Grundrisse, Nummer 18
Juni
2006

Workfare, German-Style

Ein Interview mit Mag Wompel zu Hartz IV, Ein-Euro-Jobs und der Kampagne Agenturschluss

Konzentriert auf ihre arbeitsmarktregulatorische Essenz ließe sich die Funktion von Workfare-Politiken mit dem britischen Theoretiker Jamie Peck dahingehend resümieren, dass es bei ihnen weniger um die Schaffung von Jobs für Menschen geht, die keine Arbeit haben, denn vielmehr um die “Schaffung” von ArbeiterInnen für Jobs, die niemand will. Deshalb kann Workfare auch als eine Art sozialpolitisches Gegenstück zur Prekarisierung von Arbeit betrachtet werden. Der Begriff selbst steht dabei für die Doppelstrategie, zum einen durch vielfältige Maßnahmen (Reduktion von Transferzahlungen, Erhöhung der Zumutbarkeitskriterien usw.) den Druck auf Erwerbslose zur Aufnahme einer Lohnarbeit zu intensivieren und sie zum anderen bei drohendem Verlust ihrer Bezüge zur Teilnahme an so genannten Beschäftigungs- oder Qualifizierungsmaßnahmen zu verpflichten. Der in fortschreitendem Maße wieder unabgefedert sich entfaltende stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse wird im Zusammenhang mit Workfare also sozusagen mit ganz und gar nicht “stummen”, außerökonomischen Zwangsmechanismen kombiniert.

Zeitgleich mit der Ausbreitung von unsicheren und miserabel entlohnten, eben prekären Arbeitsverhältnissen konnte in den letzten Jahren und Jahrzehnten v.a. in Europa und den USA auch die Etablierung “beschäftigungszentrierter Sozialpolitiken” dieser Art beobachtet werden. In Deutschland wurde ein solcher Kurs zuletzt etwa mit dem 4. der so genannten Hartz-Gesetz vorangetrieben, welches am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist. Mit der dadurch vollzogenen Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II (Alg II) einher ging auch die Einführung der “1-Euro-Jobs”. Die damit bezeichneten Maßnahmen haben zwar eine lange Vorgeschichte in der deutschen Sozialhilfegesetzgebung, ihre mit Hartz IV durchgeführte Reformierung bringt jedoch einige grundsätzliche Veränderungen mit sich.

Ein Interview mit der Journalistin und Industriesoziologin Mag Wompel von LabourNet Germany, dem virtuellen Treffpunkt für Ungehorsame mit und ohne Job, zu Hartz IV, 1-Euro-Jobs und der Kampagne Agenturschluss.

Wie würde ein Zwischenresümee nach einem Jahr verschärftem Arbeitszwang im deutschen Sozialstaat und insbesondere in Bezug auf die so genannten ”1-Euro-Jobs” aus deiner Perspektive ausfallen?

Ging es nach der alten rot-grünen Bundesregierung, so sollten mit Hartz IV rund 20% aller Langzeiterwerbslosen in so genannten 1-Euro-Jobs arbeiten. Ende November 2005 gab es ca. 255.000 davon, aktuell gehen wir von ca. 300.000 aus.

Dabei handelt es sich um ”Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung” (MAE) von eben einem Euro bis 1,50 Euro pro Stunde zusätzlich zum neuen Alg II. Mehraufwandsentschädigung bedeutet, dass es sich um keinen Lohn handelt, weil auch kein Arbeitsverhältnis und damit kein Anspruch auf Übernahme, Urlaubsgeld oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall entsteht. Kein Arbeitsverhältnis, keine Arbeitsrechte.

Bei Weigerung einen solchen Job anzunehmen, droht zunächst die Kürzung der Regelleistung von 345 Euro um 30% für drei Monate und bei wiederholter Ablehnung um 60%. Jugendlichen unter 25 wird für diese Zeit das Alg II komplett gestrichen. Doch während einige versuchen gegen diese Zwangsdienste zu klagen, suchen viele aktiv nach solchen Jobs – einfach weil die Grundsicherung vorne und hinten nicht ausreicht.

Während die Erwerbslosen max. 1,50 Euro je Stunde bekommen, erhalten ihre ”Arbeitgeber” ca. 350 Euro je Monat für Verwaltungskosten und den laut Gesetz mit diesen Jobs verbundenen Qualifizierungsanteil. Dieser ”Aufpreis” führte zur massenhaften Nachfrage bei den Beschäftigungsträgern und oft auch zur ”Weiterverleihung” dieser Billigkräfte an Wohlfahrtsverbände, Schulen, Kirchengemeinden und weitere Einrichtungen des sozialen Hilfesystems, meist an Arbeitsplätze, die zuvor aus Sparmaßnahmen gekündigt wurden. Doch von Qualifizierung kann in den seltensten Fällen die Rede sein, zumal die meisten JobberInnen bereits Fachkräfte sind.

Dies entspricht der Intention der neuen ”Beschäftigungspolitik”, nicht Qualifikationen zu erhalten und auszubauen, sondern diese zu testen und zu vernutzen; nicht in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, sondern die Arbeitslosenstatistik wie auch die Leistungen zu minimieren.

Laut Gesetz müssen die unter dem Titel ”1-Euro-Jobs” geschaffenen ”Arbeitsgelegenheiten” einerseits ”im öffentlichen Interesse” und andererseits ”zusätzlich” sein. Wie steht es deinen Erfahrungen zufolge um die vorgeschriebene ”Gemeinnützigkeit” und ”Zusätzlichkeit” dieser ”Jobs”? Ist der vielfach befürchtete Effekt der Substitution regulärer Arbeitsverhältnisse eingetreten?

Bei den Arbeiten, die den Erwerbslosen im Rahmen von 1-Euro-Jobs nach § 16, Abs. 3 des neuen Zweiten Sozialgesetzbuches SGB II zugewiesen werden, muss es sich um ”zusätzliche” handeln, also um Arbeiten, die sonst nicht, nicht in diesem Umfang oder nicht zu diesem Zeitpunkt verrichtet würden. Für den Einsatz von 1-Euro-Arbeitskräften in den Kommunen bedeutet das: Es reicht laut Gesetz eigentlich nicht, wenn eine Kommune mit Hinweis auf bestehende finanzielle Engpässe pauschal erklärt, die von den 1-Euro-Kräften ausgeführten Arbeiten würden sonst nicht oder nicht in diesem Umfang durchgeführt. Entsprechendes gilt für die Zuweisung einer 1-Euro-Kraft an einen freien Träger. Mit Blick auf die Arbeit in Pflegeheimen oder Krankenhäusern gilt ebenfalls, dass insbesondere alle Arbeiten, die notwendig werden, um die Anforderungen der Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen oder auch Hygienevorschriften zu erfüllen, notwendige und damit nicht zusätzliche Arbeiten sind. Auch können nach § 16 Abs. 3 Satz 2 SGB II nur solche Arbeiten im Rahmen von 1-Euro-Jobs zugewiesen werden, die ”im öffentlichen Interesse liegen”.

Genau diese Vorgaben werden aber in den meisten Fällen verletzt. Die Zusätzlichkeit wird tagtäglich durch kommunale Sparmaßnahmen und (selbst geschaffene) Sparzwänge aufs Neue produziert mit jeder Entlassung und jeder geschlossenen Einrichtung. An Schulen arbeiten z.B. viele erwerbslose Lehrer als 1-Euro-Betreuung und Hausaufgabenhilfen. Viele entlassene PflegerInnen landen nach einem Jahr im gleichen Job – nur rechtlos und unbezahlt. Gleiches gilt für das Gebot der Gemeinnützigkeit, die immer weiter gefasst wird, z.B. bis hin zu Aufgaben der Sicherheit im (privatisierten!) Öffentlichen Personennahverkehr.

1-Euro-Arbeitsgelegenheiten sind damit offensichtlich ein arbeitsmarktpolitischer Unsinn. Sie deregulieren Arbeitsverhältnisse, sie ruinieren die Standards des sozialen Hilfesystems und sie ersetzen bereits reguläre Arbeitsverhältnisse bis in den Fachkräftebereich.

Neben dem postulierten Ziel der (Re-)Integration von Erwerbslosen in den ersten Arbeitsmarkt scheinen die Workfare-Maßnahmen in Deutschland von ihren ”ErfinderInnen” ja in erster Linie als fiskalpolitisches Instrument entwickelt worden zu sein. Mittels des Prinzips des ”(Über-)Forderns und (Hinausbe-)Förderns” (D. Fetzer) sollen zwecks Entlastung der öffentlichen Haushalte möglichst viele Alg II-BezieherInnen aus dem Bezug gedrängt werden. Kann man schon sagen, wie ”erfolgreich” Hartz IV in diesem Zusammenhang ist?

Das Einsparungspotential der Hartz-Gesetze liegt auf mehreren Ebenen:

  1. Grundsätzliche Abschreckung vor Antragstellung (Entwürdigung und Erniedrigung; umfangreicher Antragsbogen; fehlerhafte Bescheide) bis hin zu Sperren bereits bei der verspäteten Antragsstellung,
  2. Zahlungsverzögerungen, offensive Nutzung von Sperren und kreative Herausforderung von Sperr-Gründen der Leistung (kurzfristige Vorladungen, Alkoholtests, Hausbesuche und telefonische Kontrollen etc.),
  3. mittelfristige Absenkung von Alg I und v.a. Alg II durch Angebot des Zuverdienstes im 1-Euro-Job- und Niedriglohnbereich,
  4. langfristige Lohnsenkung in allen Wirtschaftsbereichen durch Lohndumping der Maßnahmen, die wiederum eine Absenkung der Grundsicherung rechtfertigt (Lohnabstandsgebot)

Allein die Einsparungen durch Sperrzeiten des Leistungsbezugs lagen bereits 2004 und 2005 in Millionenhöhe.

Immer wieder wurden im letzten Jahr auch Fälle von „1-Euro-Jobs“ publik, bei denen Erwerbslose zum völligen Selbstzweck – also losgelöst vom kapitalistischen Verwertungsprozess – mit unsinnigen Tätigkeiten schikaniert wurden. [1] Inwiefern dienen die mit den Hartz-Gesetzen eingeführten Workfare-Maßnahmen – wie in den genannten Fällen – ausschließlich dem Zweck der „Erziehung“/Disziplinierung?

Schon immer dienten Trainingsmaßnahmen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), Praktika etc. auch zum Testen der Arbeitswilligkeit oder zur Disziplinierung „aufmüpfiger“ Erwerbsloser. Mit den 1-Euro-Jobs besteht nun die Möglichkeit, diese Ziele mit handfesten wirtschaftlichen Vorteilen zu Verknüpfen. Doch angesichts der durch die Arbeitsagenturen ungeprüften Durchführung dieser Maßnahmen bleibt es den Beschäftigungsträgern überlassen, ob sie für die beantragten und bewilligten 1-Euro-Jobs Einsatzmöglichkeiten und damit Zusatzprofite suchen oder sich mit der Aufwandsentschädigung begnügen und die JobberInnen sich selbst überlassen (und damit nebenbei der Verdrängung regulärer Jobs entgegen wirken).

Es hängt von den Einsatzstellen und der Persönlichkeit der JobberInnen ab, welche der Lösungen ihnen lieber ist, den Job selbst können sie so oder so nur bei Strafe einer Sperre ablehnen.

Workfare-ApologetInnen preisen die von ihnen entwickelten Maßnahmen häufig ziemlich unverblümt als Instrumente einer ”zeitgemäßen Niedriglohnpolitik”. Lassen sich die Hartz-Gesetze auch in Hinblick auf diese Zielsetzung entschlüsseln und wenn ja, welche Auswirkungen hat das auf den Arbeitsmarkt als solchen?

1-Euro-Jobs haben – wie auch der staatliche Verleih über PersonalServiceAgenturen (PSA) [2] – die eindeutige Funktion des Lohndumpings. Sie wirkt sich aber vorrangig im Bereich des Öffentlichen Dienstes aus, in der privaten Wirtschaft ”nur” als Abschreckung vor den Folgen der Erwerbslosigkeit und damit als Anreiz zu weiterem Verzichts auf tarifliche und übertarifliche Standards zur ”Sicherung” des Arbeitsplatzes.

Getrieben vom Wunsch nach weiterer Senkung der Lohnnebenkosten schreien die Arbeitgeber aber weniger nach der Ausweitung von 1-Euro-Jobs auf alle Wirtschaftsbereiche als nach staatlichen Zuschüssen zu Niedriglöhnen in Form von Kombilohn. Die aktuelle Debatte um weitere Senkung der Lohnersatzleistungen für Erwerbslose soll, verbunden mit Erweiterung der Zuverdienstmöglichkeiten, diesem Wunsch den Boden bereiten. Langfristig ist damit zu rechnen, dass staatliche Subventionen zu einem insgesamt abgesunkenen Lohnniveau den Einsatz von 1-Euro-Jobs ablösen werden, denn erstens wäre dies eine breiter angelegte, nicht nur Langzeitarbeitslose betreffende ”Lösung” und zweitens ist der dauerhafte Einsatz von 1-Euro-Jobs zu teuer aus der Sicht eben dieser Lohnnebenkosten.

Wie der Einsatz von ”1-Euro-Jobbern” als StreikbrecherInnen gegen den von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di organisierten Arbeitskampf der Beschäftigten im öffentlichen Dienst Anfang des Jahres einmal mehr gezeigt hat, wird mit Hartz IV der Druck nicht ”bloß” auf Erwerbslose sondern auf die Löhne und Arbeitsbedingungen aller abhängig Beschäftigten erhöht. Wie erklärst du dir die ambivalente Position der Gewerkschaften angesichts dieses Umstands?

Die Ambivalenz der offiziellen Gewerkschaften ist so alt wie die Politik dieser real existierenden Organisationen der Lohnabhängigen. Sozialabbau gibt es seit den 60er Jahren und so lange haben sich die Gewerkschaften nicht darum bemüht, die Lebensbedingungen der Erwerbslosen zu verbessern, und sei es auch nur, um die Erpressbarkeit ihrer ”Klientel” der Stammbelegschaften zu mildern.

Diese Ambivalenz zeigte sich auch im Vorfeld der Hartz-Gesetze, als die Gewerkschaftsvertreter in der Hartz-Kommission einerseits für sich die Vertretung auch der Erwerbslosen beanspruchten, zugleich aber im Konsens den entwürdigenden und schikanösen Gesetzesentwürfen zustimmten.

Diese Ambivalenz ist einerseits in der anhaltenden Fetischisierung der Lohnarbeit als alleiniges Mittel zur Existenzsicherung zu sehen und damit im unbedingten Glauben an die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung als bevorzugtes Gesellschaftsmodell. Andererseits glaubt man sich – Hand in Hand mit Politik und Kapital – der Wettbewerbsfähigkeit des eigenen (nationalen) Standortes verpflichtet. Diese Wettbewerbsfähigkeit sei aber durch zu hohe Löhne und zu hohe Lohnnebenkosten gefährdet …

Innerhalb der deutschen Linken scheint es bei der Einschätzung der Hartz-Gesetze zwei unterschiedliche Positionen zu geben: Sehen die einen darin eine Art ”Paradigmenwechsel”, betonen andere v.a. die Kontinuität des Einsatzes von Zwangsmaßnahmen in der deutschen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, welche zurück reicht bis in die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Wie sieht deine Einschätzung zu dieser Frage aus und hat dies Konsequenzen für die politische Praxis im Widerstand gegen Hartz IV?

Wer in den Hartz-Gesetzen einen Paradigmenwechsel sieht, hat Recht, was die offizielle Philosophie des Sozialstaatsmodells angeht: so hart wurde seit dem 19. Jahrhundert kaum ausgesprochen, dass nur essen kann, wer arbeitet. Doch führt diese dramatische Formulierung dazu, dass oft geglaubt wird, mit Nachbesserungen in einen paradiesischen Zustand zurück zu können, den es aus der Sicht der Erwerbslosen und der SozialhilfeempfängerInnen nie gegeben hat.

Doch die Hartz-Gesetze bestehen nicht nur aus Hartz IV und selbst die Abschaffung aller Hartz-Gesetze ändert nichts an der erniedrigenden Behandlung von Menschen, die vom Kapital als nicht mehr verwertbar angesehen werden.

Nach dem tendenziellen Abflauen der ”Montagsdemonstrationen” im Herbst 2004 wurde vielfach der Eindruck vermittelt, die Zumutungen der Hartz-Gesetze würden seitens der Betroffenen quasi unwidersprochen hingenommen. Wie stand und steht es um den Widerstand der Erwerbslosen selbst sowie anderer sozialer Gruppen vor allem im Kampf gegen Hartz IV?

Der Kampf gegen die Hartz-Gesetze findet tagtäglich statt, wenn auch v.a. individuell. Findigkeit und Widerstandspotential sind bei diesen Lebensbedingungen überlebensnotwendig: Sparvermögen werden aufgelöst, Bedarfsgemeinschaften ziehen auseinander, Bewerbungen werden fingiert … [3] Auch die Vielzahl von Klagen gegen die Bescheide oder Zuweisungen von 1-Euro-Jobs beweisen den aktiven Widerstand. Zugegeben, relativ wenige wehren sich politisch, und sei es mit der Beteiligung an unseren Befragungsaktionen. Not täte alltäglicher und politischer Widerstand, denn angesichts ständiger Verschärfungen bedarf es mehr, als kurz aufflammender Proteste. Doch Erwerbslosigkeit und Armut sind heutzutage stressiger als mancher Job…

Mit der Kampagne ”Agenturschluss” wurde versucht, den Widerstand gegen Hartz IV bundesweit zu vernetzen und auch nach dem Abflauen der ersten Protestwelle fortzuführen. Wie würde eine Zwischenbilanz zur Kampagne aus deiner Perspektive ausfallen?

Agenturschluss ist eine bundesweite Initiative aus Erwerbsloseninitiativen, autonomen Gruppen und Teilen der Gewerkschaftslinken. Erstes Ziel war die ”Agenturschluss” am 3.1.2005, also in möglichst vielen Städten den Betrieb der Arbeitsagenturen an diesem ersten Tag der ”Gültigkeit” von Hartz IV lahm zu legen. Mit der Schließung sollten sich Betroffene und (noch) Nicht-Betroffene gegen die Verarmungs- und Disziplinierungsoffensive der Bundesregierung und gegen die Umsetzung dieses sozialen Angriffs durch die Arbeitsagenturen und Jobcenter wenden. Während der Belagerung der Behörde sollten die AktivistInnen ”vor Ort” über Widerstand und Perspektiven jenseits des Zwangs zur Arbeit beraten. Dies hat mehr oder weniger intensiv in ca. 70 Städten stattgefunden.

Gleichzeitig sollten die Beschäftigten der Arbeitsagentur explizit mit einbezogen werden. In einem Schreiben an die MitarbeiterInnen erinnerten wir an deren persönliche Verantwortung und ermutigten die MitarbeiterInnen, die sich intern ebenfalls gegen die entwürdigende Verfolgungsbetreuung zur Wehr setzen. Auch wenn wir deshalb aus den Gewerkschaftsvorständen scharf angegriffen wurden, gab es innerhalb der Agenturen und auch innerhalb von ver.di eine durchaus kontroverse Debatte über die Rolle der Fallmanager und Sachbearbeiter.

Mit der Einführung der 1-Euro-Jobs eröffnete sich ein neues Handlungsfeld. Wir bemühten uns und tun es immer noch:

  1. Über diese Jobs und Abwehrmöglichkeiten aufzuklären
  2. Informationen über die Umsetzung zu sammeln (Fragebogenaktion, Liste der Anbieter)
  3. Anprangerung der Nutznießer in der Erwerbslosenindustrie (”Schwarze Schafe”)
  4. Ein Euro-Job-Spaziergänge als Kombination aus Protest, Einbindung und Aufklärung
Bereits die Koalitionsvereinbarung der neuen Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD lässt eine weitere Verschärfung des sozialen Angriffs befürchten. Aber auch der Widerstand dagegen scheint noch keinesfalls am Ende. Welche Zukunftsszenarien scheinen dir realistisch?

Punktuellen Widerstand und tagtägliche Widerständigkeit wird es immer geben – allein um zu Überleben. Doch solange immer nur die letzte Verschärfung für Empörung sorgt und damit die vorletzte indirekt zum Status Quo wird, werden Kapital und Politik so weit gehen, wie sie können und wir sie lassen.

Ein wirklich wirkungsvoller Widerstand nicht nur gegen einzelne Vorhaben, sondern das gesamte dahinter stehende System setzt m.E. mehreres voraus:

  1. Tagtäglicher Widerstand gegen die Zumutungen von Behörden und Arbeitgeber sowie solidarische gegenseitige Unterstützung dieser Widerständigkeit.
  2. Kollektive Verweigerung der Durchführenden dieser unmenschlichen Gesetze solidarisch mit den Erwerbslosen.
  3. Abkehr vom Fetisch der Lohnarbeit und der Arbeitsgesellschaft.
  4. Forderung nach komfortablen bedingungslosen Grundeinkommen, gesetzlichen Mindestlohn und einer radikalen Arbeitszeitverkürzung (mit Personal- und Lohnausgleich) durch (noch) Erwerbstätige und Erwerbslose.
  5. Suche nach langfristigen Alternativen für die kapitalistischen Formen der Existenzsicherung, individueller Anerkennung und Vergesellschaftung.

Buchtipps:

  • AGENTURSCHLUSS (Hrsg.): Schwarzbuch Hartz IV. Sozialer Angriff und Widerstand – eine Zwischenbilanz. Berlin/Hamburg: Assoziation A 2006
  • FALZ / Frankfurter Arbeitslosenzentrum (Hrsg.): Arbeitsdienst – wieder salonfähig! Autoritärer Staat, Arbeitszwang und Widerstand. Frankfurt/M.: Fachhochschulverlag 2005

Link:

http://www.labournet.de/agenturschluss

[1Bekanntestes Beispiel ist wohl die Beschäftigungsgesellschaft „Hamburger Arbeit“, wo 1-Euro-JobberInnen dazu verpflichtet wurden, Wände aufzubauen, um sie nach Fertigstellung wieder abreißen zu lassen, Böden zu schrubben, um sie nach getaner Arbeit erneut zu verdrecken, Teppiche in kleine Teile zu zerschneiden, um sie alsdann in den Müll zu werfen usw.

[2Bei den bereits Mitte des Jahres 2003 im Rahmen der Hartz-Gesetze eingeführten PersonalServiceAgenturen (PSA) handelt es sich um in die Arbeitsämter integrierte, also staatliche Leiharbeitsagenturen. Mittels der PSAs sollte es gelingen, innerhalb eines Zeitrahmens von drei Jahren bis zu 500.000 Erwerbslose für befristete Arbeitseinsätze an Dritte (zwangs-) zu vermitteln. Im Laufe des Jahres 2004 waren 57.800 Personen bei solchen Leihagenturen.

[3Beim Alg II handelt es sich um eine steuerfinanzierte, bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung für als ”erwerbsfähig” geltende Erwerbslose, die länger als maximal 12 Monate (bei Erwerbslosen über 55 Jahren: 18 Monate) als arbeitslos registriert sind. Dabei wurden nicht bloß die ”Anspruchsvoraussetzungen” (jede Arbeit gilt nunmehr als ”zumutbar”), sondern auch die ”Bedürftigkeitskriterien” verschärft. So werden etwa Sparvermögen der AntragstellerInnen ebenso in die Bedürftigkeitsprüfung miteinbezogen, wie das Einkommen von PartnerInnen oder anderen Mitgliedern der ”Bedarfsgemeinschaft”. Als ”Bedarfsgemeinschaft” gelten dabei eheliche und so genannte ”eheähnliche Gemeinschaften”, wobei von den Ämtern häufig bereits der Umstand des Zusammenwohnens von einem Mann und einer Frau als Indiz für das Bestehen einer solchen herangezogen wird.

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