FORVM, No. 106
Oktober
1962

Architektur als Kunst des Schweigens

Zum 75. Geburtstag Le Corbusiers am 6. Oktober

Am 6. Oktober begeht Le Corbusier, der wohl anerkannteste Architekt der Gegenwart, seinen 75. Geburtstag. Wir freuen uns, eine Würdigung veröffentlichen zu können, die Richard Neutra, der kaum minder anerkannte österreichische, seit langen Jahren in den USA lebende Kollege Corbusiers, für uns geschrieben hat; der deutsche Text entstand durch unsere behutsame Übersetzung eines englischen Originals. Da Richard Neutra vor einigen Monaten seinen 70. Geburtstag begangen hat, ohne daß bisher Gelegenheit gewesen wäre, im FORVM seine eigene Leistung zu würdigen, sei zumindest der Hinweis angebracht, daß diese keineswegs auf die Architektur beschränkt ist, sondern auch die Literatur betrifft. Wir nennen von den Büchern, die Neutra in den letzten Jahren veröffentlicht hat: „Wenn wir weiterleben wollen“ und „Auftrag von Morgen“ (beides im Claassen-Verlag, Hamburg) sowie „Mensch und Wohnen“ und „Welt und Wohnen“ (beides im Verlag Alexander Koch, Stuttgart). Unsere Abbildungen stammen aus dem fünften Band der Reihe „Le Corbusier — Oeuvre Complète“ ( Edition Girsberger, Zürich).

Die Form ist wohl das dauerhafteste an der Architektur. Was an ihr wesentlich ist, verflüchtigt sich nicht, auch wenn nur noch Ruinen übrig sind und die ursprüngliche Funktion sowie erst recht die praktische Dienstbarkeit eines Bauwerks längst der Vergessenheit angehören. Wir wissen vielleicht nicht mehr, welches Ritual in einem alten Tempel vollzogen wurde und wie währenddessen die Leute sich gegen Wind und Wetter schützten, aber was da aus der Tradition eines vergessenen Volksstammes gewachsen ist, kann uns immer noch tief beeindrucken.

Auch für Zeiten, die den unsern näher liegen, gilt wohl, daß die Gestalt die Dominante der Architektur ist.

Was jedoch den Architekten als Individuum anlangt, gibt es — jenseits aller Stilfragen — nichts Eindrucksvolleres als jene höchst individuelle Ausstrahlung des Vertrauens, das er weckt und wach hält, quittiert und belohnt. Daß man ihn zu sich gerufen und ihm dann freie Hand gegeben hat; daß er vermutlich mehr als die regulären Budgetmittel bewilligt erhielt, mehr auch, als man irgend jemand andrem gegeben hätte: das hebt ihn aus seinen Zeitgenossen empor, macht ihn zu einem ungewöhnlichen Mann mit ungewöhnlich stimulierenden, eigenständigen Kräften. So wird schließlich, über den Kreis der ersten vertrauensvollen Seelen hinaus, ihm allgemeine Anerkennung zuteil.

Iktinos und Kallikrates sind uns als die Architekten des Parthenon überliefert. Sie erhielten von der Bürgerschaft die Aufgabe anvertraut, die Schutzgöttin zu ehren. Perikles handelte im Namen Athens, als er diese Aufgabe in die Hände heimischer Künstler legte, und diese folgten — in subtiler Nuancierung — einer geheiligten Tradition.

Das Vertrauen zwischen Architekt und Auftraggeber entwickelt sich für uns Heutige auf andere Weise als damals. Wir haben keine augenfällige Goldene Regel, der es zu folgen gälte. Wir bewundern von fern her die originale Initiative von Männern wie Picasso und Le Corbusier, aber nur selten können wir dessen gewiß sein, daß sie, oder wir, über dieses Gefolgschaftsverhältnis glücklich sind.

Liegt dies daran, daß unser Zeitalter der beispiellosen Massenbewegung und Distanzverringerung vielleicht auch das Zeitalter beispiellos genialer Persönlichkeiten ist, die uns als Führer zur Verfügung stehen, die aber ihre Gefolgschaft mit Mißtrauen bedenken (und vielleicht tun wir dies alle)?

Frank Lloyd Wright (um ein anderes großes Beispiel für Treue gegen sich selbst zu nennen) widmete sich mit zunehmendem Alter immer eifriger der Abweichung von den selbstgeschaffenen Vorbildern; er wollte sich nicht wiederholen, geschweige denn von andern imitiert werden.

Die Kultur, deren Zentrum vor dem Peloponnesischen Krieg in Attika lag, wurde bald danach schal. Das Schicksal bedachte sie mit einer wenig schöpferischen Zukunft. Sie verbreitete sich späterhin, in verwaschener Internationalität, zumeist durch eher pedantische Wiederholung. Vielleicht bestand ihre Wirkung in nichts weiterem als einem endlos durch die Jahrtausende hallenden „echo sostenuto“. Die zugehörigen Architekten waren ohne Zweifel keine scharf profilierten Individualitäten.

Nun aber: welche Voraussage wagen wir mit Bezug auf die Zukunft jener Gemeinplätze oder auch originellen Errungenschaften, die unsere eigene Zeit hervorgebracht hat? Wenn es um die Frage geht, ob die Gesellschaft unseren Entwürfen und unserer Hingabe vertraut hat: wessen wird man sich einstens erinnern?

Was in unserer Zeit an Alltäglichem vollbracht wird, das widerspiegelt auch ganz offenkundig alltägliche menschliche Beziehungen, fern allem Außergewöhnlichen, zwischen denen, die da vertrauen, und denen, die da den Auftrag erhalten.

Le Corbusier hingegen, obwohl sein „nom de guerre“ einer bloß handwerklichen Tätigkeit entlehnt ist (der Korbflechterei), hat mit einer durchaus ungewöhnlichen Faszination und mit brillanter Einbildungskraft über die eigentlichen Dringlichkeiten unserer Tage geschrieben: über Städtebau und Hauskonstruktion, entsprechend den Bedürfnissen der zeitgenössischen Gemeinschaftsformen, über Lösungen, die in eine unmittelbare oder fernere Zukunft hineinragen. Des weiteren hat er — Ausdruck seiner Hoffnungen — den schlechthin ewigen Werten seine Arbeitskraft zugewandt: den mathematischen Mysterien der pythagoräischen Proportionen, welche die architektonischen Formen durchdringen und ihnen Dauer geben. Was sein Werk zum Sinnbild macht für die Aspirationen unseres Zeitalters ist jedoch schwerlich das Einhalten irgendwelcher Regeln, sondern die vehemente Abweichung von solchen, vergleichbar einem Donnerschlag in der monotonen Stille unserer Konformität.

Das Ideal der Individualität inmitten des technischen, wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen Konformismus weckt in uns, die wir an der Oberfläche so konformistisch und bereit zur Imitation scheinen, verborgene, geradezu physiologische Kräfte der Sympathie. Wenn das Mysterium der Mutation sich wirklich einmal ereignet, dann sind wir von ihm gebannt in Furcht und Entzücken. Wenn es mehr als ein Acht-Tage-Wunder war, wenn sein „Überlebenswert“ sich erwiesen hat, dann ist ihm, erst zögernder, dann stets anschwellender Beifall gewiß.

Was ist mit solchem „Überlebenswert“ gemeint?

Gewiß nicht bloß die statische Festigkeit des Hauses in La Garche oder der Unité d’Habitation in Marseille. Die meisten Leute haben diese Gebäude gar nie tatsächlich gesehen — zum Unterschied von den Athenern, die 438 v.Chr. sämtlich das fertige Parthenon sahen, nachdem sie schon seine lange sich hinziehende Erbauung wachsam verfolgt hatten. Die große Mehrzahl jener, die Le Corbusier kennen, und sogar die Mehrzahl jener, die ihn nachzuahmen versuchen, waren nie in Chandigarh, der Hauptstadt des Pandschab, oder in Ahmedabad. Sie haben lediglich Photographien gesehen, und diese würden ihre Strahlkraft behalten, auch wenn die Bauten dort einstürzten oder durch mangelnde Instandhaltung zugrunde gingen.

Justizpalast in Chandigarh

Heute, da angeblich der Nutzwert regiert, kennen wir die Architektur seltsamerweise weniger durch eigene Nutzung als in früheren Zeiten. Wir reden gerne so, als ob es auf diesen Nutzwert ankäme. Desgleichen beschäftigen wir uns hartnäckig mit dem Geldwert eines Bauwerks; zumindest hören wir respektvoll zu, wenn in diesem Zusammenhang von öffentlichen Anleihen, Bankkrediten, Amortisation die Rede ist, oder auch davon, daß einerseits mit jedem Groschen öffentlichen Geldes geknausert wird, anderseits Milliarden investiert werden.

In Wahrheit hatten die Steuerzahler zu Zeiten des Perikles viel bessere Kontrollmöglichkeiten als wir; sie waren in der Lage, die Anwendung öffentlicher Mittel auf ein Bauwerk zu überwachen, das vor ihren eigenen Augen entstand. Sie waren kleinlich genug, alle Augenblicke den Diebstahl oder die mißbräuchliche Ausgabe irgendwelcher Goldtalente zu argwöhnen. Die griechischen Architektur-Konsumenten waren über die funktionsgerechte Verteilung des finanziellen Aufwands bestens informiert.

Niemand hingegen, der da mit rascher schlagendem Herzen eine jener wundervollen Photographien betrachtet, auf denen man sieht, wie die Dachaufbauten des Justizpalastes von Chandigarh einander Schatten spenden, weiß oder schert sich darum, wieviel das in indischen Rupien gekostet hat oder wie ein solcher Rupienbetrag in eine ihm geläufige Währung umzurechnen wäre. Er weiß nicht einmal, welche architektonischen Funktionen oder praktischen Zwecke diese Formen erfüllen; bestenfalls hat er vage davon gehört, daß dieses Bauwerk — wovor Kameltreiber lagern und worüber grandiose Wolkenmassen hinstreichen — irgendwelchen alltäglichen juristischen Aufgaben dient. Interessieren wir uns denn für solche Utilitäten? Oder interessiert uns bloß Le Corbusier und seine Überzeugungskraft gegenüber den Auftraggebern und jenen, die unter seinem großartigen Zauber den Bau ausführten? Die Persönlichkeit, wovon sein Werk Zeugnis legt, schlägt uns auf unsägliche Weise in ihren Bann. Ein Fleck Erde unter dem Himmel wird durch sie bedeutsam.

Das ist die eigentliche Faszination: entgegen allem, was eine vierzigjährige Künstlerlaufbahn erwarten ließ, diese Anerkennung, dieses immense Vertrauen, dargebracht von einer Handvoll kühner Männer in einem fernen Land (oder auch in einem näher liegenden; ich denke an den französischen Minister für Wiederaufbau, Claudius Petit), welche solcherart über gewaltige Investitionen ohne Rücksicht auf Kritik entschieden hatten.

Le Corbusiers Freundschaften, die frühen wie die späten, sind ebenso bemerkenswert wie das Verhältnis zu seiner Frau, die leider allzu bald verstarb. Auch seine frühen Gegner — die Kritik übten oder ihn bloß angriffen und herabsetzten — haben ihn allmählich alleingelassen oder sind zur Bedeutungslosigkeit verblaßt; die konservativsten und orthodoxesten Berufsorganisationen der Welt haben ihn, was mir zur Genugtuung gereicht, mit ihren höchsten Auszeichnungen bedacht.

All das hat seine Einsamkeit so wenig gemildert wie der Enthusiasmus jener jungen Leute, die ihn in der Rue de Sèvres als ihren Meister aufsuchen. Jose Luis Sert, Wogensky, Maekawa Sakakura, Kenzo Tange, Oscar Niemeyer, Doishi und viele, viele andere, haben seinen magnetischen Einfluß dankbar anerkannt. Was mich betrifft, kann ich nur meiner Befriedigung Ausdruck geben, daß ich den Vorzug hatte, ihn und sein Werk seit einer Generation zu kennen, soweit solches Kennen überhaupt möglich ist: von Brüssel 1930 bis Brüssel 1960, von New York bis Paris und weiter bis nach Indien. Ich habe eine glückliche Erinnerung daran, wie ich zugunsten seines Werkes dort sprechen durfte, vor der All-indischen Planungskommission und vor Vertretern der politischen Opposition, in Verteidigung seines großen städtebaulichen Konzeptes und der Entscheidungen Nehrus. Ich bin immer noch glücklich, daß ich dazu imstande war.

Besonderen Eindruck hat mir die Bekanntschaft mit einigen seiner Auftraggeber hinterlassen. Sie hätten niemandes andern Auftraggeber sein können, auch nicht die eines andern großen Mannes. Und wie jeder große Künstler wird auch Le Corbusier am treffendsten durch die Art charakterisiert, wie die Liebe und das aktivistische Engagement seiner Bewunderer sich äußern.

Gewisse, weit unter der Grenze jeglicher mikroskopischer Sichtbarkeit sich abspielende atomare Vorgänge erkennen wir bloß daran, daß Partikel, die in deren Nähe gelangen, von ihrer normalen Bahn abweichen; dies gestattet indirekte, aber bündige Schlüsse auf die Art dieser Vorgänge wie auf die Struktur des Atomkerns. Ähnlichermaßen kann uns die Einfühlung in die Auftraggeber des Architekten dazu verhelfen, diesen selbst zu verstehen.

Die Menschen, die einen großen Architekten mit dem Entwurf ihrer Umwelt beauftragen, erkennen den innersten Kern seiner vielfältigen Menschlichkeit und begreifen ihn ohne daß es hiezu der Worte bedürfte. Natürlich ließe sich auch behaupten, daß sie, nachdem sie in den Kreis seiner Schöpfung geraten, ihm ähnlich werden.

Hinter all den Photographien, die so ungewöhnliche Formen darstellen und so offenkundig ungewöhnliche Entscheidungen über Bauführung sowie Ausgabenpolitik widerspiegeln, spüren wir als das eigentlich Große, daß hier Menschen aneinander glauben, und zwar unter Aufwand eines fabelhaften Maßes von Glauben. Der Eindruck dieser Bilder ist deshalb so tiefreichend, weil sie uns mit dem Rätsel konfrontieren, wie denn Nehru, der Held des Volkes, den Einwänden (ob sie nun richtig oder falsch waren) der meisten seiner Ratgeber aus eben diesem Volk zuwiderhandeln konnte, wie er jenes felsenfeste Vertrauen erwerben und bezeugen konnte, das einem Ausländer galt, einem Französisch-Schweizer aus dem fernen Jura-Gebirge, der im Angesicht des Himalaya eine Stadt für beturbante Sikhs bauen sollte.

Was jedoch uns betrifft, scheint mir die Interpretation naheliegend, daß unsere Sehnsucht nach dem Dramatischen daher kommt, daß wir ausgehungert und verkümmert sind durch die Standardisierung, die — notwendigerweise — in unseren Vertrauensbeziehungen sich vollzogen hat, ob es sich nun um den Bankverkehr handelt, um die Politik, oder um die Spitalspflege für Kassenpatienten; die Krankenschwester, die mit standardisierter Heiterkeit in der Früh „Guten Morgen!“ sagt und am Abend, wenn sie das Licht löscht, „Schlafen Sie gut!“, funktioniert bloß als lebendes Tonband. Standardisierung ist nötig, aber sie hängt uns zum Hals heraus.

Picasso lacht und Le Corbusier — den ich bewundere, ohne der Nachahmung fähig zu sein — hebt die Brauen hinter seinen schwarzen Hornbrillen. Die Photographien dieser Persönlichkeiten sprechen über Zeit und Raum hinweg. Sie sind jenseits aller Standardisierung.

Vom jungenhaften Alkibiades, vom Jüngling Sokrates, Perikles, Phidias, Aspasia und (so vermute ich) vom Architekten Kallikrates gibt es keine Portrait-Identifikation zu Handen der Nachwelt. In einer kleinen, nationalistisch gesinnten, Stadt- und nicht Reichs-Charakter tragenden Demokratie standen diese Menschen zueinander in Beziehungen, die von der heutigen Interessenpflege mittels Golfspielens sehr verschieden waren. Ihre größere Menschlichkeit hinterließ eine Kulturspur, die zweitausend Jahre lang sichtbar blieb — bis um 1680 deutsche Artillerie im venetianischen Sold ein türkisches Pulvermagazin in die Luft jagte, ein Gebäude, das von den Alten „Parthenon“ genannt worden war. Aber noch in den athenischen Ruinen steckt mehr Persönlichkeit als in irgendwelchen Resten von Poseidonia oder Agrigent, zu geschweigen von der hellenistischen oder römischen Massenfabrikation. Persönlichkeit hat Attika ewig gemacht; wogegen jeglicher Kanon, sobald er seine Renaissance erfährt, bleigewichtige Langeweile verbreitet. Doch in der Vielfalt der Formen, die Le Corbusier einer fernen Zukunft überantwortet, wird man die Fülle einer eigenständigen Persönlichkeit erspüren.

Vielleicht sind Laien in einer besseren Position als Berufskollegen, wenn es darum geht, die Auftraggeber Le Corbusiers zu begreifen, z.B. Lady Sarabhai oder die Hindu-Textilfabrikanten, welche ein Museum bestellten und dann, wie es scheint, das Bauwerk in aller Stille einem andern Zweck zuführten. Möglicherweise kann kein Berufskollege das Verhältnis nachvollziehen, das zwischen Le Corbusier und der „Philips“-Gesellschaft besteht, für welche er auf der Brüsseler Weltausstellung arbeitete.

Konferenzsaal im Haus des Verbandes der Textilfabrikanten in Ahmedabad

Was das betrifft, wäre ich gern ein Kunsthistoriker, welcher mehr Übung in Selbstlosigkeit hat als ein praktizierender Architekt. Anderseits ist meine Bewunderung vielleicht desto gerechter, weil sie auf dem Vergleich mit meinen eigenen Fähigkeiten beruht, in der Tiefe menschlicher Beweggründe zu fischen und solcherart vergleichbare Beziehungen zu knüpfen (die in Wahrheit freilich unvergleichbar sind).

Als mir z.B. anvertraut wurde, unser Architekturbüro — samt Ingenieuren und Mitarbeitern — auf den Bau einer amerikanischen Botschaft in einem exotischen, mir fremden Land vorzubereiten, fuhr ich erst einmal dorthin (nach Pakistan) und mühte mich eifrig ab, Land und Leute, Vorurteile und Aberglauben, den Ministerpräsidenten und meine dortigen Kollegen kennenzulernen. Ich veranlaßte die Übersiedlung eines pakistanischen Assistenten zu unserer Firma; ich versuchte einige „Urdu“-Vokabeln mit der richtigen Physiognomie und den richtigen Gesten zu begleiten, als ich auf einer großen Freiluftversammlung sprach, zu welcher eine Handvoll örtlicher Architektur-Beflissener, mehrere Handvoll Experten und eine ziemlich umfangreiche Schar anderer Leute gekommen waren, um den „Amerikaner“ zu hören. Ein Architekt ist immer Botschafter des guten Willens.

Diese meine Denkweise mag jedoch für andere, höchst erfolgreiche Methoden der Annäherung nicht geeignet sein; das erkannte ich angesichts der Leistung Le Corbusiers.

Als ich in New Delhi bei Mr. Tapar zu Gast war — dem ehemaligen Gouverneur des Pandschab, welcher Le Corbusier bei Nehru in Vorschlag gebracht hatte — sprachen wir mit Bewunderung von dem großen Mann, der diese erlesene, außergewöhnliche und vielfältige Arbeit nun in Angriff genommen und der indischen Regierung so viel Ehre eingebracht hatte. Wie stets war ich sehr daran interessiert herauszufinden, wie ein so wichtiges, fruchtbringendes Vertrauensverhältnis zustande kommt und auf welche Weise es sich in diesem Fall weiterentwickelt hatte. Wie Mr. Hutheesing und die Familie Sarabhai mit Bezug auf Ahmedabad hatte Mr. Tapar auch meinen Namen erwähnt, als das Chandigarh-Projekt erörtert worden war, aber mit einer Vergütung in Rupien oder selbst englischen Pfunden war es damals unmöglich, für den Aufenthalt auch nur eines bescheidenen amerikanischen Architekten-Stabes aufzukommen. Länder mit harter Währung werden beneidet, aber sie haben es schwer, ihre Talente zu exportieren. Le Corbusier und seine Leute hingegen konnten beste, von Geist erfüllte Missionsarbeit leisten, wie sie die Entwicklungsländer so dringend brauchen.

Mr. Tapar zeigte mir eine wundervolle Planskizze, die ihm Le Corbusier mit einer französischen Widmung überreicht hatte. Ich fragte ihn, ob dem großen Unternehmen nicht sehr gründliche Erläuterungen vorausgegangen wären. Wie Mrs. Sarabhai in Ahmedabad schien auch Mr. Tapar in New Delhi anzudeuten, daß es dergleichen nicht allzu viel gegeben habe. Er fügte hinzu, daß Le Corbusier in seinen Erklärungen insofern behindert war, als er die englische Sprache nicht gut beherrsche. Ich war verblüfft. Ich glaubte mich zu erinnern, daß Le Corbusier ein besseres Englisch spricht als ich.

Vielleicht, dachte ich mir sodann, beruht Vertrauen nicht notwendigerweise auf verbalen Äußerungen. Von ihnen führt vielleicht kein zwangsläufiger Weg zur Verwirklichung eines Projektes. Mr. Tapar begleitete mich freundlicherweise nach Chandigarh, wo ich einige Zeit bei M. Jeanneri verbrachte, welcher dort in überwachender Funktion als Mitarbeiter Le Corbusiers tätig war. Es stellte sich heraus, daß M. Jeanneri nur französisch sprach, kein Englisch, erst recht kein Hindi. Aber er schien, und nicht nur an diesem Tag, mit einem herzhaften, überzeugenden Lachen das Auslangen zu finden.

Es war also wirklich möglich, den Bau einer ganzen Stadt auf diese Weise ins Werk zu setzen und zu überwachen: nicht so sehr mit Worten und wohlformulierten Anweisungen (wie dies Israel Pinhero tat, der Freund Juscelino Kubitscheks in Brasilia), sondern mit der gewinnenden Kraft der Persönlichkeit.

Mir dämmerte plötzlich, um wieviel ungeschickter ich gehandelt hatte, als ich einen „Urdu“-sprechenden Assistenten als ständigen Vertreter nach Pakistan senden wollte. Wenn M. Jeanneri in Chandigarh vier Jahre lang Hindi gesprochen hätte, oder auch Englisch, würde er unzweifelhaft ab und zu etwas Falsches gesagt haben! Le Corbusier ist weise. Er kann reden, aber auch schweigen. Er schickt keine sprachgewaltigen Sendboten, wenn es um Schöpfung geht. Sein Werk liegt so oft jenseits des verbal Erreichbaren. Dritte Personen würden zur Interpretation noch viel weniger befähigt sein als schon er selbst.

Schöpfung ist und bleibt eine Kategorie, die nur dem einzigartigen menschlichen Individuum sich eröffnet. Keine andere Hirn- und Nervenkraft als die des Menschen kann hier finden, begreifen, helfen, genießen — und dies gilt selbst für unsere ominöse Zukunft, welche das Massenhafte auf immer phantastischere Weise in Bewegung setzen wird.

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