Grundrisse, Nummer 8
Dezember
2003

Zwei Fabeln von Don Durito

Tief in der Höhle der Begierde

17. März 1995

Aus dem kleinen Kassettenrecorder hörte ich dieses Lied von Stephen Stills, vom Album Four Way Street, in dem es heißt –

Find the cost of freedom,
buried in the ground.
 
Mother Earth will swallow you,
 
lay your body down ...

– als mein anderes Selbst angelaufen kommt und mir mitteilt:

„Sieht aus, als würdest du bekommen, was du verdienst ...“

„Ist die PRI schon gefallen?“ frage ich hoffend.

„Nein, Mann! ... Sie haben dich getötet“, sagt mein anderes Selbst.

„Mich! Wann?“ frage ich, derweil ich mein Gedächtnis durchforste, wo ich war und was ich getan habe.

„Heute, in einer Konfrontation ... aber sie sagen nicht genau, wo“, antwortet es.

„Oh, gut! ... Und endete ich schwer verletzt oder wirklich tot?“ beharre ich.

„Wirklich tot ... so heißt es in den Nachrichten“, erklärt mein anderes Selbst und verschwindet.

Ein narzißtisches Schluchzen wetteifert mit den Grillen.

„Warum weinst du?“ fragt Durito, als er seine Pfeife entfacht.

„Weil ich meinem Begräbnis nicht beiwohnen kann. Ich, der ich mich so sehr liebte ...“

... und so ist hier, was El Sup und Durito am zwölften Tag des Rückzugs zustieß, was von den Mysterien der Höhle der Begierde erzählt und von anderen unglücklichen Ereignissen, über die wir heute lachen, die damals aber sogar unseren Hunger stahlen.

„Was, wenn sie uns bombardieren?“ fragte Durito am frühen Morgen des zwölften Tages unseres Rückzugs. („Das war kein Rückzug! Es war pure Flucht!“ sagt Durito.) Es ist kalt, und im Dunkeln leckt ein grauer Wind mit seiner eisigen Zunge Bäume und Erde. Ich schlafe nicht; die Einsamkeit läßt die Kälte doppelt schmerzen. Dennoch bleibe ich ruhig. Durito kommt unter dem Blatt hervor, das er als Decke verwendet, und klettert auf mich. Um mich zu wecken, beginnt er meine Nase zu kitzeln. Ich niese so gründlich, daß Durito über sich selbst auf meine Stiefel purzelt. Er erholt sich und macht sich auf den Weg zurück zu meinem Gesicht.

„Was ist?“ frage ich, bevor er mich wieder kitzelt.

„Was, wenn sie uns bombardieren?“ beharrt er.

„Ja ... gut ... gut ... wir werden nach einer Höhle suchen, oder etwas Ähnlichem, um uns zu verstecken ... oder wir werden in ein Loch kriechen ... wir werden schon sehen, was zu tun ist“, sage ich verärgert und mit einem Blick auf meine Uhr, um anzudeuten, daß es nicht die rechte Zeit ist, sich um Bombardierungen zu sorgen.

„Ich werde keine Probleme haben. Ich passe überall hin. Aber du, mit diesen riesigen Stiefeln und dieser Nase ... Ich bezweifle, daß du einen sicheren Platz findest“, sagt Durito, als er sich erneut mit einem kleinen huapac Blatt bedeckt.

Die Psychologie des Terrors, denke ich, unter Berücksichtigung Duritos augenscheinlicher Indifferenz unserem Schicksal gegenüber ... Unser Schicksal? Er hat Recht! Er wird keine Probleme haben, aber ich ... Ich denke nach. Ich stehe auf und sage zu Durito:

„Psst ... Psst ... Durito!“

„Ich schlafe“, sagt er unter seinem Blatt.

Ich kümmere mich nicht um seinen Schlaf und beginne mit ihm zu reden: „Gestern hörte ich Camilo und mein anderes Selbst sagen, daß es hier viele Höhlen ringsum gibt. Camilo sagt, er kennt die meisten davon. Da gibt es kleine, wo gerade ein Gürteltier hineinpaßt. Und dann gibt es welche so groß wie Kirchen. Aber er sagt, es gibt eine, die darf niemand betreten. Er meint, es gäbe eine häßliche Geschichte über die Höhle, die sie die Höhle der Begierde nennen.“

Durito scheint aufzuhorchen; seine Leidenschaft für Detektivromane ist sein Untergang.

„Und was ist die Geschichte der Höhle?“

„Naja ... es ist eine sehr lange Geschichte. Ich habe sie selbst gehört, aber das ist Jahre her ... Ich kann mich nicht mehr sehr gut an sie erinnern“, sage ich, um Interesse zu wecken.

„Schön, weiter, erzähl mir die Geschichte“, sagt Durito, immer neugieriger.

Ich zünde meine Pfeife an. Aus dem aromatischen Rauch steigt die Erinnerung auf, und mit ihr ...

Die Höhle der Begierde

„Es geschah vor vielen Jahren. Es ist die Geschichte einer Liebe, die nicht war, die unerfüllt blieb. Es ist eine traurige Geschichte ... und schrecklich“, sagt El Sup, seitlich sitzend, seine Pfeife im Mundwinkel. Er zündet sie an; den Berg betrachtend, fährt er fort:

„Ein Mann kam von weither. Er kam, oder er war schon da. Keiner weiß es. Es war in einer lang vergangenen Zeit, und wie immer sie auch gewesen sein mag, in diesen Ländern lebten und starben die Menschen auf die gleiche Weise, ohne Hoffnung und vergessen. Niemand weiß, ob dieser Mann alt war oder jung. Zuerst hatten ihn nur ein paar Menschen gesehen. Sie sagen, daß war deswegen, weil dieser Mann extrem häßlich war. Sein bloßer Anblick rief Furcht bei Männern und Ekel bei Frauen hervor. Was war es, das ihn so widerlich machte? Ich weiß nicht – die Konzepte von Schönheit und Häßlichkeit ändern sich dermaßen von einer Zeit zur anderen und von einer Kultur zur anderen ... In diesem Fall mieden ihn die Eingeborenen dieses Landes, wie ihn die Ausländer mieden, die das Land, die Menschen und deren Schicksale besaßen. Die indigenen Menschen nannten ihn Jolmash oder Affen-Gesicht; die Ausländer nannten ihn Das Tier.

Der Mann ging in die Berge, fernab aller Blicken, und ließ sich zur Arbeit nieder. Er baute sich ein kleines Haus, neben einer der vielen Höhlen, die dort zu finden waren. Er machte das Land fruchtbar, pflanzte Korn und Weizen und jagte Tiere im Wald. Er hatte genug, um durchzukommen. Immer wieder stieg er zu einem Fluß nahe den Siedlungen hinab. Dort hatte er mit einem der älteren Mitglieder der Gemeinschaft ausgemacht, Salz, Zucker und was alles noch er, der Jolmash, nicht in den Bergen bekommen konnte, gegen Korn und Tierfelle zu tauschen. Der Jolmash kam zu jener Stunde an den Fluß, da sich der Nachmittag zu verdunkeln begann, als die Schatten der Bäume Nacht über die Erde brachten. Der alte Mann hatte eine Augenkrankheit und sah schlecht, so daß er, der Dämmerung und seiner Krankheit wegen, nicht das Gesicht des Mannes erkennen konnte, das so viel Ekel bei Tageslicht erregte.

Eines Abends kam der alte Mann nicht. Der Jolmash dachte, die Stunde verwechselt zu haben und angekommen zu sein, nachdem der alte Mann schon wieder nachhause gegangen war. Um ihn nicht zu versäumen, mußte er das nächste Mal früher kommen. Die Sonne hatte noch ein paar Fingerlängen zu gehen, bevor sie sich mit den Bergen bedecken würde, als der Jolmash in die Nähe des Flusses kam. Als er sich näherte, schwoll ein Geraune aus Lachen und Stimmen an. Der Jolmash verlangsamte seine Schritte und kam leise näher. Inmitten von Zweigen und Reben fand er einen Tümpel, den die Wasser des Flusses geformt hatten. Dort badete eine Gruppe von Frauen und wusch Kleider. Sie lachten. Der Jolmash sah ruhig weiter. Sein Herz wurde ganz Augen, seine Stimme zum Blick. Lange nachdem die Frauen gegangen waren, stand der Jolmash noch immer da, schauend ... Die Sterne regneten auf die Felder, als er in die Berge zurückkehrte.

Ich weiß nicht, ob es von dem rührte, was er sah, oder von dem, was er zu sehen glaubte, ob das Bild, das sich in seine Netzhaut eingebrannt hatte, der Realität entsprach, oder es einfach in seiner Begierde existierte, aber der Jolmash verliebte sich, oder glaubte, sich verliebt zu haben. Und seine Liebe war nichts idealisiertes oder platonisches. Nein, sie war ziemlich erdig. Die Gefühle, die er mit sich trug, waren wie der Ruf einer Kriegstrommel, wie ein Blitz, aus dem starker Regen wird. Leidenschaft ergriff seine Hand, und der Jolmash begann Briefe zu schreiben, Liebesbriefe, das geschrieben Delirium, das seine Hände füllte. Und er schrieb Dinge wie:

Oh, meine Dame, glitzernd, feucht! Meine Begierde wird zum stolz hervorspringenden Colt. Mein Hunger, ein Schwert Tausender Spiegel, verlangt nach Eurem Körper; vergebens, dies doppelt scharfe Verlangen zerreißt die tausend Seufzer, die da den Wind reiten. Eine Gnade, lange Schlaflosigkeit! Ich bitte Euch um eine Gnade, meine Dame, gescheitertes Verharren in meiner grauen Existenz! Laßt mich an Eurer Schulter ausruh’n. Laßt Eure Ohren meinem unbeholf’nen Schmachten geneigt sein. Laßt meine Begierde Euch sagen, sanft, sehr sanft, was meine Brust beruhigte. Seht nicht, Dame so überhaupt nicht mein, auf das bemitleidenswerte Unheil, das mein Gesicht schmückt! Laßt Eure Ohren zu Eurem Blick werden; gebt Eure Augen auf, um das Geraune zu sehen, das in mir umgeht, im Verlangen nach Euch. Ja, ich wünsche Euch zu betreten und, unter Seufzern, den Pfad der Hände und Lippen und fleischlicher Begierde zu gehen. Ihr mit Eurem feuchten Mund, und ich dürstend danach, mit einem Kuß einzudringen. Am Doppelhügel Eurer Brüste wünsche ich meine Lippen und Finger entlanglaufen zu lassen, um jene Anhäufung von Gestöhn zu wecken, die sich darunter verbirgt. Ich ersehne südwärts zu marschieren und Eure Hüften in warme Umarmung zu sperren, dann die Haut des Bauches zu verbrennen, eine strahlende Sonne, die die von unten gebor’ne Nacht ankündigt. Behutsam und sorgfältig mich in die Wippe zu heben und senken, in der Euer Liebreiz reitet, und deren Drehpunkt verspricht und sich versagt. Um Euch ein Zittern zu schenken, heiß und kalt, und anzukommen, ganz, im feuchten Reizen der Begierde. Um die Wärme meiner Handflächen in der doppelten Wärme von Fleisch und Bewegung einzunisten. Zuerst ein kleiner Schritt, dann ein kleiner Trab. Dann das Fortgaloppieren der Körper, und die Begierde, den Himmel zu erreichen, um dann zusammenzubrechen. Eine Gnade, versproch’ne Müdigkeit! Eine Gnade, um die ich Euch, oh Dame, bitte, Dame des leisen Seufzers! Laßt meinen Kopf auf Eurer Schulter rasten, da bin ich gerettet, und fern davon gehe ich zugrund’.

In einer stürmischen Nacht brannte ein Blitzschlag, wie die Leidenschaft, die seine Hände verbrannte, das kleine Haus des Jolmash nieder. Naß und zitternd flüchtete er in eine nahegelegene Höhle. Mit einer Fackel leuchtete er sich den Weg hinein und fand dort kleine Darstellungen von Pärchen, die gaben und empfingen, das Vergnügen in Stein und Ton gearbeitet. Da war ein Fluß, und da waren kleine Kisten, die, wenn geöffnet, von vergangenen und kommenden Terror und Wundern sprachen. Jetzt konnte oder wollte der Jolmash die Höhle nicht verlassen. Dort spürte er die Leidenschaft einmal mehr seine Hände ergreifen und schrieb, Brücken bauend nach Nirgendwo ...

Und jetzt, geliebte Dame, bin ich ein Pirat, der einen Hafen ersehnt. Morgen ein Soldat im Krieg. Heute ein inmitten der Bäume verlorener Pirat, gestrandet. Das Schiff der Begierde entfaltet seine Segel. Ein dauerhaftes Stöhnen, ganz Zittern und Wollen, führt das Schiff zwischen Ungeheuern und Stürmen. Ein Blitz erhellt das flackernde Meer der Verzweiflung. Verantwortlich ich, übernimmt salzige Feuchtigkeit das Steuer. Reiner Wind, das Wort allein, navigiere ich, Euch unter Seufzen und Gekeuch suchend, suchend den genauen Ort, an den der Körper Euch schickt. Begierde, oh Dame der kommenden Stürme, ist ein irgendwo unter Eurer Haut versteckter Knoten. Ich muß ihn finden und, Flüche murmelnd, lösen. Dann sollen Euer Verlangen, Euer weibliches Schwanken, frei sein, und sie werden Eure Augen und Euren Mund füllen, Euren Schoß und Euren Bauch. Allein frei nur für einen Moment, als meine Hände schon gekommen sind, um sie zu Gefangenen zu machen, um sie in Umarmung mit meinem Körper aufs Meer zu führen. Schiff soll ich sein und atemloses Meer, damit ich Euren Körper betreten darf. Und da soll keine Rast in soviel Sturm sein, wechselhafte Wellen werden unsre Körper umherwerfen. Und ein letzter und wilder Schlag salziger Begierde wird uns an einen Strand spülen, und Schlaf wird kommen. Nun bin ich ein Pirat, Dame des zarten Sturms. Wartet nicht auf meinen Angriff; kommt zu ihm! Laßt das Meer, den Wind und dieses versteinerte Schiff Zeugen sein! Die Höhle der Begierde! Der Horizont bewölkt von schwarzem Wein; jetzt gehen wir ...

So geschah es, sagen sie. Und sie sagen, der Jolmash hat nie wieder die Höhle verlassen. Niemand weiß, ob es die Frau, der er die Briefe schrieb, in Wirklichkeit gab, oder ob sie ein Produkt der Höhle war, der Höhle der Begierde. Was sie sagen, ist, daß der Jolmash noch immer darin lebt, und wer immer ihr nahe kommt, wird von derselben Begierde ergriffen ...

Durito hat der ganzen Geschichte aufmerksam gelauscht. Als er merkt, daß ich fertig bin, sagt er bloß:

„Wir müssen gehen.“

Durito und Pegasus

Der Mond ist eine blasse Mandel. Silberne Bögen verzerren die Umrisse von Bäumen und Pflanzen. Auf den Baumstämmen löchern überängstliche Grillen weiße Blätter, genauso unstet wie die Schatten der Nacht unten. Graue Windböen rühren Bäume und Ängste auf. Durito macht sich ein Bett in meinem Bart. Das Niesen, das er hervorruft, läßt den bewaffneten Gentleman zu Boden rollen. Durito rappelt sich bedächtig zusammen. Zusätzlich zu seiner ohnedies beeindruckenden Körperrüstung plaziert Durito eine halbe cololte Muschel (eine Haselnußart im Lakandonischen Urwald) auf seinem Kopf, zusätzlich hält er eine Arzthaube als Schild. Excalibur umgeschnallt, vervollständigt eine Lanze (die verdächtig nach einer aufgemachten Büroklammer aussieht) seine Amtstracht.

„Was jetzt?“ sage ich, als ich, etwas unnötig, Durito mit meinen Fingern zu helfen versuche. Durito richtet seinen Körper, ich meine, seine Rüstung wieder her. Er zieht Excalibur aus der Schneide, räuspert sich zweimal und sagt mit tiefer Stimme:

„Es ist Morgendämmerung, mein geschlagener Schildknappe! Es ist die Stunde, da die Nacht ihr Gewand zum Gehen anhält, und da der Tag Apollos spitze Mähne formt, damit er auf die Erde starren kann! Es ist die Zeit, da fahrende Ritter auf der Suche nach einem Abenteuer ausreiten, um ihr Ansehen vor dem abwesenden Auge des Mädchens zu steigern, das jene davon abhält, auch nur einen Moment lang die Augen zu schließen, um Vergessen oder Ruhe zu finden!“

Ich gähne und senke meine Augen, um Vergessen und Ruhe zu finden. Das irritiert Durito, und er hebt seine Stimme:

„Wir müssen aufbrechen, um Mädchen zu linken, Witwen aus der Welt zu schaffen, Banditen Obdach zu gewähren und die Notleidenden einzusperren.“

„Klingt nach Regierungsprogramm“, sage ich mit geschlossenen Augen. Durito hat anscheinend keine Lust, ohne mich ganz zu wecken zu gehen.

„Wach auf, Schuft! Vergiß nicht, du mußt deinem Meister folgen, wohin immer Unglück oder Abenteuer ihn führen mag!“

Zu guter Letzt öffne ich meine Augen und starre ihn an. Durito hat mehr von einem aufgebrochenen Armeepanzer, als von einem fahrenden Ritter. Um meine Zweifel zu beseitigen, frage ich ihn: „Und wer genau bist du?“

Durito antwortet, indem er seine, wie er denkt, galanteste Position einnimmt: „Ich bin ein fahrender Ritter, und zwar keiner von denen, deren Namen die Göttin des Ruhmes nie der Aufmerksamkeit würdigte, sie in ihren Denkschriften zu verewigen, sondern ein solcher, der trotz des Neides und der Mißgunst, und allen Magiern in Persien, allen Brahminen in Indien und allen Gymnosophisten in Äthiopien zum Verdruß, sein Denkmal im Tempel der Unsterblichkeit aufstellen wird, um den künftigen Jahrhunderten ein Beispiel und Vorbild zu liefern, an dem fahrende Ritter sehen können, welche Wege sie wandeln müssen, wenn sie die Zinnen und den Gipfel des Waffenruhms erklimmen wollen.“ [1]

„Mir klingt das nach ... nach ...“, beginne ich, aber Durito unterbricht. „Ruhe, unsensibler Bürger! Du wirst beleidigend, wenn du mir sagst, daß der geniale und noble Don Quixote von La Manche meine Reden abkupfert. Und natürlich, wenn wir schon darüber sprechen, sollte ich dir nicht vorenthalten, daß man meint, du vergeudetest Platz in deinen Apostelbriefen. Bibliographische Angaben, ha! Wenn du so weitermachst, endest du wie Galio, [2] der sechs oder sieben Autoren zitiert, um seinen eigenen Zynismus zu verbergen.“

Ich fühlte mich tief getroffen von diesen harten Bemerkungen und entschloß mich, das Thema zu wechseln. „Das Ding an deinem Kopf sieht wie eine cololte Muschel aus.“

„Es ist ein Helm, du Ignorant“, sagt Durito.

„Helm? Sieht wie eine Muschel mit Löchern aus“, beharre ich.

„Cololte, Helm und Heiligenschein. In der Reihenfolge, Sancho“, sagt Durito, derweil er seinen Helm richtet.

„Sancho?“ stottere ich protestierend.

„Schau, hör mit diesem Nörgeln auf und mach dich fertig, damit wir gehen können. Mannigfaltig sind die Ungerechtigkeiten, die mein unermüdlich Schwert richten muß, und seine Schneide ist begierig, die Nacken unabhängiger Gewerkschaften zu spüren.“ Als Durito das sagt, schwingt er sein Schwert wie der Herrscher einer Hauptstadt.

„Ich glaube, du hast in letzter Zeit zuviele Zeitungen gelesen. Gib Acht, sonst treiben sie dich in den Selbstmord“, sage ich ihm, während ich das Aufstehen aufzuschieben versuche. Durito verläßt seine Sechzehntes-Jahrhundert-Sprache für einen Augenblick und erklärt stolz, er habe einen Motor gesichert. Er sagt, dieser sei so schnell wie ein Augustblitz, leise wie der Märzenwind, gelehrig wie der Septemberregen und viele Wunder mehr, an die ich mich nicht erinnere, aber er hatte eines pro Monat. Ich erscheine ungläubig, daher kündigt mir Durito einfach an, er werde mir die Ehre erweisen, seinen Motor zu sehen. Ich bin einverstanden, weil ich rechne, dergestalt ein wenig länger schlafen zu können. Durito verschwindet und braucht dermaßen lange zur Rückkehr, daß ich tatsächlich einschlafe.

Eine Stimme weckt mich: „Da bin ich!“

Es ist Durito, und er sitzt auf dem triftigen Grund seiner Verspätung: einer Schildkröte!

Mit einer Geschwindigkeit, die Durito ernsthaft „eleganten Trab“ nennt, und die mir viel eher umsichtig und langsam vorkommt, nähert er sich mir. Auf seiner Schildkröte sitzend (in Tzeltal nennen sie die coc), blickt mich Durito an und fragt: „Also, wie sehe ich aus?“

Ich starre diesen fahrenden Ritter an, der aus unbekannten Gründen in die Einsamkeit des Lakandonischen Urwaldes verschlagen wurde, und bleibe respektvoll ruhig. Sein Auftritt ist eigenartig. Durito hat seine Schildkröte – entschuldigt: sein Pferd – auf einen anscheinend völlig wahnwitzigen Namen getauft: Pegasus. Damit es auch keinen Zweifel darüber gibt, hat Durito in großen und entschiedenen Buchstaben auf den Schildkrötenpanzer geschrieben: „PEGASUS. Copyright reserved“, und darunter: „Please, fasten your seat belts.“ Ich kann kaum dem verführerischen Vergleich mit ökonomischen Erholungsprogrammen widerstehen, während Durito seinen Motor umdreht, damit ich die andere Seite sehen kann. Obwohl Durito eine „schwindelnde Drehung“ seines Pferdes angekündigt hatte, läßt sich Pegasus Zeit und dreht sich langsam. Die Schildkröte tut das derart langsam, man könnte meinen, sie befürchte Schwindelgefühle. Nach ein paar Minuten kann man auf Pegasus’ linker Flanke „Raucher“ lesen, „Gewerkschaftscowboys nicht zugelassen“, „Freie Werbefläche. Für Informationen kontaktieren Sie Duritos Verlagsgesellschaft“. Ich kann nicht viel freie Fläche ausmachen; die Werbung erstreckt sich über Pegasus’ gesamte linke Flanke und Rückseite.

Nachdem ich Duritos Ultra-mini-mikro-Unternehmensvision gepriesen habe – der einzige Weg, um die Fehler des Neoliberalismus und der NAFTA zu überleben –, frage ich ihn: „Also, wohin führt Euch Eure Bestimmung?“

„Sei kein Clown. Diese Sprache gehört einzig den Edelmännern und Lords, nicht den Vagabunden und Bürgern, die, wäre da nicht mein unendliches Erbarmen, mit ihren leeren Leben fortfahren würden und niemals auch nur in der Lage wären, von den Geheimnissen und Wundern des fahrenden Rittertums zu träumen“, antwortet Durito, während er Pegasus, der aus unerforschlichen Gründen ungeduldig weiter will, zurückhält.

„Mir scheint, daß ich für zwei Uhr früh genug gescholten wurde“, teile ich Durito mit. „Wo immer du hingehen magst, du wirst alleine gehen. Ich werde heute Nacht nicht ausgehen. Camilo fand gestern Tigerspuren ganz in der Nähe.“

Offensichtlich habe ich die offene Flanke unseres tapferen Ritters gefunden, denn seine Stimme zittert, als er, nachdem er seinen Speichel unter Schwierigkeiten geschluckt hat, fragt: „Also was fressen Tiger?“

„Alles. Guerillas, Soldaten, Käfer ... und Schildkröten!“ Ich beobachte Pegasus’ Reaktion, allein er muß sich wirklich für ein Pferd halten – er scheint nicht alarmiert. Ich meine sogar ein sanftes Wiehern zu hören.

„Pf! Du willst mich nur erschrecken. Wenn du es wissen willst, dieser bewaffnete Ritter hat als Windmühlen verkleidete Giganten besiegt, die sich wiederum als Artilleriehelikopter verkleideten; er hat die uneinnehmbarsten Königreiche eingenommen, den Widerstand der zimperlichsten Prinzessinnen geschmolzen, er hat –“

Ich unterbreche Durito. Offensichtlich hat er Seiten um Seiten zum Sprechen, während ich der bin, der von den Herausgebern kritisiert wird, besonders wenn die Kommuniqués spätnachts eintrudeln.

„Gut, gut. Aber sag, wohin gehst du?“

„Nach Mexico City“, sagt Durito und schwingt sein Schwert. Das Ziel überrascht Pegasus; er hüpft leicht, was für eine Schildkröte das Zeichen eines diskreten Seufzers ist.

„Mexico City?“ frage ich ungläubig.

„Klar! Meinst du, nur weil die Cocopa [3] dich nicht hinließ, schreckt mich das ab?“ Ich wollte Durito warnen, schlecht über die Cocopa zu sprechen – die Gesetzgeber sind so empfindlich, sie könnten verrückt werden – aber Durito setzt fort:

„Du solltest wissen, ich bin ein fahrender Ritter, und mehr Mexikaner als Versagen der neoliberalen Wirtschaft. Daher habe ich ein Recht, die ‚Stadt der Paläste‘ zu betreten. Warum sollten sie Paläste haben in Mexico City, wenn sie nicht von den Schritten eines fahrenden Ritter wie mir beehrt werden sollten, dem berühmtesten, dem galantesten und dem von den Männern geachtetsten, von den Frauen geliebtesten und von den Kindern verehrtesten?“

„Mit deinen vielen Beinchen“, sage ich ihm. „Laß mich daran erinnern, daß du neben dem fahrenden Ritter und dem Mexikaner auch noch ein Käfer ein bist.“

„Mit meinem Fuß oder meinen Beinchen, ein Palast ohne fahrenden Ritter ist jedenfalls wie ein geschenkloses Kind am 30. April, [4] wie eine Pfeife ohne Tabak, wie ein Buch ohne Wörter, wie ein Lied ohne Musik, oder wie ein fahrender Ritter ohne Schild...“ Durito starrt mich unentwegt an und fragt: „Bist du sicher, daß du nicht in dieses verblüffende Abenteuer mit mir ziehen willst?“

„Es kommt darauf an“, sage ich und schütze Interesse vor, „es kommt darauf an, was du unter ‚verblüffendes Abenteuer‘ verstehst.“

„Ich gehe zum Maiaufmarsch“, sagt Durito, beinahe als kündigte er den Gang um Zigaretten gleich um die Ecke an.

„Zum Maiaufmarsch! Aber es wird keinen geben! Fidel Velazquez, [5] der sich immer ums Wohl der Arbeiterinnen und Arbeiter sorgte, sagt, es gibt kein Geld für den Aufmarsch. Manche Gerüchteköche geben zu verstehen, er habe Angst, die Arbeiterinnen und Arbeiter könnten außer Kontrolle geraten, und anstatt dankbar zu sein, werden sie ihn mit Worten verfluchen, die eine Karikaturistin nicht verwenden kann. Aber das ist eine Lüge, wird das Arbeitssekretariat schnell antworten, es besteht kein Grund zur Furcht. Es ist eine seeeeehr respektable Entscheidung der Arbeitenden und –“

„Aus, hör auf mit deinem anspielungsreichen Geplapper. Ich gehe nicht zum Maiaufmarsch, um Fidel Velazquez – der, wie wir alle wissen, ein grauenhaftes Ungeheuer ist, das die Armen unterdrückt – zu einem Duell zu fordern. Ich werde ihn herausfordern, im Aztekenstadion zu kämpfen, vielleicht werden wir mehr Eintrittskarten verkaufen. Seitdem sie Beenhaker [6] gehen ließen (kritisiert mich nicht, wenn ich falsch buchstabiere, nicht einmal die amerikanischen Direktoren konnten den Namen buchstabieren, und sie stellten ihm Schecks aus), können nicht einmal die Adler die Geier sehen.“ Durito ist einen Moment still und blickt nachdenklich auf Pegasus, der schlafen muß, hat er sich doch eine Weile schon nicht mehr gerührt. Dann fragt mich Durito:

„Meinst du, Fidel Velazquez hat ein Pferd?“

Irgendwie bezweifle ich das.

„Gut, er ist ein charro [7] – es ist also gut möglich, daß er ein Pferd hat.“

„Wunderbar“, sagt Durito und gräbt seine Sporen in Pegasus.

Pegasus mag der Meinung sein, er sei ein Pferd, aber er hat immer noch einen Schildkrötenkörper, und seine harte Schale bezeugt das. Er nimmt Duritos Cowboymanöver nicht einmal zur Kenntnis, derweil dieser ihn anstacheln will. Nach einigem Ringen kommt Durito darauf, daß er Pegasus, wenn er mit seiner Büroklammer, entschuldigt: seiner Lanze, gegen dessen Nase schlägt, in den Galopp zwingen kann. Für eine Schildkröte zumindest, das heißt, etwa zehn Zentimeter pro Stunde, es wird also ein Weilchen dauern, bis Durito in Mexico City eintrifft.

„Mit dieser Geschwindigkeit wird Fidel Velazquez tot sein, wenn du ankommst“, teile ich meine Gedanken mit ihm.

Ich hätte besser nichts gesagt. Durito bemüht die Zügel und zieht sein Pferd zurück, wie Pancho Villa, [8] als er Torreon einnahm. Ja, gut, das ist ein schönes literarisches Bild. In Wirklichkeit machte Pegasus Halt, was bei seiner Geschwindigkeit kaum auffiel. Im Unterschied zu Pegasus’ Ruhe war Durito wütend:

„Dir stößt dasselbe zu, was den Beraterinnen und Beratern der Arbeiterbewegung in den letzten Jahrzehnten widerfahren ist! Sie bitten die Arbeiterinnen und Arbeiter um Geduld und sitzen und warten, daß der charro von seinem Pferd fällt, aber unternehmen nichts, um ihn zu stürzen.“

„Naja, nicht alle von ihnen sind gesessen und haben gewartet. Manche haben wirklich um eine unabhängige Gewerkschaft gekämpft“, sage ich ihm.

„Ich werde mir diese Leute ansehen. Ich werde ihnen beitreten, um zu zeigen, daß auch Arbeiterinnen und Arbeiter eine Würde haben“, sagt Durito, und ich erinnere mich daran, daß er mir einmal sagte, er sei Kumpel im Staate Hidalgo und Ölarbeiter in Tabasco gewesen.

Durito verschwindet. Er benötigt einige Stunden, um hinter einem Busch unweit meines Plastikverhaus zu verschwinden. Ich stehe auf und merke, daß mein rechter Stiefel offen ist. Ich mache die Taschenlampe an – der Schnürsenkel fehlt! Kein Wunder, daß Pegasus’ Zügel ähnlich aussahen. Jetzt muß ich warten, bis Durito aus Mexico City zurück ist. Während ich nach Schilf Ausschau halte, um meinen Stiefel zu schnüren, fällt mir ein, daß ich vergessen habe, Durito jenes Restaurant mit den Kacheln [9] zu empfehlen. Ich lege mich nieder, der Morgen dämmert ...

Über mir klart der Himmel, seine rotblauen Augen sind überrascht, Mexiko noch immer dort zu finden, wo es gestern war. Ich zünde meine Pfeife an, beobachte die letzten Nachtfetzen die Bäume verlassen und sage mir selbst, daß der Kampf lange und es wert ist ...

P.S.

... in dem er mit einem Vollmondgesicht in Richtung Dschungel blickt und fragt ... wer ist der Mann, der über einen armseligen Schatten galoppiert? Warum sucht er nicht Erleichterung? Warum sucht er neuen Schmerz? Warum soviele Reisen, wenn Stillstand eingetreten ist? Wer ist er? Wohin geht er? Warum sagt er Auf Wiedersehen mit so geräuschvoller Stille?

[1Zit. nach: Miguel de Cervantes: Don Quixote. Zweiter Band, Frankfurt/Main: Insel 1975, S. 612f

[2Figur aus Hector Aguilat Camíns Roman La Guerra de Galio, in dem es um die mexikanischen Guerillas in den 1970er Jahren geht.

[3Comisión de Concordia y Pazificacion / Nationale Kommission für Eintracht und Friedensstiftung, parlamentarisches Vermittlungsgremium aus Regierungsmitgliedern aller Parteien

[4in Mexiko Tag der Kinder

[5Fidel Velazquez (1900-1997): mexikanischer Gewerkschaftsführer auf Lebenszeit, der PRI unterstellt

[6holländischer Fußballtrainer

[7charro: machistischer Cowboy, gleichzeitig umgangssprachlich für Gewerkschaftschef

[8Pancho Villa (1877-1923): V., Sohn eines verschuldeten Landarbeiters, ermordete einen Gutsbesitzer, der seine Schwester vergewaltigt hatte, wurde zum Banditen, später der miltärische Führer der mexikanischen Revolution. 1914 nahmen seine (teilweise bekifften) Truppen nach blutigem Kampf Torreon ein. „Unter allen Berufsbanditen der westlichen Hemisphäre war vielleicht er es, der die hervorragendste Karriere als Revolutionär gemacht hat.“ Eric J. Hobsbawm: Die Banditen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 149

[9Das Lokal Samborn, in das Emiliano Zapata frühstücken ging, bevor er sein Amt als Präsident antrat.

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