Adornos Kommunismus
Ein bekannter altgedienter CDU-Politiker nannte Adorno einen „Staatsfeind auf dem Lehrstuhl“. Woanders verhinderte eine süddeutsche lokale Politgröße derselben Partei, dass eine Grundschule dessen Namen bekam. Sie hatte in einem Lexikon nachgeschaut und herausgefunden, dass Adorno ein „Neomarxist“ sei und das reichte. So bescheiden die Denkleistung, so einfach der Befund, so richtig das Urteil. Von solchen Menschen nicht als „Staatsfeind“ wahrgenommen zu werden, sollte Zweifel an einem selber wecken.
Alte und neue Nazis wandten die Nürnberger Rassengesetze an, nach denen Adorno Jude war. Sie verabscheuten seinen „Kosmopolitismus“ und wähnten ihn als Teil „amerikanischer Umerziehung“. Für die letzte Konjunktur des Positivismus, den Kritischen Rationalismus Karl R. Poppers, war Adornos Philosophie „Metaphysik“, das heißt „Ideologie“, das heißt ein durch keine Fakten gesichertes Geschwätz, ein rein subjektives Meinen als nicht nur überflüssige, sondern gar gefährliche Zutat zur Wirklichkeit an sich. Auch die Postmoderne entdeckte neben nicht vorhandenen Parallelen zu sich selbst die Gefahr eines totalitären Diskurses, weil Adorno auf Totalität als eines gesellschaftlichen Zwangszusammenhangs reflektierte; die jene meinen, als Erfindung hegemonialer Philosophie-Diskurse dekonstruieren zu können; von der jene nichts wissen wollen, damit sie sich in ihr einrichten können.
Sie alle hätten sich keine Sorgen zu machen brauchen: Adorno wurde viel gelesen und zitiert, aber es kam wenig an und noch weniger blieb hängen. Was in den Sozialwissenschaften als „Kritische Theorie“ gilt: Jürgen Habermas, von einigen immer noch als linker, gar kritischer Kopf verkannt, war bereits Entschärfung und Demontage, Umschreibung und Kaputtrekonstruktion einer Tradition kritischen Denkens von Hegel über Marx bis Adorno & Horkheimer. Daneben disqualifizierte er seinen ehemaligen Chef als melancholischen Pessimisten aus traumatischer Erfahrung (herablassend verzeihlich) und Prinzip (unverzeihlich): zu negativ, zu perspektivlos, zu widersprüchlich. Habermas war „konstruktiv“ und „anschlussfähig“; an was, — das nicht sehen zu wollen, gab er sich größte Mühe. Pädagogen, Experten für Vergangenheit und deren Bewältigung, Pfleger der Erinnerung zitieren Adorno gerne. Sie verhalfen einem schmalen Bändchen, Erziehung zur Mündigkeit, zu hohen wie hohlen Auflagen, weil hier auch die Adorno zu verstehen meinen, die sonst bemängeln, seine Sprache sei zu gewunden und zu geschraubt.
Die Adorno-Manie des Jahres 2003 schließlich war eine Überraschung, aber keine schöne. Verabscheuung und Eingemeindung gingen zusammen. Die Kritische Theorie war einmal Stichwortgeber für die 1968er-Generation gewesen. Nicht dass sie wirklich etwas miteinander zu tun hätten; jene verhält sich zu dieser wie Marx zum Gulag. Aber nun ist diese Generation in privaten und öffentlichen Institutionen längst angekommen, hat Bildungseinrichtungen gleichermaßen besetzt wie Redaktionen und politische Ämter und muss nun vor sich selber und der Öffentlichkeit darüber Rechenschaft ablegen, was aus ihren alten Ansprüchen und Idealen geworden ist. Die Vergangenheit, in der man auch mal „gegen das System“ war (was immer das auch heißen mag), kann entweder abgewehrt oder umgeschrieben werden. Von Adorno blieb das Bild einer strengen bis überheblichen Gewissensinstanz. Diese wird nun aggressiv erledigt: der angeblich unnachgiebige Über-Vater, zu dem sie Adorno gemacht haben, der er aber nicht zu sein braucht. Dass sie mit ihm die Quadratur des Kreises versuchten: einen Anti-Autoritären zu einer unreflektierten Autorität zu machen, dass er sich ihnen umso mehr entzog, je bedingungsloser sie sich ihm gleichmachen wollten, das können sie ihm nicht verzeihen. Die Tatsache, dass sie seine Texte nur nachsprechen, weil sie deren Inhalt nicht aufschließen konnten und deswegen nur eine Pose pflegten, wird ihm angelastet.
Adorno zu zitieren ist das eine, ihn verstanden und das Zitieren deshalb nicht mehr nötig zu haben, das andere. Passende Adorno-Zitate (und davon findet man immer eines) wie eine Monstranz vor sich her zu tragen verstößt gegen das Denken, das in seinen Schriften aufbewahrt ist. Man kann für die Annalen der Philosophiegeschichte Grundzüge und Resultate der Kritischen Theorie referieren. Adornos Philosophie aber ist kein abrufbarer Theoriebestand, kein fest verbuchbares, verfügbares Wissen, das anzuwenden sei. Er wandte sich stets gegen ein „Standpunkt-Denken“; seine Philosophie ist Kritik, eine Verhaltensweise des Denkens, die immer neu sich bewähren muss, nur in actu existiert.
Nicht nur darin besteht seine Aktualität. Was ihn zur Philosophie veranlasste, erwähnt keine Adorno-Forschungsstelle, wird in keinem philosophischen oder soziologischen Seminar gesagt, dabei steht es auf der ersten Seite der Einleitung eines seiner Hauptwerke, der Negativen Dialektik: dass es nicht gelang, eine vernünftige Gesellschaft, den Kommunismus, herbeizuführen.