Am Ende: der Anfang
Aus den Augen des Mädchens, das sie damals war, schildert Leontina Arditti die Geschichte ihres Erwachsenwerdens im Bulgarien der späten dreißiger und beginnenden vierziger Jahre. Das unbeschwerte Leben auf dem Dorf, das Spielen in der Mühle, wo der Vater arbeitet, die außergewöhnliche Attraktion des Jahrmarktes, das Belauschen der Gespräche der Nachbarinnen, deren volle Bedeutung sie langsam zu verstehen beginnt — Elemente einer Kindheit, die jäh von neuen, drastischen Ereignissen abgelöst wird.
Leontinas Vater wird in ein Arbeitslager verschleppt, sie und ihre Mutter müssen das eigene, mühsam aufgebaute Häuschen am Rande Sofias verlassen und fortan in verschiedenen überfüllten Notquartieren auf dem Land leben.
Jetzt weiß ich, warum Liljanas Großvater bei uns war. Ich kann sie nicht mehr ausstehen mit ihren Geheimnissen und Tricks. Wir schlafen doch zu dritt in diesem einen Bett. Sie glauben, dass ich schlafe. Und ich höre doch alles. Große Geheimnisse, Unsinn! Der Opa könnte uns Juden alle in die Berge führen, ins Rilagebirge, zu irgendwelchen Menschen. Nur er weiß wohin. Am besten sehr bald, bevor es zu spät ist. Dort in den Bergen sind wir in Sicherheit. Und weiß Gott was noch. Vater aber sagt, dass die Russen schon nahe sind, und die Deutschen sich jetzt einen Dreck um die Juden kümmern. Der Opa aber hat gesagt, das kann man nicht wissen, die Schlange beißt gerade, wenn man ihr den Schwanz einklemmt. Solche Geheimnisse. Dass ich nicht lache. (...) Mich interessiert das einen Dreck. Sollen sie sich um die Wälder kümmern und die Berge. Dort waren wir ja auch noch nicht, mit all den Säcken und der Geige. Seit ich mich erinnern kann, wandern wir herum wie die Kattunzigeuner, die ständig herumziehen mit ihrem Hab und Gut. Vom einen Ende des Landes zum anderen. Und wieder zurück.
Ardittis Autobiographie stellt die Ereignisse des Alltags in den Vordergrund: Sie berichtet von der psychischen Anspannung der Menschen, von Hunger, von antisemitischen Übergriffen in der Schule, und auch davon, wie müßig das Lernen und Geigespielen in einer Zeit ohne erkennbare Zukunft ist.
Bis hierher und nicht weiter: Mit diesen Worten könnte die antijüdische Politik der Achsenmacht Bulgarien charakterisiert werden. 1941 wurden deutsche Truppen in Bulgarien stationiert und das „Gesetz für den Schutz der Nation“ erlassen, das die diskriminierende Definition der jüdischen Bevölkerung vornahm sowie Maßnahmen zu deren Enteignung, zur Zwangsarbeit und zur Konzentration beinhaltete. Dass die Juden und Jüdinnen aus dem bulgarischen Kernland im März 1943 nicht wie die 11.400 Menschen aus den bulgarischen besetzten Gebieten in Mazedonien und Thrakien in das Vernichtungslager Treblinka deportiert wurden, ist eine einzigartige Tatsache, die, als einfache „Gegenerzählung“ zur nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie kaum geeignet, dennoch verstört in ihrer merkwürdigen Schlichtheit: Auf Grund einer Petition des stellvertretenden Parlamentspräsidenten Dimiter Peschev, eigentlich ein überzeugter Nationalist und Anhänger Hitlers, Protesten von Vertretern der orthodoxen Kirche und des selbstbewussten Auftretens jüdischer Gruppen lenkte der autoritär regierende König Boris III., der Vater des jetzigen Ministerpräsidenten Simeon Sakskoburggotski, in der Sache der endgültigen Auslieferung ein und wandte eine neue Taktik gegenüber den Deutschen an: die der Verzögerung.
Wie Raul Hilberg schreibt, hatten die Bulgaren „ein vitales Interesse daran, sich die Hintertür offen- und den Fluchtweg freizuhalten. Kurz, sie wollten das Spiel auf eine Weise spielen, daß eine Gewinnchance, aber kein Verlustrisiko bestand.“ [1] Dass Zurückhaltung allerdings erst dann angesagt war, als der deutsche Sieg immer unwahrscheinlicher wurde, stellt jenen Aspekt der „Rettung“ dar, der im heutigen Bulgarien von staatlichen VertreterInnen gerne unterschlagen wird.
Leontina Arditti erlebte den Einmarsch der sowjetischen Truppen im September 1944 im Freudentaumel und mit der Aussicht der Rückkehr nach Sofia: „Mein Vater, der Arme, der ja sowieso stottert, kann jetzt kaum was sagen. Nur: ‚Schluss. Schluss. Schluss! ...‘ Mutter aber: ‚Was heißt denn das jetzt? Können wir jetzt in unser Haus zurück? In mein schönes Haus?‘ Und heult wie verrückt.“
Leontina Arditti: An meinem Ende steht mein Anfang. Ein jüdisches Leben in Bulgarien. Übersetzt von Penka Angelova. Milena Verlag, Wien
[1] Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Bd. 2. Frankfurt/M. 1999, S. 795