen.

Herrschaft ist eine Hydra

Die im Buch diskutierten Formen sozialer Unterdrückung sind Kapitalismus, Sexismus und Rassismus. Habermann lehnt die in der marxistischen Tradition verbreitete Zurückführung jeder sozialen Herrschaftsmechanik auf das Kapitalverhältnis ab, das jene zumindest überformt und sich einverleibt habe und dessen Sturz jede andere Form von Unterdrückung erledigen werde. In zwei Durchgängen durch die Geschichte der kapitalistischen Wirtschaftstheorie und die „Hegemoniale(n) Entwicklungen der Identitätskonstruktionen“ stellt sie im Umfang eines mittleren Taschenbuchs dar, wie die diskutierten Formen sich verschlingen, gegenseitig fördern oder behindern, also „artikuliert“ (Laclau-Mouffe) existieren und sinnvoll nur in ihrer gemeinsamen Wirksamkeit betrachtet werden können.

Genauso artikuliert sollten sie das Angriffsziel gesellschaftlicher Emanzipation sein, wird man – vermutlich ganz im Sinne der Autorin – hinzufügen können. Selektiv gegen Herrschaft vorzugehen lässt die Hydra unversehrt. Ihre abgeschlagenen Köpfe wachsen – in neuer Form vielleicht – nach. Habermann illustriert diesbezüglich anschaulich und ausführlich, wie im Ergebnis der bürgerlichen „Freiheit und Gleichheit“ der weißen Männer in Frankreich und Amerika die Lage der Frauen und „Farbigen“ bedeutend schlimmer war als zuvor. Inzwischen, so ist hier anzumerken, entpuppen sich auch die neuen bürgerlichen Herren „bloß“ als hochprivilegierte Büttel eines ungemein destruktiven Systemzwangs. Doch auch wenn dieser an den inneren Widersprüchen und am Widerstand der Menschen gegen die wachsenden Zumutungen sowie die sozialen und ökologischen Katastrophen zerbräche, wäre das allein noch keineswegs die Garantie einer besseren Welt.

Ein Dilemma, das Habermann selbst benennt, sei noch angedeutet: Die von ihr analysierten Herrschaftsverhältnisse sind keineswegs die Einzigen. Sie selbst erwähnt u.a. „ageism“, die Diskriminierung der „unnützen“ Alten, die – wie vieles, das früher unter den doppelbödigen Begriff Fürsorge fiel – meist nicht einmal wahrgenommen wird. Alle diese Formen gehen ein in das vielfältig „artikulierte“ Institut der Herrschaft. Sie alle in eine Analyse einzubeziehen, ist einerseits unmöglich, andererseits aber können Auslassungen nicht ohne Auswirkung auf Erkenntnis und Emanzipation bleiben.

Der homo oeconomicus und die Emanzipation

In der europäischen Aufklärung beginnt sich der weiße, heterosexuelle Mann theoretisch und praktisch als Bourgeois und Citoyen zu konstituieren, indem andere Menschen als nicht-weiß, nicht-heterosexuell, nicht-männlich „erfunden“, identifiziert und ausgeschlossen werden. Mit der sich ausbreitenden kapitalistischen Logik entsteht im rationalen, nach Kosten und Nutzen kalkulierenden homo oeconomicus über Jahrhunderte ein neues hegemoniales Leitbild artikulierter Herrschaftsformen, wie Habermann ausführlich und überzeugend darlegt. Ursprünglich das Modell eines bürgerlichen Mannes, insofern er wirtschaftlich tätig war, ist er heute zum Inbegriff und Leitbild des Menschen überhaupt geworden.

Dieses europäisch-männliche Ideal ist mittlerweile allerdings durch die Kämpfe um Emanzipation auch für die weiblichen, „farbigen“, schwulen etc. Identitäten offen, die durch den Ausschluss aus der hegemonischen Identität des „white heterosexual able-bodied man“ (wham) quasi erst erzeugt wurden. Da diese Entwicklung aber im Horizont von Herrschaft bleibt, entstehen daraus Paradoxien. Einerseits z.B. neuerlich aggressive Diskurse und Politiken eines biologisch-natürlichen Ausschlusses, andererseits Ansprüche, Eigenschaften zu verkörpern, die von einem Individuum selbst dann kaum einzulösen sind, wenn es den Startvorteil, ein „wham“ zu sein, mitbringt. Wobei noch hinzuzufügen wäre, dass diese Quasi-Virtualisierung und -Demokratisierung des Anforderungsprofils mit sich nunmehr seit Jahrzehnten verschärfenden Ansprüchen der Arbeit und Konkurrenz auf bald allen irgendwie ökonomisierbaren Gebieten des Lebens einhergehen. Denen können immer mehr Menschen in den „reichen Ländern“ nur noch mit Psychopharmaka beikommen, während die am desperatesten entschlossenen homines oeconomici der pauperisierten Mehrheit der Menschheit mit zunehmender, rassistischer Polizei- und Militärgewalt von dieser „paradiesischen“ Existenzweise ferngehalten werden.

Im ungemein dichten Schlussteil kommt Habermann in den „Perspektiven für eine emanzipatorische Politik“ zur Frage, was Unterdrückte hindern sollte, im Kampf gegen Hegemonie selbst „als Gruppe hegemonial werden zu wollen“, zugespitzt: faschistisch zu agieren statt emanzipatorisch, Sozialismus für die Nation drinnen und scharfer Schuss nach draußen. Sie beantwortet die Frage nicht, sondern wirbt mit einer potentiellen Anthropologie für eine mögliche menschliche Praxis. Als das autonome, selbstidentische Subjekt der europäischen Moderne bleiben wir von den Anderen getrennt, gegeneinander gesetzt, unterdrückt und Unterdrücker. Zu freundlichen Beziehungen zu Mensch und Welt können wir gelangen, wenn wir „bedingungslose und nicht auf Austausch gerichtete Verantwortung gegenüber dem Anderen“ akzeptieren, nicht nur den Subjekten, auch den Objekten gegenüber.

Der Großteil der Menschheit ist jedoch in den Kampf um und gegen den hegemonialen Konsens gar nicht eingebunden, sondern aus allen diesen Diskursen und Sprechweisen ausgeschlossen, schlicht „subaltern“, im Bereich der Hegemonie nicht gehört und nicht verständlich. Befreiung brauche den Brückenschlag dorthin, die Lern-Bereitschaft der kritischen, selbst beherrschten Teilhaber an der metropolitanen Hegemonie, „Privilegien zu verlernen“, um in einen herrschaftsfreien Dialog zu kommen, „neuartige Gedanken zwischen uns entstehen“ zu lassen, die weder uns noch den Anderen gehören. Eine emanzipatorische Art von Theorie eben, ohne genialen Autor und sein Copyright, auf dem Weg zur praktischen Befreiung. Bloß: Man braucht dazu nicht erst unbedingt den Nabel der Welt zu verlassen, die Unsichtbaren, Unhörbaren, Marginalisierten gibt es auch hier. Auch ohne diese gibt es keine Emanzipation, bloß eine „andere Welt“ der Checker, die wissen, wo die Loser – „zu ihrem eignen Besten“ natürlich – langzugehen haben.

Ganz zu Recht weist Habermann schließlich auch auf die Bedeutung autonomer Räume, virtueller wie physisch-geographischer, hin. „Jede Subversion eines hegemonialen Raums hängt von den Ressourcen marginalisierter Räume ab, und die Verteidigung der Möglichkeiten, die durch Subversion eröffnet werden, hängt ihrerseits von der Konstruktion und Stärkung alternativer Räume ab.“ Freilich bleiben wir gespalten, weil die Herrschaft und ihre Leitbilder auch in uns sind. Und weil jeder Widerstand auch die alten Methoden braucht. Aber widersprüchlich bleibt es auch, wenn wir uns dem Status quo ergeben. Foucault hat m.E. zu Recht in der Herrschaft das institutionelle Einfrieren und Monopolisieren der Macht gesehen, die unter den Menschen stets im Fluss die eine über den anderen und umgekehrt und durcheinander hat. Emanzipation ist so besehen ein Tauwetter. Analog steht es wohl mit den Identitäten und dem Bestreben sie zu „queeren“, ihre Starrheit aufzubrechen im Spiel alternativer Plätze und Gelegenheiten, in den Möglichkeiten des Alltags, die wir doch auch den Bemühungen früherer Menschen um Freiheit verdanken. Wir wissen nicht, wie viel wir ausrichten werden. Aber alles, was wir tun, wirkt auch auf die andern, die noch nach uns da sind. Ich kenne etliche davon, die ich liebe. Das überschreitet die Grenzen der Textsorte, aber das tut Habermanns Buch mit den seinen auch.

Friederike Habermann: Der homo oeconomicus und das Andere. Hegemonie, Identität und Emanzipation, Nomos Verlag, Baden-Baden 2008, 320 Seiten, ca. 44 Euro.

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