FORVM, No. 273/274
September
1976

Abergläubische Wissenschaft

Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen, Piper Verlag, München/Zürich 1976, 252 Seiten, DM 29,80, öS 229,50

Wissenschaft? Ihre Fortschritte führen in eine neue Religion, deren Heilige Schriften lauter Bestseller sind. Ein Däniken verarbeitete den imperialistischen Weltraumrummel, indem er ihn als „Rückkehr zu den Sternen“ mystifizierte. Schon vor Jahrtausenden hätten überirdische Instanzen aus dem Weltall mit Raketen und Raumschiffen die Erde kolonisiert.

Auf einem respektableren Niveau predigt das Buch Paul Watzlawicks ein ähnliches Evangelium. Der 1920 in Villach geborene Professor am Mental Research Institute in Palo Alto setzt sich für die Versuche ein, mit außerirdischen Zivilisationen Kontakt aufzunehmen. Auch hier wird die Technik aus ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang herausgerissen: buchstäblich vom Himmel heruntergefallen, ist sie dem menschlichen Wissen und Können entfremdet. Naiverweise unterstellen die sternengläubigen Wissenschaftler nicht nur die Existenz galaktischer Zivilisationen, sie glauben auch, daß diese eine vergleichbare (wenn auch weiter entwickelte) Technik, Mathematik und Wissenschaft besitzen.

Schon 1820 hatte der Mathematiker Gauß vorgeschlagen, in Sibirien ein riesiges pythagoräisches Dreieck anzulegen, das den Astronomen auf fernen Planeten ins Auge stechen müßte. Heute diskutieren sowjetische und amerikanische Experten ganz ernsthaft darüber, ob „unsere irdische Lebensweise und Wirklichkeitsauffassung außerirdischen Lebewesen ebenso mitgeteilt werden kann, wie wir sie unseren eigenen Kindern lehren“ (p. 193). Die armenische Akademie der Wissenschaften veranstaltete 1971 eine Konferenz über dieses Thema, auf der auch das berühmte Theorem des Wiener Mathematikers Kurt Gödel herangezogen wurde. Die NASA schickte 1972 eine Sonde ins Weltall, auf der das Sonnensystem und ein nacktes Menschenpaar (Adam und Eva!) abgebildet sind. Der Szientismus wird wahnsinnig, die Wissenschaft zur Sciencefiction ...

Watzlawicks Thema ist die moderne Kommunikationstheorie. Er popularisiert Gedanken aus den Bereichen Kybernetik, Spieltheorie, Behaviorismus, Sozialpsychologie und Psychiatrie. Er präsentiert aber die verschiedenen Lehrmeinungen auf eine Art und Weise, die im naiven Leser nur Panik und Verfolgungswahn auslösen kann. Die Wissenschaft nicht mehr als Medium der Wahrheit, sondern als ein Instrument kalkulierten Lügens, um Macht über die verwirrten Menschen zu gewinnen. Paranoide Züge hat ja bereits die Theorie der strategischen Spiele, wie sie im Zweiten Weltkrieg in den USA von dem Wiener Ökonomen Oskar Morgenstern und dem Budapester Mathematiker John von Neumann entwickelt wurde. Charakteristisch die Beispiele Watzlawicks: ohne das mathematische Brimborium bleiben von der Kybernetik nur practical jokes übrig.

Ein Staatsanwalt spielt zwei U-Häftliinge gegeneinander aus, die sich miteinander nicht verständigen dürfen. Eine Unterredung zwischen zwei Psychiatern, von denen jeder annehmen muß, der andere sei ein größenwahnsinniger Patient. In der Spieltheorie wird das Schema des blinden Konkurrenzkampfs formalisiert. Die ganze „Strategie“ läuft darauf hinaus, daß einer den anderen hineinlegt. Watzlawick knüpft an eine Lernmaschine, die sich nachträglich als Bluff herausstellt, philosophische Spekulationen über die Leichtgläubigkeit der düpierten Versuchspersonen, die den Betrug einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Was er seinerseits nicht bemerkt, ist die unfreiwillige Parodie auf den wissenschaftlichen Aberglauben, der sich den Spielregeln der Tests wie einem Ritual unterwirft.

Ein grenzenloses Vertrauen in die Möglichkeiten der Manipulation durchzieht das ganze Buch, das doch ansonsten zum totalen Mißtrauen aufruft. Eine Philosophie für Hochstapler, Geschäftsleute und kultivierte Sadisten.

Die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ — ein Schlüsselbegriff der Sozialpsychologie — wird als ein System plumper Täuschungsmanöver erläutert. Seine Unterscheidung zwischen „erster“ (natürlicher) Wirklichkeit und „zweiter“ (sozialer) Wirklichkeit illustriert Watzlawick am Beispiel des Goldes, das, unabhängig von seinen physikalischen Eigenschaften, als Weltgeld fungiert. „Diese andere, zweite Wirklichkeit des Goldes aber ist es, die einen zum Krösus oder Bankrotteur machen kann“ (p.143). Warum? Das bleibt dem Kommunikationstheoretiker schleierhaft, er ignoriert die Marxsche Kritik am Warenfetischismus.

Auch die in der soziologischen Literatur bekannte Pogromstimmung in Orleans 1969 kann Watzlawick nur referieren, keinesfalls analysieren. Besser in dieses Weltbild paßt das Wechselspiel zwischen Spionage und Gegenspionage, Information und Desinformation, von dem ein Gutteil des Buches handelt. Leider bringt es nur alte Hüte aus dem Anekdotenschatz von Secret Service und SD, kein Wort jedoch zu CIA und Watergate. Der originellste Gedanke: ein Vergleich der Pentagon Papers („recht unsensationell“) mit den Protokollen der Weisen von Zion (p. 142). Watzlawicks Pointe besteht in der Erkenntnis, daß die Feinde des Westens vom Osten gesteuert werden (p. 139). So kommt das konservative Weltbild allmählich wieder ins Lot. Vietnam, Nixon, Chile ...? Der kommunikationstheoretisch Geschulte hält sich die Ohren zu.

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