FORVM, No. 146
Februar
1966

Blätter der Erinnerung

Die Wildgänse

Zu einer gewissen Zeit brachten es die Umstände mit sich, daß ich fast jeden Sonntag nachts, gegen zehn Uhr etwa, über den Heldenplatz zu gehen hatte; und zwar kam ich von meinem Vater aus der Josefstadt und war auf dem Wege zu meiner Mutter, bei der ich in der Innern Stadt wohnte. Denn die Ehe meiner Eltern war geschieden, doch hatte man ausbedungen, daß ich, wenn ich in Wien war, meinen Vater jeden Sonntagabend aufzusuchen haben würde.

Um aus der Vorstadtgasse, in der er wohnte, zu ihm zu gelangen, hatte ich zuerst die lange, holzgepflasterte Einfahrt eines Vorderhauses zu durchschreiten, dann über einen Hof zu gehen, der mit kachelartigen Ziegeln ausgelegt war, und schließlich im Hinterhause in den ersten Stock zu steigen. Dort wohnte er. Einige seiner Fenster gingen auf den Hof hinaus, durch den ich geschritten, die andern in einen Garten, der von den Hinterfronten der Häuser, die ihn umgaben, und von Feuermauern eingeengt war.

Das Haus und auch die meisten Häuser rundum mochten aus den Achtzigerjahren stammen. Damals hatte das Gewerbe in der Vorstadt einen raschen Aufschwung genommen, und auch dort in jenem Bezirk hatte jeder versucht, seinem Hause ein anspruchsvolleres Aussehen zu geben; oder man hatte die Häuser überhaupt abgerissen und sie im pompösen Stil der — damals — neuen Zeit wiedererrichtet; und dieser Stil, diese ganze Zeit hatten insoferne noch immer etwas Gespenstisches, als sie, kaum daß sie begonnen, auch schon wieder ein Ende genommen hatten. Nicht zwar, daß die ganze Gegend inzwischen etwa das geworden wäre, was man eine schlechte Gegend nennt. Doch konnte man sich längst nichts Besonderes mehr dabei vorstellen, es war alles vollkommen gewöhnlich geworden. Bei uns im Ersten Bezirk gingen, zumindest zwischendurch, mancherlei Leute in Pelzen und mit Zylinderhüten und Offiziere mit allerhand Goldborten und Fangschnüren vorbei, und hin und wieder stand vor unserem Hause sogar der Wagen einer Erzherzogin, die eine ihrer gewesenen Hofdamen besuchen mochte, auf dem Bock warteten der Kutscher und der Lakai ganz unbeweglich, die schweren Schimmel wagten kaum zu misten, und die goldenen Räder standen so still, ja noch stiller als diejenigen, von denen der starke Arm der Sozialdemokratie damals schon wollte, daß sie stillestünden, die sich aber trotzdem noch ein paar Jahre weiterdrehten. Hier in der Vorstadt hingegen ging statt der Offiziere bloß ein Briefträger oder höchstens ein Korporal vom Infanterieregiment Nr. 4 vorbei, der die Töchter eines Fleischermeisters besuchte, und statt der Unnumerierten gab es nur Einspänner oder Kohlenwagen.

Seine zwei oder drei Zimmer hatte mein Vater mit Eichenmöbeln eingerichtet, die, wie das Haus, aus den Achtzigerjahren stammten, doch auch mit andern, die aus früheren, immer bescheidener gewordenen Mietwohnungen seiner Familie herwaren; und nur hin und wieder gab es dazwischen auch noch Dinge aus diesem oder jenem Hause, das wir einst, etwa noch in Niederösterreich oder Mähren, besessen hatten, darunter zwei Landschaften aus dem Anfange des siebzehnten Jahrhunderts, die so klein waren, daß ich mir einbildete, wir hätten sie aus der Gegend von Namur, woher wir damals gekommen waren, um den Dreißigjährigen Krieg richtig mitanzuzetteln, „in den Packtaschen“ mitgebracht. Aber Packtaschen hatte es zu jener Zeit noch gar keine gegeben, höchstens Mantelsäcke; und daß man darin diese eckigen Gemälde mit aufgeschnallt gehabt hätte, war unwahrscheinlich. Sie mochten sich also irgendwo anders unter dem Gepäck befunden haben. Jedenfalls hatte man ein seltsames Gefühl, daß es unter den ganz gewöhnlichen Dingen hier, die sich auf nichts Einstiges mehr bezogen, auf einmal auch welche gab, die ein paar Jahrhunderte alt waren. Man wurde sich dieses Umstandes zwar nicht immer bewußt, der Blick glitt über die beiden Bilder hinweg wie über all die andern Dinge, die in ihrer Alltäglichkeit so alterslos geworden waren wie eine Zugehfrau. Fiel einem aber dennoch ein, um wie viel älter die Bilder waren als alles andre, so meinte man fast, gleichsam auf eine Falltür getreten zu sein, welche auf einmal nachgab und durch die man in eine Vergangenheit stürzte, die es ablehnte, noch irgendetwas mit der Alltäglichkeit zu tun zu haben, die einen jetzt umgab.

Wenn ich aus solchen Gedanken aufschrak, fand ich es um so sonderbarer, daß überall in den Zimmern auch die Vorhänge fehlten.

Beleuchtet, jedenfalls, war diese Szenerie von einer Hängelampe mit dunklem Schirm, die eigentlich nur den Mitteltisch zu erhellen hatte und den übrigen Raum im Dämmer ließ; und durch die vorhanglosen Fenster sah man die Lichter in den Hinterfronten der andern Häuser, die den winterlichen Garten umgaben.

Hier saßen wir und tranken, zum Abendessen, Tee, den mein Vater vortrefflich zu bereiten verstand, behauptete er doch, er habe die richtige Zubereitung in Japan gelernt. Auf den selben Standpunkt stellte er sich, was die Reiszubereitung betraf, und auch den Fudschijama hatte er, irgendwo von der See her, gemalt. Er hatte, wie im „Zauberberg“ von einem dortselbst vorkommenden Holländer, einem sicheren Pieter Peeperkorn, behauptet wird, „Kapitänshände“, die bei all ihrer Breite und Kräftigkeit in äußerst schlank werdende Finger mit „lanzettförmigen“ Nägeln ausliefen, nur daß sich, bei ihm, die Nagelspitzen wieder was weniges über die Fingerspitzen bogen; und überhaupt konnte Mynheer Peeperkorn gar keine wirklichen Kapitänshände gehabt haben, weil er ja bloß irgendeiner der in Holland zahllos vorkommenden Händler gewesen war — mein Vater aber hatte wirkliche Kapitänshände gehabt, denn er war ja auch ein wirklicher Kapitän gewesen, allerdings erst seit er aus der Kriegsmarine ausgeschieden war oder vielmehr hatte ausscheiden müssen und sich um ein Patent als Kapitän Langer Fahrt beworben hatte, oder Großer Fahrt, wie es in Deutschland heißt, weil dort alle Bezeichnungen um eine Spur schwülstiger sind als hierzulande. Aber er ging nie auf Große Fahrt, sondern er zog es vor, sich, auf dem Festlande, der Erfindung von Maschinengewehren und Seeminen hinzugeben, die niemand brauchen konnte, es sei denn, daß ihm die Rumänen welche abkauften; und am Ringfinger der Linken trug er einen Siegelring mit blauem Stein, in welchen, bis zur darunterliegenden schwarzen Schicht des Steins, das Siegel graviert war. Der Helm des Siegels war von einer Lilie überhöht, die mein Vater, in seiner Ahnungslosigkeit, als „bourbonisch“ bezeichnete, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil man alle Lilien schlechthin als bourbonisch zu bezeichnen pflegte, ob sie es nun waren oder nicht, etwa wie man auch die vom guten Kaiser Franz in Laxenburg hingebauten architektonischen Greuel für ein mittelalterliches Schloß hielt; und später mußte ich immer wieder lachen, wenn ich daran zurückdachte, daß er eigentlich recht gehabt hatte, weil es wirklich eine Lilie von jener Art gewesen war.

Allen Söhnen der Familie waren, von ihren Eltern, derlei Ringe geschenkt worden, wenn sie Offiziere geworden waren.

Mein Vater bildete sich ein, Konversation mit mir machen zu müssen, wobei er die Zigarettenasche von Zeit zu Zeit in eine halbe Meermuschel streifte, die ihm als Aschenbecher diente und die er gleichfalls aus Japan mitgebracht haben mochte; und wenngleich seine Unterhaltung mit mir einen ostentativen Stich ins Erzieherische hatte, wäre sie, an sich, nicht unangenehm gewesen. Aber es war doch alles ein wenig traurig, die Schwermut des Sonntagabends kam dazu, fast nichts mehr unterschied die Wohnung dieses Mannes von den Wohnungen irgendwelcher kleiner Leute, und ich war jedesmal fast froh, wenn ich wieder gehen konnte. Mein Vater war der letzte einer langen Reihe von Menschen, die immer weniger und weniger Glück gehabt hatten, und seine Situation erinnerte mich an die jenes friderizianischen Hauptmanns, der seinem Könige geklagt hatte, er habe immer nur Unglück gehabt; worauf ihm Friedrich entgegnet hatte, einen Offizier, der kein Glück habe, könne er nicht brauchen. Ich weiß nicht, ob dies wirklich des Königs Überzeugung gewesen war — auf jeden Fall aber macht das Unglück, das andre immerzu haben, am Ende auch einen selbst nervös. Auch meinen Vater hatte man schließlich, wie jenen Hauptmann, nicht mehr brauchen können, ich verließ ihn immer wieder im Zustande nervlicher Herabgesetztheit und merklicher Ungeduld, und eigentlich war es ja auch wirklich merkwürdig, daß einmal eine Situation nicht zu umgehen gewesen war, in der man seinen letzten Wald, sein letztes Pferd, seinen letzten Pflug hatte verkaufen müssen, um in die Stadt zu ziehen, wo es alles dergleichen nicht mehr gab. Auch von der Brücke seines Torpedobootes war mein Vater irgendwann zum letzten Male gestiegen, um dann, pro forma, noch eine Zeitlang das Matrosendetachement in Triest zu kommandieren, bis er endgültig von den Sieben Meeren verschwunden war; „und nun“ — so hieß es irgendwo „nun war die Woge weit“ ...

Wenn ich von ihm heimkehrte, ging ich zuerst die Josefstädter Straße hinab und überquerte den Ring, dann ging ich durch den Volksgarten und über den Heldenplatz. Da hörte ich, wenn es gegen das Ende des Monats Februar ging, oben im Dunkel über mir, das von den Lichtern der Stadt angestrahlt war, ziehende Wildgänse schreien.

Dies war das erste Zeichen des Frühlings, ja der Natur überhaupt, die überwintert hatte und sich nun wieder zu regen begann. Das Dunkel, wenngleich es eigentlich durchsichtig und erhellbar hätte sein müssen, war dennoch wie etwas Opaques, Kompaktes angestrahlt, ringsum, meilenweit, lag die steinerne Stadt, und rings um die Stadt lag die erstarrte Natur, das ebene Niederösterreich, das da und dort von Hügeln umgrenzt war, auf denen die Föhren im Winterwind sausten — aber zwei- oder dreihundert Fuß über der Stadt endete sie — die Stadt verhältnismäßig bald auch hinaufzu, und auch dort oben, wie eine wärmere Luftschicht — denn seltsamerweise steigt die Wärme nicht von unten hinauf, sondern sie senkt sich von oben herab — lag wiederum die Natur, und in ihr, die dort oben schon erwacht war, zogen die Wildgänse.

Man hörte sie deutlich, der Verkehr war damals noch nicht halb so hektisch wie heute, wo sich jeder, der sein Leben lang zu Fuß gegangen ist, auf einmal einbildet, einen Wagen fahren zu müssen, trüb schimmerten die Lichter der Gaslaternen, die toten Rasenflächen lagen wie eine nächtliche Steppe ringsum, in den kahlen Kastanienbäumen flüsterte der Winterwind — oder war’s doch schon der Frühlingswind, der sich in ihnen rührte — und oben zogen die Wildgänse. Vielleicht zogen sie wieder dorthin zurück, woher auch wir selbst einst gekommen waren.

Damals, jedenfalls, kannte ich die Verszeilen noch nicht, die ein japanischer Dichter, Ohotsune Ozi, etwa um das Jahr 700 über das Ziehen der Wildgänse geschrieben hatte. Sie wären mir, diese Verse, anders gewiß in den Sinn gekommen. Der Autor, der sie gedichtet, ein kaiserlicher Prinz, hatte geglaubt, Ansprüche auf den Thron erheben zu können, doch waren seine vom Schall der Muscheltrompeten angeführten Scharen geschlagen worden, seine Fahnen und Feldzeichen waren gesunken, man hatte ihn aus seinen eisernen Steigbügeln, den Abumi, geworfen, des Kommandostabes, seiner beiden Schwerter, der Daisho, beraubt und der großen Rüstung, der Flügel des Schulterschutzes und des brokatenen Waffenrockes entkleidet. Man hatte ihn verurteilt, und schließlich wartete er nur noch auf seine Hinrichtung am heiligen See. Da schrieb er diese Verse:

Blüten schneien.
Über den grauen See
hängen Nebelschleier.
Wilde Gänse schreien
am heiligen Weiher von Iware.
 
Düsterer Träume Schar
tanzt in drohenden Reihen.
Mein Herz ist schwer.
Im kommenden Jahr,
wenn die Wildgänse schreien,
bin ich nicht mehr.

Der Turm

In der Stadt lebten wir in einer Mietwohnung, auf dem Lande aber brachten wir den Sommer in einem eigenen Hause hin. Dieses Haus, nicht alt zwar, aber altmodisch, war von einem italienischen Baumeister errichtet. Es wies demzufolge auch allerhand italienische Bauelemente auf, sehr dicke Mauern zum Beispiel, die den Aufenthalt im ohnedies schon kühlen Salzkammergut noch kühler machten, eine gewisse Abschrägung der mit rustik behauenen Steinen verkleideten Grundmauern, was mit Abstand an die Architektur etwa der florentinischen Paläste und an die Fundamente der sogenannten Castelli Svevi in Süditalien erinnerte, eine Terrasse, von welcher Regen und Schnee geradewegs ins Haus zu sickern vermochten, und dergleichen mehr. Am italienischesten aber wirkten zwei übereinanderliegende fünfeckige Erker an der Südostecke des Hauses. Der untere Erker war gleichsam eine Ausbuchtung der in einer Art von Souterrain gelegenen Herrschaftsküche, welche baulich aus einer sogenannten Sala Terrena entstanden sein mochte, der obere Erker eine ebensolche Ausbuchtung des Speisezimmers im ersten Stock, der jedoch zufolge der Versenktheit der ganzen Hausanlage in den Boden eigentlich nur ein erhöhtes Hochparterre war.

Den Küchenerker schloß eine Holzwand ab, die, inmitten, eine Tür aufwies. Er hatte in seiner außen abgeschrägten, bei drei Fuß dicken Mauer bloß ein einziges, vergittertes und mit Jalousien versehenes Fenster nach dem Süden. Hier wurden die verschiedensten Haushalts- und Gebrauchsgegenstände sowie auch allerhand andre Dinge aufbewahrt, die man nicht ständig zur Hand haben mußte und die dortselbst abgestellt worden waren: ein völlig altmodischer Eisschrank zum Beispiel, Leitern, die in jener Gegend Staffeleien genannt wurden, ein Kistchen mit Schuhputzzeug, ein Bügelbrett, Petroleumlampen für den Fall, daß das elektrische Licht ausging, was es bei jedem Gewitter zu tun pflegte, und dergleichen mehr. Der kleine Raum, mehr noch als die Küche, atmete eine gewisse Gesichertheit, ja Kellerkühle, denn daß man sich hier schon, zumindest mit halbem Leibe, im Innern der Erde befand, war deutlich zu merken, und die Dicke der Mauern vermittelte den Eindruck, daß sie selbst dem einen oder andern Schusse aus Feldgeschützen standzuhalten vermocht hätten — einen in einem Sommerhause allerdings was weniges abwegigen Eindruck also; aber wenn man, wie meine ganze Generation, gewohnt war, auch Kurorte beschossen zu sehen, so war der Eindruck dennoch so abwegig nicht.

Der Erker im ersten Stock hingegen hatte nicht weniger als vier der räumlichen Eingeschränktheit wegen sehr schmale, dafür aber um so höhere Doppelfenster mit Jalousien. Da es Schiebefenster waren, die jedoch, gleichfalls aus Raummangel, nicht seitwärts, sondern auf- und abwärts zu bewegen und, sei’s nun oben, sei’s unten, festzuriegeln waren, lief man, wenn man sich aus ihnen hinausbeugte, Gefahr, daß sie, sobald sie oben nicht, oder nicht fest genug, verriegelt waren, wie die Messer von Guillotinen herabstürzten und einen wenn schon nicht köpften, so doch zumindest empfindlich auf den Kopf trafen. Von diesem Umstande abgesehen, der aber nur, oder vor allem, Leuten peinlich sein konnte, die mit den Königen von Frankreich oder zumindest mit Marie Antoinette verwandt waren, konnte der obere Erker für den angenehmsten Aufenthaltsort gelten. Er war mit zwei alten Lederfauteuils aus dem Besitze der Holenias und mit der Nachahmung eines gotischen Stuhls aus irgend einem am Avon gelegenen Schlosse der Warwicks, der englischen Königsmacher, sowie einem inmitten dieser drei Stühle stehenden runden Tisch möbliert, auf dem ein paar unaktuelle Bücher zu liegen pflegten, darunter ein etwa hundert Jahre alter geographischer Atlas mit Darstellungen der Fahnen und Orden längst liquidierter Kaiser- und Königreiche, mit den Stahlstichen inzwischen bereits vollkommen anders aussehender Städte, zum Beispiel New Yorks, welches sich noch ohne die mindesten Wolkenkratzer darstellte, und mit Landkarten, die überhaupt nicht mehr stimmten ... im übrigen aber war nichts behaglicher, als hier zu sitzen, zu rauchen, Bonbons zu essen oder auch bloß vor sich hin zu blicken und dem Rauschen des Laubwerks rundum und dem Anschlagen des Regens an die Fenster zu lauschen, mit denen man sich guillotinieren konnte.

Merkwürdig, jedenfalls, war es, daß man hier, wo man sich doch gleichsam nur in einem Hausanbau befand, die Vorstellung hatte, sich im eigentlichsten, ja sozusagen innersten Teil des Hauses zu befinden. Spinneweben, welkes Laub vom Vorjahr und tote Fliegen und Falter sammelten sich in den Winkeln der Doppelschiebefenster an und waren von dort, der verfehlten Konstruktion der ganzen Anlage wegen, nicht mehr zu entfernen, verwilderte Kletterrosen wuchsen außen an den Erkern empor und wollten im Schatten der vielen Bäume, die rings um das Haus standen, nicht sonderlich gedeihen, Feuchtigkeit drang, von der Freitreppe her, in den Erker, so daß die Tapeten Blasen warfen, und wenngleich im Laufe der Jahre mehr und mehr Wagen in der Nachbarschaft parkten und Lastautos ganze Verschläge voll Coca-Cola, Bier, Obst und Gemüsen abluden, Touristen in lächerlichen Trachten vorbeigingen und der Unfug der Prosperität wuchs, machte die ganze Anlage nach wie vor den Eindruck, daß sie älter sei, viel älter, als es in Wirklichkeit der Fall war. Es war ein Bau aus den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, aber er hätte, so meinte man, auch unbestimmbar alt sein können.

In den Jahren zwischen den beiden großen Kriegen unternahm ich mehrere Reisen nach Italien, wo mir vor allem die sogenannten Torri Gentilizie, die mittelalterlichen Türme der Vornehmen, in die Augen sprangen. Vorzeiten nämlich hatten die Edlen feste Türme neben ihren Wohnhäusern errichtet und sich in Zeiten der Gefahr dorthinein geworfen, nicht nur um selber Schutz darin zu finden, sondern auch um ihre Feinde von dorther anzugreifen. Doch war es dabei weniger auf die Solidität und Stärke der Mauern, als vielmehr auf die Höhe der Türme angekommen, und zwar deshalb, weil man aus den höheren Türmen die in den Mauerkronen der niedrigeren Türme versammelten Gegner mit um so größerem Erfolge zu bewerfen beziehungsweise zu beschießen vermochte. Je mächtiger eine Familie war, eine um so größere Höhe ihrer Befestigungen vermochte sie auch durchzusetzen, und Asinelli in Bologna ist an die 500 Fuß hoch, während es die Garisenda nur auf etwa 350 Fuß Höhe brachte. In San Gimigniano aber mußten alle Adelstürme insgesamt niedriger sein als der Turm des Municipiums. Wie von steinernen Wäldern starrten die Städte Italiens schließlich von solchen Türmen, und erst die Einführung schwerer Geschütze machte den Turmbauten ein Ende. Die Türme begannen abzubröckeln und sich seitwärts zu neigen wie die Garisenda, zumeist wurden sie, weil ihre Ruinen die Umgebung gefährdeten, überhaupt abgetragen, und was am Ende stehenblieb, waren nur noch die Stümpfe der Türme, die hin und wieder sogar noch niedriger geworden waren als die Häuser selbst.

Über alledem wurde mir klar, daß auch die beiden übereinanderliegenden Erker unseres Landhauses, baulich gesehen, nichts andres sein konnten als die Nachahmung des Turmstumpfs eines Hauses in Italien. Der italienische Baumeister, der unser Haus errichtet, hatte ein vornehmes italienisches Haus samt dem Turmstumpfe, vielleicht sogar ohne überhaupt zu wissen, was dieser Anbau eigentlich sei oder hätte sein sollen, in einem Lande nachgeahmt, das ihm gleichfalls fremd war, und den Anbau zu zwei Erkern ausgestaltet.

Ich weiß nicht, warum es mich freute, daß unser Haus nicht nur nützliche Einrichtungen, wie Wasserleitungen, Ausgüsse, Kanalisationen, Kontakte, Isolierungen, Boiler und dergleichen in sich schloß, sondern daß es auch mit einer Art von Turm versehen war. Der Turm war völlig nutzlos geworden, er schützte das Haus nicht mehr im mindesten, doch wenn man ihn auch erst zu einer Zeit errichtet hatte, wo man, sonst, längst keine Türme mehr baute, so war’s doch ein Turm immerhin, und das freute mich.

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