Chronologie eines Motivationsproblems
Genealogie
Juni: Michel Foucault ist seit zwanzig Jahren tot, das wird vielerorts beschrieben, aber Context XXI erscheint nicht zum passenden Zeitpunkt und zudem sind die theoretischen Vorlieben der Redaktion nicht gerade zu Gunsten des Theoretikers der Macht verteilt.
August: Ich warte am Westbahnhof und langweile mich. Am Kiosk sind die wenigen Ausgaben der Jungle World schon verkauft, konkret ist noch zu haben, nicht aus Nostalgie oder Gewohnheit, schon eher wegen des wirklich gelungenen Covers — acht Seiten extra Foucault und der Islam — und natürlich wegen der Langeweile kaufe ich was angeboten wird.
September: Ich behaupte in einer Redaktionssitzung einen Text zu Foucault schreiben zu wollen, vielleicht auch mit oder in dessen Terminologie, jedenfalls die — in diesem Rahmen überwiegenden — kritischen Tendenzen zu ergänzen. Auch der Anspruch eines konstruktiven Austausches unterschiedlicher Positionen und Vorlieben ist irgendwo im Raum (natürlich nicht expliziert, Wünsche und Vorhaben bedürfen keiner ständigen Wiederholung, um gegenwärtig zu bleiben).
Ende September: Redaktionsschluss, eigentlich. Der Termin gilt nicht unbedingt für alle, ich konkretisiere mein Vorhaben nicht, die Pläne sind auch denkbar vage, denn es gibt jedenfalls ein paar gute Gründe Foucault zu lesen:
Da wären mal die absolut zitationswürdigen Sätze, die ihn zudem mit Deleuze/Guattari verbinden und die Vermutung nähren, dass ein Teil der Aggression gegen ihn/sie aus dieser hervorragenden Fähigkeit resultiert: „Solange man nur ad infinitum das immergleiche Anti-Repressionslied singt, bleiben die Dinge unverrückt, und es ist ganz gleich wer den Gesang anstimmt, es hört ihm doch keiner zu.“ [1]
Allein damit ist schon viel gesagt, oder verdeckt, wie mancher meint, der „nur mit Hilfe komplizierter Operationen“ den „stockaffirmativen Charakter der Foucaultschen Philosophie“ offenlegen kann. [2] Mir bliebe, an die produktiven Aspekte der Macht zu erinnern und an ihre libidinösen Besetzungen, denn auch Foucault unterscheidet zwischen Herrschaft und Macht. Seine Ablehnung jeglicher Form der Totalisierung findet durchaus eine Entsprechung in Adornos Absage an Hegels absoluten Weltgeist als totale Identität. [3] Dem Bedürfnis die Totalität der Gesellschaft zu erfassen, ein Gesetz zu definieren, dessen Bedeutung alle Missstände kapitalistischer Vergesellschaftung in einer Art Schwerpunkt konzentriert und so qua Erkenntnis deren Überwindung ermöglicht, steht der „unbegriffene“ Fetischcharakter der Waren gegenüber. Die naheliegende Polemik, warum selbst oder gerade viele Linke dieses verdinglichte Bewusstsein nicht begreifen wollen und einen wesentlichen Schritt zu ihrer Emanzipation tun, könnte ebenso gut auf andere Ansätze übertragen werden. Wieder eine Möglichkeit weniger, einen Text zu Foucault zu schreiben, zudem forderte Foucault im selben Gespräch einen „Augenblick neuer Beweglichkeit und neuer Verschiebung“. Die naheliegende Assoziation hierzu wäre, dass im deutschsprachigen Kontext der Terminus „Bewegungslinke“ nur mühsam seine pejorative Bestimmung verliert, zudem erinnert hierorts die proklamierte Dynamik an Hochphasen des dritten Lagers, rechtsextreme Parteien sind insoweit konservativ, als sie immer wieder an ihre historischen Vorbilder erinnern.
Produktion — Konfrontation
Ich kann mich für den Rezeptionswunsch von Deleuze/Guattari begeistern: die Aneignung einer Verfügung über ihre Bücher möge ähnlich dem Umgang mit Musik auf diversen Tonträgern funktionieren, also nicht im Sinne eines klassischen Dramas, in dem die Aktfolge wichtig ist. Vielleicht verhindert dieser leichtfertige Umgang eine „ernsthafte Beschäftigung“. Diese Ernsthaftigkeit stellt aber eine der herausragendsten Eigenschaften kritischer Theoriebildung dar, das Ideal der deduktiven Erkenntnis erfordert ein hohes Maß an argumentativer Strenge, wobei mich weder Deduktion noch Exegese über die konkrete Mechanik von Ausbeutung, Geboten und vor allem widerständigem Tun belehren. Foucault fragt immerhin nach der Produktivität der Normalisierung, er versucht den Reiz und die Befriedigung innerhalb eines Normenspektrums zu situieren zu ergründen. Jedenfalls erwähnenswert ist an dieser Stelle die Lust an widerständigen Praktiken und Versuchen. Wenn es kein außerhalb der Macht gibt, keinen privilegierten oder subalternen Punkt, der zu distanzierten Analysen befähigt, keinen „Ort der Großen Weigerung“, ist auch der wesentliche Zusatz Foucaults naheliegend: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.“ [4] Die vielfältigen Kräfteverhältnisse, die etwa im Jargon Althussers in den Produktionsapparaten, Familien, Institutionen wirken — in ihnen gebildet und modifiziert werden und im selben Schritt auf diese zurückwirken, sich wechselseitig beeinflussend — inkludieren Spannungen und Spaltungen, die den „gesamten Gesellschaftskörper“ durchlaufen. Widerstandspunkte streuen in diesem Netz der Machtbeziehungen und führen in ihren Verkettungen zu Revolten, Ausschreitungen; „große radikale Brüche“ kommen vor, doch kaum aufgrund der Identifikation des schwächsten Gliedes in der Häufung von Machtrelationen oder des archimedischen Punktes der Analyse.
Nicht zuletzt das Scheitern dahingehender Ansätze bedingt die Notwendigkeit einer Veränderung der Perspektive, wobei die Suche nach kapillaren Wirkungen, alltäglichen Praxen den Versuch eines nicht-totalisierenden Modells beschreibt, das die totalisierenden Funktionsweisen der herrschenden Macht radikal kontrastiert. Foucault konstatiert eine allgemeine Brüchigkeit, benennt die „Wirkung der diskontinuierlichen, partikularen und lokalen Kritiken“ und damit einhergehend die hemmende Wirkung ganzheitlicher Theorien. [5] Deren Verwendung und Verwendbarkeit, etwa von Marx(ismus) und Psychoanalyse, wird nicht negiert, doch ihre Funktion als Instrumente scheint bereits eine gewisse Brüchigkeit der Diskurse immer schon vorauszusetzen. Kennzeichen dieser (lokalen) Kritik ist eine „autonome, nicht zentralisierte, theoretische Produktion“, die daraus folgend „zur Bestätigung ihrer eigenen Gültigkeit nicht der Billigung eines allgemeinen Normensystems bedarf“. [6]
Gouvernementalität — Kritik
Foucault beschreibt eine „Machtform, die aus Individuen Subjekte macht“, im zweifachen Sinn des Wortes Subjekt: „vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein“. [7] Der Staat, als eine „zugleich individualisierende und totalisierende Form der Macht“ wirkt weniger als ein Verhältnis der direkten Unterdrückung, des Verbots als in der Kumulation und Etatisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Deren Analyse, die traditionelle Gewichtung von Gewalt und Konsens, löst Foucault unter Rückgriff auf die Kategorie des Subjekts im Begriff des Handelns: das Machtverhältnis wird als Handlungsweise definiert, deren Wirkung auf „mögliche oder wirkliche, künftige oder gegenwärtige Handlungen“ gerichtet ist. [8] Das Subjekt des Handelns, sein „Möglichkeitsfeld“ konstituiert sich in einem komplexen Spiel, worin „Freiheit“ als Voraussetzung und ständige Provokation der Machtverhältnisse auftritt. In dieser Matrix existiert die Option von Widerstand, Ausweg, Flucht und das Gefüge der Machtdispositive, beide Perspektiven können als Ausgangspunkte der Analyse konkreter Ereignisse fungieren, deren Resultate zu unterschiedlichen Verknüpfungen und Intelligibilitäten führen.
Das Gegenstück zur „Bewegung der Regierbarmachung der Gesellschaft“ fasst Foucault in der „kritischen Haltung“, einer „Tugend“, die eine Kunst des Widerstands darstellt, eine ständige Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit „nicht dermaßen regiert zu werden“. [9] Im Netz der Beziehungen von Macht, Wahrheit und Subjekt „ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.“ [10]
Letztlich scheint — entsprechend meines internalisierten Harmoniebedürfnisses — eine Verbindung von kritischer Theorie und poststrukturalistischen Ansätzen in Foucaults Sprache zu gelingen, die EpigonInnen und ExegetInnen sind weiterhin bemüht.
[1] Nein zum König Sex. In: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, S. 191f.
[2] konkret 8 (2004), S. 36.
[3] Demgegenüber bringt in der Negativen Dialektik die Negation keine unmittelbare Positivität hervor, Nichtidentität ist kein absoluter Gegenbegriff zur Identität. Solche Sätze sind möglich, schließlich befinden wir uns nicht mehr in der Phase der Ablehnung der „Überväter aus Frankfurt“, das war 1968 und eine Geste der antiautoritären Bewegung.
[4] Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1, Der Wille zum Wissen. Frankfurt/Main 1977, S. 115ff.
[5] Historisches Wissen und Kämpfe der Macht. Vorlesung von 7. Januar 1976 am Collège de France. In: Dispositive der Macht, S. 58f
[6] Längst wissen wir auch, dass die Crux ethischer Argumentationen darin besteht, dass eine Letztbegründung unmöglich ist.
[7] Michel Foucault: Warum ich die Macht untersuche: Die Frage des Subjekts. In: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim2 1994, S. 246ff
[8] Wie wird Macht ausgeübt. In: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, S. 254ff.
[9] Michel Foucault: Was ist Kritik. Berlin: Merve 1992, S. 8-12.
[10] Was ist Kritik, S. 15.