FORVM, No. 213/I/II
September
1971

Berlin-Perspektiven

I. Berlin-Dokumente 1944-1971

Keine Stadt der Welt hat die internationale Politik sowie die Innenpolitik der betroffenen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg so stark beeinflußt wie Berlin. Politische und völkerrechtliche Problematik, vermischt mit Nationalismus und Emotionen, haben mitten in Europa einen Krisenherd geschaffen, der in den letzten 25 Jahren mehr als einmal den kalten Frieden dieses Kontinents bedroht hat.

Die Wurzeln für diesen Krisenherd liegen sicher schon an der Konstruktion der Aufteilung Deutschlands durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. (Genauer gesagt: schon in der deutschen Aggressionspolitik am Ende der dreißiger Jahre.)

In den „Londoner Protokollen“ vom 12. September 1944 wurde Deutschland in drei Besatzungszonen eingeteilt und eine gemeinsame Verwaltung für Berlin vorgesehen. Nach dem Beitritt Frankreichs lautete die abgeänderte Fassung vom 26. Juli 1945: „... Deutschland, innerhalb der Grenzen, wie sie am 31. Dezember 1937 bestanden, wird zum Zwecke der Besetzung in vier Zonen eingeteilt, deren je eine einer der vier Mächte zugewiesen wird, und ein besonderes Berliner Gebiet, das gemeinsam von den vier Mächten besetzt wird ...“ [1]

Im „Abkommen über die Entwicklung eines Kontrollapparates in Deutschland“ vom 14. November 1944 wird die Administration der ehemaligen Reichshauptstadt erläutert: sie sollte durch eine interalliierte Regierungsbehörde (später Kommandatura genannt) erfolgen, die dem Kontrollrat der Oberkommandierenden, der höchsten Autorität in Deutschland, unterstellt werden sollte [2] Die Pläne wurden durch die Konferenz von Jalta (11. Februar 1945 — Beschluß, Frankreich aufzufordern, eine Besatzungszone zu übernehmen) und durch das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 bestätigt.

In allen Abkommen fehlten zwei Punkte, was wesentlich zur völkerrechtlichen Unsicherheit Berlins beitrug: die Frage der territorialen Zugehörigkeit Berlins und die Frage der Sicherung der Zufahrtswege für Deutsche. Über diese Fragen wurde 25 Jahre ein Rechtsstreit geführt, der die politische Diskussion gewissermaßen wissenschaftlich überlagern sollte.

Die DDR behauptete, Berlin (also auch Westberlin) lägen auf dem Territorium der DDR, denn die Verwaltung durch die vier Mächte lasse die territoriale Zugehörigkeit zur sowjetischen Besatzungszone unberührt. In der Konsequenz dieser Auffassung ging die DDR in der Auseinandersetzung während der Zeit des Kalten Krieges manchmal so weit, daß sie behauptete, Westberlin gehöre eigentlich zur DDR — oder, wie Ulbricht es einmal formulierte, es sei der „westliche Vorort der Hauptstadt der DDR“.

Auf der anderen Seite wurde von Westdeutschland die Meinung vertreten, durch die Besetzung Deutschlands hätten die Alliierten überhaupt keine Entscheidung über die territoriale Zugehörigkeit Berlins getroffen, da sie vom Grundsatz der Nicht-Annexion ausgingen. Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten wurde dann die These von der Zugehörigkeit Westberlins zur Bundesrepublik aufgestellt. Darauf wird jedoch noch später eingegangen.

Schwierig war auch die Frage der Zufahrtswege. Da die Alliierten 1945 wenig an einem deutschen Reiseverkehr interessiert waren, bezogen sich die Abmachungen aus dieser Zeit nur auf das alliierte Personal. In einer Konferenz der Oberkommandierenden Clay, Weeks und Shukow wurde im Juni 1945 der freie Zugang für alliierte Fahrzeuge auf vorgesehenen Strecken beschlossen, drei Monate später der Zugang mittels Personenzügen. Die Luftsicherheitsbehörde betraf ebenfalls nur den alliierten Luftverkehr. [3]

Bis zum Westberlin-Abkommen 1971 gab es praktisch keine rechtliche Grundlage für den Verkehr zu Lande, zu Wasser und in der Luft zwischen Westberlin und der BRD — ausgenommen für Fahrzeuge der Alliierten. Die Zulassung oder Verhinderung des Verkehrs durch die sowjetische Besatzungszone lag beim Oberkommandierenden der Sowjetunion, nach Gründung der DDR und Übergabe der Kompetenzen für die Zufahrtswege bei den Behörden der DDR.

Die 1946 von den vier Besatzungsmächten erlassene „Vorläufige Verfassung von Groß-Berlin“ regelte im Artikel 1 (1), daß „Groß-Berlin ... die für das Gebiet der Stadtgemeinde Berlin alleinige berufene öffentliche Gebietskörperschaft (ist)“. [4] Damit erhielt Berlin staatsrechtlich einen besonderen Status als eigenes Land. Über Zufahrt oder Verbindungen zu den nicht angrenzenden Besatzungszonen Deutschlands wurde auch 1946 nichts ausgesagt.

Bis 1948 wurde die Situation des ehemaligen Deutschen Reiches wahrscheinlich auch als eine vorläufige angesehen, die erst durch einen Friedensvertrag gelöst werden sollte. 1948 änderte sich jedoch die Lage rapid. In den westlichen Besatzungszonen wurde eine separate Währungsreform durchgeführt, was nach Auffassung der Sowjetunion einen Bruch des Potsdamer Abkommens darstellte. Diese Währungsreform wurde kurz darauf auch noch auf die westlichen Sektoren Berlins ausgedehnt, obwohl noch einige Tage zuvor von den Westmächten verbindlich erklärt worden war, daß in allen Teilen Berlins nur eine einheitliche Währung gelten solle. „Die separate Währungsreform bedeutete die ökonomische Abspaltung der Westsektoren.“ [5]

Unter Berufung auf die Abhaltung der Londoner Sechsmächte-Konferenz über die deutsche Frage ohne Hinzuziehung der Sowjetunion, verließ am 20. März 1948 der sowjetische Vertreter den Alliierten Kontrollrat und am 1. Juli 1948 die Alliierte Kommandatura. Damit zerbrach auch die Viermächte-Verwaltung inBerlin. [6] Gleichzeitig verhängte die Sowjetunion — mit dem Hinweis auf den Bruch des Potsdamer Abkommens durch die Westmächte — eine Blockade über die Westsektoren zu Lande und zu Wasser. Das Kommuniqué vom 4. Mai 1949 (New Yorker Abkommen) verfügte die Aufhebung aller Beschränkungen und stellte den Zustand vor dem 1. März 1948 in bezug auf Handel, Transport und Verkehr von und nach Westberlin wieder her. Eine Regelung des Zugangs für Deutsche war aber auch hier nicht vorgesehen. [7]

Inzwischen war die Entwicklung so weit fortgeschritten, daß in beiden Teilen Berlins und Deutschlands gegensätzliche Gesellschaftsordnungen entstanden, jeweils unter dem Protektorat der zuständigen Besatzungsmacht. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und die als Reaktion darauf erfolgte Ausrufung der Deutschen Demokratischen Republik setzten nur den Schlußpunkt unter die endgültige Spaltung Deutschlands und Berlins.

Die Bundesrepublik erhob im Artikel 22 des Grundgesetz-Entwurfes (später Artikel 23 des Grundgesetzes) vom 19. Februar 1949 auch den Anspruch auf Groß-Berlin. Dieser Anspruch fand später dann auch seine Entsprechung in der am 4. August 1950 von der Stadtverordnetenversammlung Westberlins für Berlin beschlossenen Verfassung, in der es im Artikel 1 heißt: „(2) Berlin ist ein Land der Bundesrepublik. (3) Grundgesetz und Gesetze der Bundesrepublik Deutschland sind für Berlin bindend.“ [8]

Interessant ist, daß nicht nur die Sowjetunion von Anfang an die Rechtmäßigkeit dieses westdeutschen Anspruchs bestritt. Bereits am 2. März 1949 suspendierten die drei westlichen Militärgouverneure den Artikel 22 des Entwurfes des Grundgesetzes (GG). Bei einer Außenministerkonferenz der drei Westmächte in Washington wurde deren Haltung zum GG formuliert und am 22. April 1949 dem Parlamentarischen Rat zur Kenntnis gebracht: „Die Außenminister können gegenwärtig nicht zustimmen, daß Berlin als ein Land in die ursprüngliche Organisation der deutschen Bundesrepublik einbezogen wird ...“ [9] Am 6. Mai 1949 wurde der Bezug auf Groß-Berlin aus der Präambel des Grundgesetzes gestrichen.

In ihrem Genehmigungsschreiben vom 12. Mai 1949 an den Präsidenten des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, machten die Westalliierten verschiedene Vorbehalte geltend: Demzufolge erhielt Berlin keine abstimmungsberechtigte Mitgliedschaft im Bundestag oder Bundesrat und darf auch nicht vom Bund regiert werden. [10] Desgleichen wurden im Bestätigungsschreiben zur Berliner-Verfassung die Absätze 2 und 3 des Artikels 1 zurückgestellt. Weiters wurde ausgeführt, daß „während der Übergangsperiode Berlin keine der Eigenschaften eines zwölften Landes besitzen wird.“ [11]

Das Ersuchen der Stadtverordnetenversammlung vom 21. Juni 1949, die Aussetzung des Artikels 23 GG aufzuheben und Berlin als zwölftes Land in die Bundesrepublik einzubeziehen, wurde am 30. Juni 1949 von den alliierten Militärgouverneuren ausdrücklich abgelehnt.

Am 5. Mai 1955 trat die abgeänderte Fassung des „Vertrages über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten“ in kraft, nachdem die BRD „die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten“ erhielt. Der Berlin-Vorbehalt wurde erneut bestätigt, jedoch festgelegt, daß die „Drei Mächte die Bundesrepublik hinsichtlich der Ausübung ihrer Rechte in bezug auf Berlin konsultieren (werden).“ [12]

Am 14. Mai 1955 wurde in einem Schreiben der Alliierten Kommandatura ausdrücklich festgestellt, daß „Berlin nicht als Land der Bundesrepublik angesehen werden“ kann. [12]

Trotz der „Berlin-Klausel“ in Bundesgesetzen hat der Bundestag keine legislativen Rechte für Berlin, und bestimmte Gesetze werden in Berlin nicht angewendet, da das Besatzungsrecht Berliner Recht bricht. Z.B. gelten weder das Bundesverfassungsgerichts-Gesetz, noch die Wehrgesetzgebung oder die Notstandsgesetze in Westberlin.

In einer Note der amerikanischen Regierung an Chruschtschow vom 17. Juli 1961 und in einem Schreiben der Alliierten Kommandatura vom 24. Mai 1967 wurde erneut bestätigt, daß Westberlin nicht als Land der Bundesrepublik anzusehen und auch nicht durch den Bund zu regieren ist. [13] Die Bundesregierung und der Westberliner Senat versuchten verschiedentlich — z.B. durch verstärkte Präsenz des Bundes — den Status Westberlins zu verändern. Sie waren jedoch rechtlich keineswegs durch die Westmächte gedeckt. Im Gegenteil, die mehrmals erklärte Rechtsauffassung der westlichen Alliierten traf sich im wesentlichen mit der Haltung der UdSSR und der DDR, die wiederholt erklärten, daß sie eine Eingliederung Westberlins in den Bund nicht zulassen werden und die Ansprüche der BRD auf Westberlin für rechtswidrig erachten.

Völkerrechtlich verbindlich wurde diese Auffassung im „Vierseitigen Abkommen über Westberlin“ vom September 1971 festgelegt, wo es im Teil II, B heißt: „... daß diese Sektoren so wie bisher kein Bestandteil (engl.: constituent part, franz.: élément constitutif) der Bundesrepublik Deutschland sind und auch weiterhin nicht von ihr regiert werden.“ [14] In Anlage II des Abkommens, einer „Mitteilung der Regierungen der Französischen Republik, des Vereinigten Königreiches und der Vereinigten Staaten von Amerika an die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ wird diese Bestimmung wiederholt und auf die Suspendierung der ihr widersprechenden Artikel im Grundgesetz der BRD und der Verfassung Westberlins hingewiesen.

Der Rechtsstreit über die Frage der Zugehörigkeit Westberlins zur BRD müßte damit eigentlich beigelegt sein, wobei zu beachten ist, daß auch nach dem Viermächte-Abkommen keine positive Umschreibung des Status der Stadt vorhanden ist. Die DDR, die noch bis vor wenigen Monaten die These von der „Selbständigen politischen Einheit Westberlin“ als Versuch einer Definition gebraucht hat, verwendet diesen Terminus zumindest seit der Endphase der Botschaftergespräche nicht mehr.

II. Frontstadt Berlin

Eine politische Analyse des Rechtsstreites um den Status Westberlins in den vergangenen 20 bis 25 Jahren zeigt jedoch, daß für die Bundesrepublik vor allem innen- und „deutschlandpolitische“ Fragen bestimmend waren. Besonders im CDU-Staat hatte Westberlin eine zentrale politische Funktion, die durch 3 Ausdrücke charakterisiert werden kann: „Pfahl im Fleisch der DDR“, „Speerspitze des Kalten Krieges“ und „Billigste Atombombe“. Zumindest bis zum Mauerbau 1961 war Westberlin das Symbol und die Frontstadt des offensiven Antikommunismus mit dem Ziel der Eingliederung der DDR in die bundesrepublikanische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Gerade in dieser Phase war Westberlin Zentrum der westdeutschen Diversionsstrategie gegen die DDR, wobei die Stabilisierung der kapitalistischen Herrschaftsordnung in der BRD die inhaltliche Verknüpfung zwischen Deutschland- und Gesellschaftspolitik darstellte.

In dem 1971 in der Bundesrepublik erschienenen Buch „Invasionsziel: DDR“ [15] wird erstmals eine umfassende Darstellung dieser Strategie sowie deren Verbindung mit der „Diversion nach innen“ geleistet. Vor allem wird auf 3 Institutionen hingewiesen: den „Forschungsbeirat für die Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands“, dem die wissenschaftliche Planung für die Annexion der DDR, die sogenannte „Wiedervereinigung in Freiheit“, oblag und der vor allem Probleme der Rekapitalisierung in den verschiedenen Wirtschaftsbereichen behandelte; die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU) und die „Psychologische Kampfführung“ der Bundeswehr.

In Westberlin trat vor allem die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ in Erscheinung, deren Aufgabe darin bestand, den Tag X (Anschluß der DDR) politisch herbeizuführen. Diese arbeitete auch mit den Sabotage- und Agentenapparaten, den sogenannten „Ostbüros“, der politischen Parteien zusammen. Die KgU entwickelte sich Schritt für Schritt zu einer mehr oder weniger professionellen Sabotageorganisation. [16] Die „Ostberatung“ der KgU unterhielt die Verbindung mit den antikommunistischen Gruppen in der DDR, der „Flüchtlingsdienst“ sammelte Informationen und Biographien (im Sommer 1955 verfügte sie über 450.000 Biographien von DDR-Bürgern). Eine eigene Stelle beschäftigte sich mit der Anwerbung von Agenten, bei der beispielsweise mit dem Sender RIAS (Radio im amerikanischen Sektor) zusammengearbeitet wurde.

Neben dieser „Werbung für den eigenen Bedarf“ gab es eine umfangreiche Abwerbung qualifizierter Arbeitskräfte für die BRD-Wirtschaft, wobei hier eine Interessensparallelität zwischen dem wirtschaftlichen Nutzen und dem politischen Ziel der Hebung der Flüchtlingsquote bestand. Annoncen aus westdeutschen Zeitungen wurden gezielt an Facharbeiter, Ingenieure und anderes Fachpersonal verschickt. Reagierten diese nicht, so bekamen sie oft „je nach Lage einen Telefonanruf von einem heimlichen Freund, daß sie entweder in drei Stunden vom Staatssicherheitsdienst verhaftet werden sollten oder der ganzen Familie wegen der Fachkenntnisse der Betroffenen am anderen Tag um 9 Uhr 32 eine Zwangsverschickung nach Innersibirien bevorstand. Dies sollte zwecks eines dort neu zu errichtenden Kombinats geschehen und die ersten unteren Fachkräfte seien bereits aus der Zone geholt.“ [17]

Weitere Aufgaben der KgU bestanden in.der Planung und Durchführung von Sabotageaktionen gegen Wirtschaftsbetriebe in der DDR sowie der Störung der Verwaltung durch gefälschte Unterlagen, Verordnungen, Dienstanweisungen und Stempel. [18] Die KgU, die auch vom Westberliner Senat und vom Bundesministerium für „gesamtdeutsche Fragen“ finanziert wurde, geriet im Laufe ihrer Entwicklung immer stärker in die einseitige Abhängigkeit des CIA.

Nach dem 13. August 1961 hörte die geschilderte Tätigkeit zwangsläufig auf, wodurch die politische Funktion Westberlins mehr auf die Ebene der Symbolik verschoben wurde: als Vorposten westlicher Freiheit, dessen Anziehungskraft auf die Bevölkerung der DDR mit Milliardeninvestitionen hergestellt werden sollte. Dies war auch der Zeitpunkt, an dem die Bedeutung Westberlins für die westdeutsche Innen- und Gesellschaftspolitik deutlicher hervortrat. Mit dem Hinweis auf die „Unmenschlichkeit der Mauer und des dafür verantwortlichen Regimes“ konnten Emotionen politisch ausgenützt werden. Der ständige Appell an nationale Gefühle verbunden mit den abstrakten Forderungen nach Selbstbestimmung aller Deutschen und freien Wahlen stellte das Gesellschaftssystem des CDU-Staates als einzig menschliches und demokratisches heraus und verhinderte progressive Entwicklungen innerhalb der westdeutschen und Westberliner Gesellschaft.

Mit Schlagworten in der Deutschland- und Berlinpolitik wurde der Entpolitisierungsprozeß der Westdeutschen vorangetrieben: Man forderte leerformelhaft „Selbstbestimmung aller Deutschen“, ohne die Möglichkeit einer realen Selbstbestimmung im eigenen System, nämlich die gesellschaftliche Selbstbestimmung der Lohnabhängigen, anzustreben. [19]

Durch Emotionalisierung und unverhohlenen Nationalismus wurde der politische Prozeß in der BRD und in Westberlin bis an die Grenzen des Faschismus herangeführt, was sich nicht nur — oder nicht einmal in erster Linie — in der Zunahme des Neonazismus (NDP, Vertriebenenverbände), sondern vor allem in der Faschisierung der CDU/CSU und im wachsenden Rechtsopportunismus breiter Kreise der SPD zeigte.

III. Berlin-Milliarden für Unternehmer

Die Erhaltung des Symbols Westberlin gegenüber dem Osten und seiner innenpolitischen Funktion für die Gesellschaftspolitik in der BRD kostete dem westdeutschen Staat viele Milliarden D-Mark. 1968 betrugen die Steuerausfälle durch Berlin-Präferenzen sowie die direkte Bundeshilfe für den Bundeshaushalt zusammen zirka. 4,3 Milliarden DM (1967 zirka 4,1 Milliarden DM). [20] Der größte Teil dieser Beträge fließt direkt in die Taschen von Privatunternehmern; ihre Investitionen werden zu 25 Prozent direkt vom Staat subventioniert, dazu kommen noch bedeutende Steuergeschenke (75 Prozent der Kosten von Investitionen können im ersten oder in den ersten drei Jahren von der Steuer abgesetzt werden; Ermäßigung der Einkommens- und Körperschaftssteuer um rund 30 Prozent usw.).

Interessant ist, daß zirka 50 Prozent der aus öffentlichen Mitteln in die Stadt gepumpten Gelder als Kapitalflucht in die BRD zurückfließen. [21] Manche Konzerne schaffen ihre halbfertigen Erzeugnisse nur noch aus Steuergründen nach Berlin, bearbeiten sie dort ein wenig und streichen die Subventionen ein. Dann transportieren sie die Produkte — auf Kosten des Senats — wieder zur Endmontage in die Bundesrepublik. [22]

Diese staatlichen Geschenke an Privatkonzerne sind nicht einmal mit dem geringsten Einfluß des Staates auf die unternehmerische Disposition gekoppelt. Bis heute ist praktisch nichts zur wirtschaftlichen Gesundung der Stadt getan worden. Es wurden nur die Subventionen an das Privatkapital erhöht, was aber höchstens zur Symbolwirkung, nicht jedoch zur Lebensfähigkeit der Stadt beiträgt. Die ungesunde Wirtschaftsstruktur zeigt sich auch in der Außenhandelsbilanz: 99 Prozent des Handels der im Ostblock gelegenen Stadt werden mit dem Westen abgewickelt.

IV. Was bringt das Berlin-Abkommen 1971?

Was hat sich nun für Westberlin durch das Viermächte-Abkommen verändert? Obwohl die Verhandlungen zwischen dem Ministerrat der DDR und der westdeutschen Bundesregierung sowie zwischen der DDR und dem Westberliner Senat noch nicht abgeschlossen sind, kündigen sich doch einige Verbesserungen an. Jede Normalisierung der Beziehungen zwischen der BRD und der DDR sowie eine völkerrechtliche Verankerung des Status der Stadt kann für Westberlin nur nützlich sein. Vor allem wurde der Transitverkehr für Personen und Güter zwischen der BRD und Westberlin erstmals völkerrechtlich verankert.

Dazu kommt, daß die Sowjetunion und die DDR ihre ausdrückliche Zustimmung zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Bindungen (engl.: ties, franz.: liens) zwischen der BRD und Westberlin gegeben haben.

Auf der anderen Seite wurde die Lage auch dadurch konsolidiert, daß der Viermächte-Status auf Westberlin beschränkt wurde (Ost-Berlin wurde damit als Hauptstadt der DDR implizit anerkannt), die DDR erstmals völkerrechtlich verbindlich als Staat und Völkerrechtssubjekt genannt und die Nichtzugehörigkeit Westberlins zur BRD bestätigt wurde.

Das Abkommen entspricht somit sowohl den Interessen und der Lebensfähigkeit Westberlins als auch den souveränen Rechten und legitimen Interessen der DDR. Dies wurde nicht nur in der DDR- und der übrigen Ostblockpresse betont, sondern ist auch der überwiegende Tenor westlicher Zeitungen — ausgenommen der Springer-, CSU- und NPD-Presse in der BRD sowie des Chefkommentators des ORF, Alfons Dalma.

V. Wie soll es weitergehen?

Durch das Abkommen ist natürlich nur ein Rahmen gegeben, der die äußeren Bedingungen der Entspannung für weitere Entwicklungen in der Westberliner Innenpolitik, der Politik der BRD gegenüber Westberlin sowie der Beziehungen Westberlins zur DDR bietet. Davon ausgehend wird der völkerrechtliche Status Westberlins verbessert werden müssen. Ein Modell dafür hat der ehemalige Regierende Bürgermeister von Westberlin, Heinrich Albertz, vorgeschlagen: Eine Art internationale Kontrollbehörde für Westberlin, an der neben den vier Mächten auch die BRD und die DDR beteiligt sein sollen. Westberlin sollte ein integrierender Faktor gemeinsamer Verantwortlichkeit werden, von einem Zankapfel des Kalten Krieges zu einem Ort der Verständigung und Entspannung. Damit könnte Westberlin über den lokalen Vorgang hinaus für die internationale Politik Bedeutung erlangen. [23]

Ein anderes Modell wurde am 17. Juni 1969 von 42 bedeutenden Persönlichkeiten aus Westberlin und der BRD in der „Denkschrift für eine realistische Deutschlandpolitik“ vorgelegt (unterzeichnet haben u.a.: Heinrich Albertz, Theodor Erbert, Ossip K. Flechtheim, Dietrich Goldschmidt, Helmut Gollwitzer, Erich Müller-Gangloff, Rolf Niemann, Hansjakob Stehle): Dieses Modell sieht u.a. vor:

  • Die vier Alliierten vereinbaren die Ablösung des Besatzungsstatuts für Berlin mit der Folge, daß Westberlin ein eigenständiges politisches Gebiet wird.
  • Vertragliche Vereinbarungen zwischen Westberlin und den beiden deutschen Staaten über die außenpolitische Vertretung Westberlins durch die BRD; Zugehörigkeit Westberlins zum Währungsgebiet der BRD; Einbeziehung Westberlins in das Zoll- und Handelsgebiet der EWG und Handelsverträge mit dem RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe); Erweiterung der Dienstleistungen zwischen Westberlin und der DDR vor allem im Post- und Fernmeldewesen, Revision des Verrechnungsverfahrens u.a.
  • Bildung einer internationalen Garantiebehörde mit dem Sitz in Westberlin, bestehend aus USA, Großbritannien, Frankreich, UdSSR, BRD, DDR, Westberlin, Polen, ČSSR, Dänemark, Schweden und Finnland. [24]

Es gibt auch noch andere Vorschläge für den zukünftigen Status Westberlins, die im wesentlichen von der These der „Entmilitarisierten Freien Stadt“ bzw. „Friedensstatus“ Westberlins ausgehen. Doch kommen auch diese Vorschläge nicht ohne eine internationale Garantiebehörde aus, so daß sie als Abwandlungen der beiden erwähnten Modelle betrachtet werden können.

Innere Reformen der Stadt wären schon auf Grund der bestehenden Verfassung von 1950 nicht nur möglich, sondern sogar erforderlich. So bestimmt der Artikel 16: „Jeder Mißbrauch wirtschaftlicher Macht ist widerrechtlich. Insbesondere stellen alle auf Produktions- und Marktbeherrschung gerichteten privaten Monopolorganisationen einen Mißbrauch wirtschaftlicher Macht dar und sind verboten.“

Oder der Artikel 21 (1): „Handlungen, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, widersprechen dem Geist der Verfassung und sind unter Strafe zu stellen.“ [25]

Dennoch wurde ein Volksverhetzer wie Axel Springer bisher noch nicht bestraft und sind Vertriebenen-Happenings oder Aufmärsche zum Tag der „Deutschen Einheit“ weiterhin zugelassen. Hier wäre schon viel erreicht, wenn die Verfassungsbestimmungen einmal Anwendung finden würden.

Im Bereich der Wirtschaftspolitik wäre vor allem die Beendigung staatlicher Milliardengeschenke an private Konzerne und an deren Stelle der Aufbau staatlicher (bzw. kommunaler) Betriebe zu fordern. Dies würde nicht nur Spekulantentum und Kapitalflucht stoppen, sondern auch geplante Investitionen in industriell wichtigen Branchen möglich machen. Besonders müßte dabei auch eine stärkere Ausrichtung der Produktion auf die Bedürfnisse des natürlichen Hinterlandes der 2 MillionenStadt: der Deutschen Demokratischen Republik — erfolgen. Dadurch könnte zusammen mit einer Ost-West-Entspannung und einer gegenseitigen Anerkennung der beiden deutschen Staaten die Lebensfähigkeit der Stadt besser gesichert werden als durch die 99prozentige Ausrichtung auf den Westen und astronomische Subventionen.

Auch der Außenwirtschaftsminister der DDR, Horst Sölle, hat bei der Herbstmesse 1971 in Leipzig das Interesse der DDR an einer stärkeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Westberlin betont. Zweifellos würde durch diese Umorientierung der Westberliner Wirtschaft die Ineffektivität der Aufrechterhaltung des Marktsystems und die Notwendigkeit verstärkter Planung in Westberlin erweisen.

Dies müßte gekoppelt werden mit einer möglichst weitgehenden inneren Demokratisierung der kommunalen Wirtschaft in Richtung auf eine Selbstverwaltung der Arbeitnehmer.

Die einseitige Marktorientierung Westberlins auf den EWG-Raum könnte dann ebenso überwunden werden wie die manipulative Subventionspolitik der BRD, die Westberlin ohne Rücksicht auf eine eigenständige Lebensfähigkeit der Stadt zum Instrument reaktionärer Interessen entfremdet hat. [26]

Wegen der Begrenztheit des Raumes ist die Gefahr von Krisen durch Umstellungen in Westberlin relativ gering, jedenfalls weit nicht so groß als die ständige Krise durch eine Fortsetzung der gegenwärtigen Protektions-Wirtschaftspolitik. Ausgehend von neuen Ansätzen ökonomischer Strukturpolitik könnte auch der Demokratisierungsprozeß in anderen Gesellschaftsbereichen vorangetrieben werden.

Dadurch könnte Westberlin erstmals in seiner etwas mehr als 25jährigen Geschichte eine positive politische Funktion erlangen: als Stadt neuer Wege in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Gerade die soviel betrauerte Nichtzugehörigkeit zur BRD, die nun im September völkerrechtlich verankert wurde, könnte einen größeren Spielraum schaffen und sich günstig auf progressive Entwicklungen auswirken.

Allerdings werden solche Entwicklungen nicht von selbst einsetzen, sie sind auch keine notwendige Folge des Viermächte-Abkommens, sondern sie erfordern den verstärkten, organisierten politischen Kampf breiter Kreise der Lohnabhängigen in dieser Stadt. Der Politisierungsprozeß, der bei den Westberliner Studenten schon relativ weit fortgeschritten ist, ist in z.T. schon deutlich sichtbaren Ansätzen auch in der arbeitenden Bevölkerung im Entstehen. Es wird darauf ankommen, wie diese Ansätze weiterentwickelt werden und wie sich vorhandene, potentiell progressive Organisationen verhalten. Insbesondere besteht auch die Frage, ob der linke Flügel der SPD eine eigenständige sozialistische Politik gegen den Widerstand der rechten Parteiführung entwickeln kann und zu einer Kooperation mit anderen sozialistischen Gruppen bereit ist.

[1Zit. nach „Dokumente zur Berlin-Frage 1944-1966“, hrsg. vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Zusammenarbeit mit dem Senat von (West)-Berlin, München 1967, Nr. 1, S. 1f.

[2Siehe „Zur Rechtslage Berlins“, in: „Westberlin — Manipulation mit der Krise oder Friedendiakonie“ — Friedensbulletin Nr. 1, Westberlin 1969, S. 4.

[3a.a.O., S. 5.

[4zit. nach „Die Verfassung von Berlin“, Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (West)-Berlin, 1970, S. 4.

[5ADN-Interview mit dem Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht, zum Westberlin-Abkommen in: „Neues Deutschland“ vom 7. September 1971, S. 3.

[6Siehe Rolf Niemann „Der rechtliche Status Westberlins“ in: Heinrich Albertz und Dietrich Goldschmidt (Hrsg): „Konsequenzen oder Thesen, Analysen und Dokumente zur Deutschlandpolitik“, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 89; sowie „Dokumentation zur Deutschland-Frage. Von der Atlantik-Charta 1941 bis zur Berlin-Sperre 1961“, Hauptband I, Bonn—Wien—Zürich 1961, S. 68.

[7Vgl. „Zur Rechtslage Berlins“, Friedensbulletin a.a.O., S. 5.

[8„Die Berliner Verfassung“ a.a.O., S. 27.

[9Zit. nach „Dokumente zur Berlin-Frage“, a.a.O., Nr. 85, S. 113; vgl. auch Rolf Niemann, in: „Konsequenzen“, a.a.O., S. 90f.

[10Siehe Rolf Niemann, in: „Konsequenzen“, a.a.O., S. 91.

[11Bestätigungsschreiben zur Verfassung vom 29. August 1950 in: „Die Verfassung von Berlin“ a.a.O., S. 45.

[12Rolf Niemann, in: „Konsequenzen“, a.a.O., S. 94f.

[13Rolf Niemann, in: „Konsequenzen“, a.a.O., S. 98f.

[14„Vierseitiges Abkommen“, Teil II „Bestimmungen, die Westsektoren Berlins betreffend“, zit. nach „Neues Deutschland“ vom 4. September 1971, S. 3.

[15Karl Heinz Roth unter Mitarbeit von Nicolaus Neumann und Hajo Leib „Psychologische Kampfführung. Invasionsziel: DDR. Vom Kalten Krieg zur Neuen Ostpolitik“. konkret Buchverlag, Hamburg 1971.

[16Karl Heinz Roth „Die ‚Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit‘“, in: „Invasionsziel: DDR“, a.a.O., S. 85.

[17Zit. nach Karl Heinz Roth, a.a.O., S. 101 ff., dazu Photokopien von Originaldokumenten S. 139 ff.

[19Vgl. Götz Schwarzrock „Die Deutschland- und Berlin-Politik im Blick kritischer Studenten“, in: „Konsequenzen“, a.a.O., S. 176.

[20Vgl. Joachim Mänicke „Der wirtschaftliche Status Westberlins“ in: „Konsequenzen“ a.a.O., S. 109 (Zahlen vom Bundesministerium für Finanzen, Vertretung Berlin).

[21Zur ökonomischen Situation von Westberlin in: „Friedensbulletin“ a.a.O., S. 20.

[22SPIEGEL Nr. 36/1971, S. 29.

[23„Berlin-Frage unlösbar?“, Interview mit Heinrich Albertz von Adalbert Krims, in: „Kleine Zeitung“ vom 7. Februar 1971, S. 4.

[24Denkschrift für eine realistische Deutschlandpolitik. In: „Konsequenzen“, a.a.O., S. 19.

[25„Die Verfassung von Berlin“, a.a.O., S. 29 f.

[26„Zur ökonomischen Situation von Westberlin“ in: „Friedensbulletin“ a.a.O., S. 25; vgl. dazu auch „Rote Presse Korrespondenz“ Nr. 8, Westberlin 1969.

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