FORVM, No. 145
Januar
1966

Das Neo-Kapital

Zur gegenwärtigen Phase der Wirtschaft im Westen

Dr. Eduard März, Leiter der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Arbeiterkammer in Wien, gehört zu den wenigen auch international wohlakkreditierten Vertretern der österreichischen Nationalökonomie. Gerade weil er deren linker Flügelmann ist, scheint uns seine nachfolgende wohlabgewogene und kenntnisreiche Analyse des Neokapitalismus aufschlußreich. Eduard März war im FORVM bereits mit dem Aufsatz „Planung ohne Planwirtschaft“, Oktoberheft 1964, vertreten.

Der Kapitalismus hat in der Nachkriegszeit erstaunliche Lebenskraft und Adaptationsfähigkeit bewiesen. Sein Erscheinungsbild ist von dem früherer Jahrzehnte so verschieden, daß sich für ihn in den letzten Jahren eine neue Bezeichnung eingebürgert hat, nämlich „Neo-Kapitalismus“.

Der Neo-Kapitalismus hat den Gegnern des Marxismus neues — und wie manche von diesen sagen würden unwiderlegbares — empirisches Beweismaterial in die Hand gegeben. Während man früher den Marxisten vorwarf, daß sie aus richtigen empirischen Feststellungen die falschen theoretischen Schlußfolgerungen zogen, macht man sich die Sache heute viel einfacher: ein Marxist, so heißt es jetzt oft, ist jemand, der — in Mißachtung der so augenfällig demonstrierten Funktionsfähigkeit des neo-kapitalistischen Systems — an überkommenen theoretischen Vorstellungen festhält.

Aber der wichtigste Grundsatz, den der Marxist seinen Lehrmeistern verdankt, ist die Erkenntnis, daß man bei der Analyse der realen Welt sich nicht mit der Registrierung der äußeren Erscheinung begnügen darf. [1] So möchte ich mich in meiner Untersuchung des Neo-Kapitalismus nicht bloß auf die Betrachtung seines oft blendenden äußeren Erscheinungsbildes beschränken, sondern auch seine — dem bloßen Auge nicht so ohne weiteres erkennbaren Entwicklungstendenzen bloßlegen. Vielleicht ergibt sich am Ende ein Bild, das mit dem der professionellen Apologeten des westlichen Wirtschaftswunders nur geringe Ähnlichkeit aufweist.

I.

Die Marx’sche Vorstellung von der Funktionsweise des kapitalistischen Systems scheint auf jenen Kapitalismus noch recht gut anwendbar, den wir aus der Periode zwischen den beiden Weltkriegen kennen. Seine Entwicklung vollzog sich bis dahin in der Form zyklischer Schwankungen. Die dabei auftretenden Handelskrisen hatten die Tendenz, langlebiger und tiefer zu werden. Das Einkommen der arbeitenden Schichten stieg wohl über längere Zeiträume langsam an, fiel aber in Krisenzeiten recht häufig auf das Niveau des vorangegangenen Wirtschaftszyklus zurück.

Fast in allen kapitalistischen Ländern gab es ein stehendes Heer von Arbeitslosen, das selbst in Prosperitätsperioden nicht völlig in den Produktionsprozeß eingeordnet werden konnte. Marx spricht in diesem Zusammenhang von einer „Lazarus-Schichte“, die nichts anderes ist als „eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend“. Denn „das Gesetz, wonach eine immer wachsende Masse von Produktionsmitteln, dank dem Fortschritt in der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, mit einer progressiv abnehmenden Ausgabe von Menschenkraft in Bewegung gesetzt werden kann ... drückt sich ... darin aus, daß je höher die Produktivkraft der Arbeit, desto größer der Druck der Arbeiter auf ihre Beschäftigungsmittel, desto prekärer also ihre Existenzbedingung“. [2]

Die Ablösung des Kapitalismus der freien Konkurrenz durch den Monopolkapitalismus hat an diesem Entwicklungsbild zunächst nichts geändert. Der Hang zur Instabilität hat sich in unserem Jahrhundert vielleicht noch krasser manifestiert als in den früheren Entwicklungsperioden, wofür die Depression der Dreißigerjahre ein beredtes Zeugnis ablegt.

Diese Feststellung bedarf einer zweifachen Ergänzung. Erstens muß auf den Sonderfall Amerika hingewiesen werden, der bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise sich nicht so ohne weiteres in den allgemeinen Entwicklungsrahmen hineinstellen läßt; es ist hier kaum nötig, auf die Ursachen der Ausnahmestellung einzugehen, die Amerika bis in die jüngste Zeit eingenommen hat. [3] Zweitens darf auch in diesem Zusammenhang die lang anhaltende ökonomische Schönwetterperiode, die mit dem Ersten Weltkrieg ihren Abschluß fand, nicht unerwähnt bleiben. Sie hängt im wesentlichen mit der imperialistischen Durchdringung der nichtkapitalistischen Wirtschaftsräume zusammen. Beide Phänomene, nämlich der Sonderfall Amerika und die vom Imperialismus getragene Schönwetterperiode, können jedoch mit Hilfe des Marx’schen Instrumentariums recht gut begriffen werden.

II.

Die Marx’sche Analyse scheint nicht so ohne weiteres auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg anwendbar. Der Kapitalismus oder, wie wir vielleicht heute sagen sollten, der Neo-Kapitalismus zeigt eine — vom Standpunkt der traditionellen Marx’schen Begriffswelt — recht neue Verhaltensweise. Um nur einige der wichtigsten Erscheinungen hervorzuheben: Wir sind in der Nachkriegszeit Zeugen eines raschen wirtschaftlichen Wachstumsprozesses gewesen, von relativ kurzlebigen Rückschlägen unterbrochen, die sich in Westeuropa nur als Verlangsamung der Aufwärtsbewegung manifestiert haben. Das Realeinkommen der Arbeiter ist in fast allen Ländern bedeutend gestiegen und die Lazarusschichte hat sich, wenn wir von den USA absehen, im Verlauf dieses Prozesses fast völlig aufgelöst. [4]

Auch heute stellt Amerika so etwas wie einen Ausnahmefall dar, aber eher im ungünstigen Sinn, da es, wie wir später zeigen werden, noch am meisten dem traditionellen kapitalistischen Erscheinungsbild ähnelt. Die Sondereinflüsse, wie die unbesiedelten Räume im Westen, der fabelhafte Reichtum an Rohstoffen, der freie Fluß von Ware, Kapital und Arbeit innerhalb eines großen Kontinents usw., die einst den USA einen gewaltigen Vorsprung vor den älteren kapitalistischen Ländern gewährt haben, sind heute entweder nicht mehr existent oder üben keinen so entscheidenden Einfluß mehr aus, um Amerika auch in der Gegenwart die Gloriole des Landes der unbegrenzten kapitalistischen Möglichkeiten zu erhalten.

III.

Die erstaunliche Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus hat natürlich in der modernen soziologischen und ökonomischen Literatur ihren Niederschlag gefunden. Es ist dabei unschwer zwischen drei ideologischen Richtungen zu unterscheiden.

Die erste wird von Leuten wie Adolph Berle in Amerika vertreten. Sie leugnet, daß wir es heute noch mit dem Kapitalismus im herkömmlichen Sinne des Wortes zu tun haben und bezeichnet das angeblich völlig neuartige System als „Volkskapitalismus“. [5] Dieser Volkskapitalismus ist ihrer Ansicht nach durch die folgenden Momente gekennzeichnet:

  1. Weitgehende Streuung des Aktienbesitzes, die auf eine „Entmachtung“ des einzelnen Aktienbesitzers hinausläuft.
  2. Souveräne Position des Managers, der kein unmittelbares Besitzinteresse an der Aktiengesellschaft hat.
  3. Verdrängung des Profitstrebens durch Impulse sozialer Natur. Der Manager, so heißt es in diesem Zusammenhang, fühlt sich nicht nur gegenüber dem Aktionär, sondern auch gegenüber der Öffentlichkeit, d.h. also gegenüber dem Konsumenten, dem Staat und den Arbeitern des eigenen Konzerns verantwortlich.
  4. Steigende Bedeutung der internen Kapitalquellen der Unternehmung. Bankkredite und Kapitalmarkt haben demgegenüber eine tendenziell fallende Bedeutung.
  5. Ablösung der freien Konkurrenz durch ein System der Planung, das zu einer Zusammenarbeit der Konzerne innerhalb der Branchen und später auch auf volkswirtschaftlicher Ebene führt. [6]

Die zweite Schule gebärdet sich etwas weniger radikal und selbstbewußt. Sie behauptet nicht, daß der Kapitalismus unversehens in ein neues sozio-ökonomisches Gewand geschlüpft sei. Aber die meisten Vertreter dieser Richtung sind sich darin einig, daß man — wenigstens im Bereich der Ökonomie — dem Geheimnis seines ewigen Lebens endlich auf die Spur gekommen sei. Dies wäre im wesentlichen zwei Erscheinungen zu verdanken: erstens dem raschen technischen Fortschritt und den daraus resultierenden Investitionsimpulsen; zweitens der interventionistischen Wirtschaftspolitik im Keynes’schen Sinn. Die Vertreter dieser Auffassung sind Legion. Unter der Präsidentschaft Johnsons scheint sich selbst Wall Street zu einer milden Form des Keynesianismus bekehrt zu haben.

Die dritte Schule kann man als eine sozialistische Abart des Keynesianismus oder als modernen Bernsteinismus bezeichnen. So glaubt z.B. der englische Sozialist C. A. R. Crosland, daß es nicht nur darauf ankomme, Geld- und Budgetpolitik nach der Rezeptur von Keynes zu betreiben, sondern daß diese in den Dienst einer dynamischen Investitionspolitik sowie einer egalitären Ausgaben- und Umverteilungspolitik gestellt werden müsse.

Bernstein hat, wie wir wissen, noch an der alten sozialistischen Forderung festgehalten, daß man die Produktionsmittel in den Besitz der Allgemeinheit überführen müsse. Crosland, Galbraith und andere Wohlfahrtstheoretiker halten dies nicht mehr für notwendig. Es genügt ihrer Ansicht nach den gesellschaftlichen Überschuß im Interesse der Allgemeinheit zu manipulieren. [7] Aber weder Amerika noch England hat sich bisher als Experimentierfeld des Keynesianismus sozialistischer Prägung bewährt. In beiden Ländern neigt man dazu, den gesellschaftlichen Überschuß, also den nicht kapitalisierten Mehrwert, in der Form hypertropher Rüstungsausgaben abzuschöpfen.

IV.

Wir müssen bei der Volkskapitalismus-Theorie nicht sehr lange verweilen. Der Aktienbesitz ist in den Vereinigten Staaten wohl weitgehend gestreut, aber diesem Phänomen steht eine sehr starke Besitzkonzentration gegenüber. Auf diese Weise herrscht in vielen Aktiengesellschaften eine kleine Minderheit von Aktionären, die, wie bereits Hilferding erkannt hat, in der Lage ist, die große Mehrheit der Aktienbesitzer von jedem Einfluß auf die Geschäfts-, damit auch auf die Dividendenpolitik auszuschließen. [8]

In vielen Aktiengesellschaften sitzen wohl Manager an den Schalthebeln der Geschäftsführung, aber das Profitmotiv bleibt auch für diese entscheidend, wenngleich sie auch an Sonn- und Feiertagen die Plusmacherei nur als eine, und beileibe nicht die wichtigste unter ihren Zielsetzungen zu bezeichnen pflegen.

Die große Bedeutung der sogenannten internen Finanzierung (Selbstfinanzierung) soll selbstverständlich nicht bestritten werden. Sie hängt in der Hauptsache mit zwei Entwicklungstendenzen zusammen: erstens mit der starken Konzentration der Produktion, die zur Entstehung von Konzernen mit gewaltigen inneren Kapitalressourcen geführt hat; zweitens mit den spezifischen Interessen der bereits erwähnten strategisch situierten Minorität von Aktienbesitzern, die nicht so sehr an der Ausschüttung von Gewinnen, sondern an der Erweiterung der Vermögenssubstanz der Unternehmung interessiert ist. Es ist klar, daß eine solche Politik den wahren Nutznießern des Systems die Minimisierung ihrer Steuerleistung ermöglicht.

V.

Der Markenname „Volkskapitalismus“ erfreut sich keiner breiten Popularität, selbst nicht in dem Lande, wo er aus der Taufe gehoben wurde; einer Werbeaktion, die der handgreiflichen Erfahrung so sehr zuwiderläuft, kann auf die Dauer kein Erfolg beschieden sein. Die Dinge verhalten sich etwas anders mit dem Keynesianismus orthodoxer und sozialistischer Prägung. Auch diese Begriffe sind kaum in das Massenbewußtsein eingedrungen, aber sie haben zweifellos breite Kreise insbesondere der anglo-amerikanischen Intelligenz in den Bann geschlagen. Die Renaissance des Kapitalismus in der Nachkriegszeit wird, wie bereits erwähnt, von vielen namhaften westlichen Ökonomen und Soziologen — zu einem bedeutenden Teil — der Wunderwirkung der Keynes’schen Wirtschaftstherapie zugeschrieben. [9]

Welche Bewandtnis es mit dieser These hat, soll nun an den Modellfällen Amerika und Westdeutschland untersucht werden. Diese beiden Länder bieten sich für eine solche Analyse sozusagen von selbst an. Die Vereinigten Staaten sind heute — in Anbetracht der hohen Produktivität ihrer Volkswirtschaft und des daraus resultierenden hohen Durchschnittseinkommens ihrer Bewohner — das kapitalistische Land par excellence. Ihre Position gegenüber Europa ist mit jener vergleichbar, die England im 19. Jahrhundert gegenüber dem Kontinent eingenommen hat. Westdeutschland symbolisiert dagegen das europäische Wirtschaftswunder. Kein anderes westliches Land ist vom Kriege in so hohem Maße in Mitleidenschaft gezogen worden wie Westdeutschland, und in keinem anderen Land hat sich nachher ein so rascher und unaufhaltsamer Aufstieg vollzogen. Keine Analyse des Neo-Kapitalismus darf deshalb an dem Beispiel dieser beiden Länder vorbeigehen. Im Anschluß an Westdeutschland soll auch ein kurzer Blick auf das übrige Westeuropa geworfen werden, vor allem, um dem neuartigen Phänomen der Programmierung Rechnung zu tragen.

Ich möchte der nun folgenden empirischen Untersuchung eine Bemerkung axiomatischen Charakters voranstellen. Man wird wohl keine Regung des öffentlichen Lebens, weder in der einen noch in der anderen politischen Hemisphäre, begreifen können, wenn man die Erscheinung des „Wettbewerbs der Systeme“ außer acht läßt. Der Vorstoß in den Weltraum ist wohl das spektakulärste Exempel dieser Art. Aber die Kunst, der Sport, die Wissenschaft und nicht zuletzt auch die Wirtschaft sind die wichtigsten Schauplätze des unablässigen Ringens der beiden Staatengruppen. Theodor Prager hat den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswunder und System-Wettbewerb in einem geistreichen Buch überzeugend nachgewiesen. [10] Die östlichen Planungsexperimente standen schon in den ersten Anfängen unter dem Motto des Einholens und Überholens des Westens. Aber nun ist das ständige Messen der Kräfte mit jenen der anderen politischen Hemisphäre zum ausschlaggebenden Kriterium auch der westlichen Wirtschaftspolitik geworden.

VI.

Die amerikanische Wirtschaft ist in der unmittelbaren Nachkriegszeit sehr rasch gewachsen. In den Fünfzigerjahren ist es dann zu einer auffallenden Verlangsamung der Aufwärtsbewegung gekommen. Erst in allerjüngster Zeit, in den Jahren 1961-1965, ist wieder eine etwas stärkere Belebung eingetreten. In der gesamten Nachkriegsperiode konnten vier Rückschläge oder Rezessionen beobachtet werden, die — im Gegensatz zu Westeuropa — einen absoluten, wenn auch leichten Rückgang von Produktion und Einkommen mit sich gebracht haben.

Die von marxistischen Theoretikern sehr oft angekündigte große Depression ist in Amerika bisher ausgeblieben, aber der Gesamtleistung der amerikanischen Volkswirtschaft haften einige recht bedenkliche „Schönheitsfehler“ an. Ich möchte auf einige von diesen nun kurz eingehen.

  1. Die Wachstumsrate, die bis zum Ende der Zwanzigerjahre höher als die jedes anderen kapitalistischen Landes war, ist nun niedriger als die Westeuropas oder Japans.
  2. Bis zum Anfang der Fünfzigerjahre erfreute sich Amerika des Zustandes der Vollbeschäftigung. Seit 1953 wird wieder eine Arbeitslosenrate verzeichnet, die nicht mehr auf Friktions- oder mehr oder weniger normale Fluktuationserscheinungen zurückgeführt werden kann. Die Arbeitslosenrate steigt im Verlauf der Fünfzigerjahre und fällt erst — wenigstens rein optisch — in der jüngsten Prosperitätsphase. Sie liegt immerhin, selbst in den letzten Jahren, bei über 4%. Dazu müssen allerdings noch die sogenannten „drop-outs“ gerechnet werden, das sind jene Arbeitslosen, die in Anbetracht langjähriger Arbeitslosigkeit nicht mehr im statistischen Arbeitsangebot aufscheinen. Kompetente Beobachter schätzen daher den derzeitigen Stand der Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten auf 7 bis 8% des gesamten Arbeitskräftepotentials.
  3. Das Unvermögen der amerikanischen Privatwirtschaft, das Arbeitskräftepotential in seiner Gänze einzusetzen, wird jedoch durch die bisher angeführten Daten nicht hinreichend illustriert. Stellt man nämlich jene Personen in Rechnung, die in der Rüstungsindustrie arbeiten, dann kommt man zu dem erstaunlichen Schluß, daß nur etwa 82 Prozent des Arbeitskräftepotentials von privatwirtschaftlichen und gemeinnützigen Unternehmen beschäftigt werden. Wie manche Autoren gezeigt haben, liegen die Dinge noch ungünstiger, wenn man den Multiplikatoreffekt berücksichtigt, den die von der Rüstung hervorgerufene Beschäftigung hervorruft. Neuesten Schätzungen zufolge macht die Zahl der Menschen, die arbeitslos sind oder in der Rüstungsindustrie beschäftigt werden oder in Unternehmen tätig sind, die von der Rüstungsindustrie direkt oder indirekt abhängen, ungefähr 20 Millionen aus. [11]
  4. Die chronische Unterausnützung des Arbeitskräftepotentials geht natürlich Hand in Hand mit der chronischen Unterauslastung des Produktionsapparates. Wir wollen es uns hier versagen, jene häufigen Berechnungen zu zitieren, welche die Einkommensverluste aus dem Zustand der dauernden Unterbeschäftigung in den Vereinigten Staaten in den Fünfzigerjahren zum Gegenstand haben. Selbst in den letzten Jahren, die durch eine relativ günstige wirtschaftliche Lage gekennzeichnet waren, soll dem Zeugnis eines kompetenten Beobachters zufolge ein jährlicher Einkommensausfall von etwa 100 Milliarden Dollar entstanden sein. Welcher gewaltigen Leistungssteigerung die amerikanische Wirtschaft fähig ist, hat der Zweite Weltkrieg in eindringlicher Weise demonstriert. Damals stand ein Großteil der arbeitsfähigen Bevölkerung unter Waffen und dennoch konnten Produktion und Volkseinkommen auf ein nie zuvor erreichtes Niveau gehoben werden. [12]

VII.

Wie ist das widerspruchsvolle Erscheinungsbild des amerikanischen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg zu erklären? Ich bin mir bewußt, daß man dieses komplexe Phänomen nicht in Kürze erschöpfend behandeln kann. Aber vielleicht gelingt es mir, einige wichtige Aspekte des sich auf Krücken fortbewegenden amerikanischen „Wirtschaftswunders“ herauszuarbeiten.

Erstens: Starke Wachstumsimpulse sind sicherlich von der sogenannten zweiten Industriellen Revolution ausgegangen. Wie Ernest Mandel gezeigt hat, werden infolge des Rüstungswettlaufs Forschung und Entwicklung zu vorrangigen Aufgaben der staatlichen Wirtschaftspolitik. [13] Aus der Rüstungswirtschaft übernehmen dann die übrigen Zweige der Volkswirtschaft starke technologische Impulse.

Dazu kommt, daß der amerikanische Staat in zunehmendem Maße die strategische Bedeutung des sogenannten „geistigen Kapitals“ erkennt und deshalb immer größere Mittel für die Ausbildung der technischen Intelligenz aufwendet. Der rasche technische Fortschritt macht die Ausbildung breiter technischer Kader erforderlich und diese sind die wichtigste Voraussetzung für die weitere Beschleunigung des technischen Fortschritts.

Es ist wohl keine Übertreibung, zu sagen, daß dem Rüstungsstaat ein gleichsam selbsttätiger Mechanismus für die ständige Fortentwicklung der Produktivkräfte innewohnt. Aber aus dieser Feststellung darf keine Apologie für den Rüstungsstaat abgeleitet werden, denn Rüstungsausgaben sind wohl die verschwenderischeste und bedenklichste Methode, den technischen Fortschritt zu verewigen, und überdies erweisen sie sich auf lange Sicht als nicht stark genug, um die dem Monopolkapital innewohnenden wachstumshemmenden Momente zu kompensieren.

Zweitens: Die Ausgaben des amerikanischen Staates sind gegenüber der Vorkriegszeit bedeutend gestiegen. Ihr Anteil am Sozialprodukt betrug in den letzten Vorkriegsjahren rund 10% und macht heute ungefähr ein Viertel des Bruttonationalproduktes aus. [14] Diese Entwicklung hängt vor allem mit dem starken Ansteigen der Rüstungsausgaben zusammen, aber auch mit der finanziellen Belastung, die den Vereinigten Staaten aus dem Zweiten Weltkrieg erwachsen ist. Auch die Wohlfahrtsausgaben — z.B. für Wohnungsbau, Gesundheitswesen, Pensionen und Arbeitslosengelder — haben heute ein größeres Gewicht als vor dem Zweiten Weltkrieg. Aber sie sind viel langsamer gewachsen als jene Ausgaben, die mit vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Kriegen zusammenhängen.

Drittens: Eine konjunkturstabilisierende Wirkung ist in Amerika auch von den steigenden Exporten ausgegangen. Diese sind allerdings nicht in einem solchen Maße gewachsen, wie es im Interesse der amerikanischen Zahlungsbilanz notwendig gewesen wäre. Das amerikanische Zahlungsbilanzdefizit gehört nicht zu dem Themenkreis, den ich hier zu behandeln habe. Ich möchte nur gleichsam im Vorbeigehen darauf aufmerksam machen, daß ein sehr inniger Zusammenhang zwischen dem Kapitalexport, den man oft als ein Laster betrachtet, und dem Warenexport, den man als tugendhaft ansieht, besteht. Wie beim Menschen stehen auch hier Tugend und Laster in einer engen Wechselbeziehung, da ein bedeutender Teil der amerikanischen Exportgüter von amerikanischen Tochtergesellschaften, die im Ausland domiziliert sind, aufgekauft wird.

Viertens: Der Investitionsimpuls, der von der zweiten Industriellen Revolution und von der Rüstungswirtschaft herrührt, scheint jedoch nicht übermäßig stark zu sein und sich überdies ständig abzuschwächen. Die privaten Brutto-Investitionen (die ich hier als dauerhafte Investitionsgüter und als bauliche Investitionen mit Ausnahme der Wohnhäuser definiere) haben in den Jahren 1947 bis 1957 im Jahresdurchschnitt 10,3% ausgemacht. In den Jahren 1958 bis 1964 sind sie auf einen Jahresdurchschnitt von bloß 8,6% gefallen, und dies trotz der massiven steuerlichen Investitionsbegünstigungen der Johnson-Regierung für die amerikanische Privatwirtschaft. [15]

Die Nettoinvestitionen sind in den letzten Jahren stärker zurückgegangen, als es die soeben genannten Daten erkennen lassen, da die Ersatzinvestitionen in diesem Zeitraum gestiegen sind. Ferner darf nicht übersehen werden, daß die Investitionstätigkeit insbesondere in jenen Industriezweigen relativ hoch ist, die von den Rüstungsaufträgen profitieren, also in Maschinenindustrie, Feinmechanik, Optik, Elektrobranche usw. Schließlich muß auch auf die Verlagerung der Investitionen in solche Bereiche hingewiesen werden, von denen nur ein geringer Kapazitätseffekt ausgeht, wie Bürohäuser, Einkaufszentren, Luxusautomobile und dergleichen. (Die letzteren zählen als Investitionsgüter, wenn sie zum Besitzstand einer Unternehmung gehören.)

Der relative Rückgang der privaten Investitionen ist natürlich auf das von mir bereits vermerkte Phänomen der chronischen Unterausnützung der Kapazitäten zurückzuführen. Und diesem liegt die uralte Krankheit der kapitalistischen Produktionsweise zugrunde: die Konsumtionsbeschränkung der breiten Masse. Da die Bezeichnung „Konsumtionsbeschränkung“ heute aus der Mode gekommen ist, bin ich gerne bereit, an ihrer Stelle die Keynes’sche Bezeichnung „demand deficiency“ zu verwenden, die auf den gleichen Sachverhalt hinausläuft. Die Therapie der Johnson-Regierung, die amerikanische Wirtschaft mit Hilfe von steuerlichen Investitionsbegünstigungen anzuheizen, ist dazu angetan, das Übel der Überkapazitäten auf lange Sicht noch zu verstärken.

Fünftens: Neben den Rüstungsausgaben, die im Durchschnitt der vergangenen Dekade über 10% des Bruttonationalprodukts ausmachen, [16] sind verschiedene andere Formen der Verschwendung entwickelt worden, um die chronische Lücke zwischen dem gewaltigen Erzeugungspotential und dem unzureichenden Massenkonsum zu schließen. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf den hypertrophen Verkaufs- und Verteilungsapparat, auf die ständig zunehmenden Kosten der Werbung und Reklame, auf gewisse Formen der Entwicklungshilfe, der selbst von orthodoxen Nationalökonomen recht oft nur ein problematischer Wert zugeschrieben wird, usw.

Sechstens darf auch der mit großer Geräuschentwicklung angekündigte Kampf gegen die Armut nicht unerwähnt bleiben. Die Armut ist in jüngster Zeit sozusagen wieder entdeckt worden, nachdem man durch viele Jahre hindurch die Legende einer stark egalitären Einkommensentwicklung verbreitet hat. So wird heute von halb-offiziellen Stellen zugegeben, daß etwa zwei Fünftel der amerikanischen Familien sich mit einem Lebensstandard begnügen müssen, der — vom Standpunkt der Hygiene, Ernährungsphysiologie und der gesellschaftlich relevanten Vorstellungen von einem akzeptablen Lebensminimum — völlig unzureichend ist. [17] Die von Präsident Johnson angekündigten Maßnahmen können nur als eine rein symptomatische Behandlung dieser tiefreichenden soziologischen Erkrankung angesehen werden.

Ich fasse zusammen: Die Keynes’sche Wirtschaftstherapie — die sich in den Vereinigten Staaten vor allem zweier Instrumente bedient: hypertropher Rüstungsausgaben und massiver steuerlicher Begünstigung der Großunternehmen — hat die Schere zwischen dem rasch wachsenden Erzeugungspotential und der vergleichsweise langsam zunehmenden Konsumkraft der Gesellschaft nicht zu schließen vermocht. Die allmähliche Ausbreitung automatischer Erzeugungsmethoden stellt uns vor die Perspektive der weiteren Verschärfung dieses Widerspruchs.

VIII.

Westeuropa hat im letzten Jahrzehnt gegenüber dem amerikanischen Infektionsherd eine bemerkenswerte Immunität an den Tag gelegt. Man könnte deshalb sagen, daß sich der Neo-Kapitalismus in Westeuropa in einer gefälligeren und deshalb propagandistisch wirksameren Form präsentiert als in Amerika. Ich werde zunächst auf den Modellfall Westdeutschland eingehen, später einiges über die gesamte westeuropäische Entwicklung sagen.

Erstens: Die Wirtschaft der Deutschen Bundesrepublik ist in den Fünfzigerjahren rascher gewachsen als die der USA und der meisten anderen westlichen Länder. In der jüngsten Zeit hat sich jedoch die Aufwärtsbewegung recht deutlich verlangsamt. [18] Auch in Westdeutschland sind in der Nachkriegszeit Rückschläge eingetreten, aber diese haben nur zu einer Abschwächung der Aufwärtsbewegung geführt. Dies trifft übrigens auch auf die meisten anderen westeuropäischen Länder zu. Selbst in England und Belgien haben die wiederholten Rezessionen nur eine relativ sehr geringfügige Beeinträchtigung von Produktion und Einkommen zur Folge gehabt.

Zweitens: Westdeutschland hat zweifellos aus einer Reihe von besonderen wachstumsfördernden Faktoren Nutzen zu ziehen gewußt. In der frühen Nachkriegszeit haben der große Nachholbedarf und die Notwendigkeit der industriellen Rekonstruktion die ersten starken Auftriebsimpulse abgegeben. Die Wirkung dieser Impulse wurde durch die rasche Übernahme von Produktionsmethoden, die insbesondere in der anglo-sächsischen Welt während der Kriegsjahre entwickelt worden waren, noch weiter verstärkt. Dieser Transfer der anglo-amerikanischen Technologie in den westeuropäischen Raum ist ein Aspekt des Marshall-Plans, der sehr oft vernachlässigt wird.

In dem Maße, als der deutsche Kapitalismus sich wieder aus der Asche des Zweiten Weltkrieges erheben konnte, hat er auch autonome technische Impulse ins Spiel gebracht. Im Laufe der Fünfzigerjahre ist es dann zu einer auffallend raschen Konzentrationsbewegung gekommen, die durch die Bildung des gemeinsamen Marktes noch einen weiteren Auftrieb erhalten hat. Die Konzentrationsbewegung der Fünfzigerjahre dürfte das Wachstum in günstiger Weise beeinflußt haben. Denn die Zusammenlegung von Betrieben und die daraus resultierende höhere Spezialisierung und Standardisierung der Industrieproduktion haben die Position Deutschlands auf dem Weltmarkt erheblich gestärkt.

Drittens: Ein weiteres und nicht bloß für Westdeutschland charakteristisches wachstumsförderndes Moment war das große Angebot von Arbeitskräften, das erst gegen Ende der Fünfzigerjahre allmählich versiegt ist. [19] Auf diese Weise war die deutsche Wirtschaft in der Lage, mit verhältnismäßig niedrigen Löhnen zu arbeiten und auch die vergleichsweise rasche Aufwärtsbewegung des Lohnniveaus, die insbesondere in den Sechzigerjahren zu beobachten war, relativ leicht zu verkraften. Gerade in den sogenannten Wachstumsindustrien konnte das deutsche Kapital mit einer sehr hohen Profitrate rechnen, die sich natürlich recht günstig auf die Investitionsbereitschaft der Unternehmer ausgewirkt hat. Es ist fast überflüssig, hinzuzufügen, daß der von dem niedrigen Lohnniveau ausgehende Wachstumsimpuls in den letzten Jahren nicht mehr in voller Stärke wirksam gewesen ist.

Viertens: Ich habe bereits in einem anderen Zusammenhang auf die erhöhte Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie auf den internationalen Märkten hingewiesen. Deutschland erfreute sich infolge seiner industriellen Struktur einer — vom Standpunkt der sich nach dem Zweiten Weltkrieg anbahnenden Intensivierung des internationalen Handels — vorteilhaften Ausgangsposition. Etwa die Hälfte des deutschen Exportumsatzes ist aus Investitionsgütern und Grundstoffen, wie Maschinen, Elektrowaren, Chemikalien und anderen Gütern dieser Art, zusammengesetzt, die einer lebhaften Nachfrage auf den Weltmärkten begegnen. Auf diese Weise ist der Anteil der Exporte am Bruttonationalprodukt Westdeutschlands in den letzten Jahren stetig angestiegen und macht heute über 20% aus. Auch den Anteil am Welthandel konnte die Bundesrepublik in der Nachkriegszeit in ähnlich drastischer Weise erhöhen. Die stärkere Verflechtung Deutschlands mit der Weltwirtschaft kommt in besonders hohem Maße in seinen Beziehungen zu den Nachbarländern zum Ausdruck. [20]

Fünftens: Schließlich ist auch in der Bundesrepublik der staatliche Anteil am Bruttonationalprodukt in der Nachkriegszeit bedeutend angestiegen. Die budgetären Ausgaben des Bundes machen heute ca. 30 % der volkswirtschaftlichen Gesamtausgaben aus. In jüngster Zeit sind auch die militärischen Ausgaben rasch gewachsen. [21] Es kommt ihnen heute bereits jenes Gewicht zu, das für die französische oder englische Situation charakteristisch ist.

Dem deutschen Wirtschaftswunder haften zweifellos nicht jene peinlichen Schönheitsfehler an, denen wir bei der Analyse Amerikas begegnet sind. Dennoch hat die Investitionsrate in der letzten Zeit eine eher sinkende Tendenz aufzuweisen. Dieser Umstand muß im Hinblick auf zwei Erscheinungen noch besonders unterstrichen werden: erstens ist auch in Deutschland der Anteil der Ersatzinvestitionen an den Bruttoinvestitionen ständig gestiegen, und zweitens kommt den öffentlichen Investitionen ein stetig wachsendes Gewicht im Rahmen der Gesamtinvestitionen zu.

Die amerikanische Krankheit — Verlangsamung des Wachstums, Abschwächung der privaten Investitionstätigkeit, Auftreten von Überkapazitäten — scheint langsam nun auf Westdeutschland und auf andere Teile Westeuropas überzugreifen. Ich glaube deshalb, daß die stärkere Einführung von automatischen Erzeugungsprozessen auch in Westeuropa von einem langsamen Ansteigen der Arbeitslosigkeit — insbesondere unter den unqualifizierten Schichten der Arbeiterschaft — begleitet sein wird. Unter dieser Entwicklung werden zuerst allerdings die politisch schwächsten Gruppen der Arbeiterschaft, nämlich die Fremdarbeiter, zu leiden haben.

IX.

Die offizielle Wirtschaftsphilosophie Deutschlands ist jener der Vereinigten Staaten nicht unähnlich. Obwohl der Anteil der staatlichen Ausgaben am Sozialprodukt sehr hoch ist und obwohl den öffentlichen Investitionen eine strategische wirtschaftspolitische Bedeutung zukommt, hält man an der Fiktion fest, daß die Wirtschaftstherapie marktkonformer Natur sei.

In der akademischen Apologetik wird der Akzent auf die traditionellen wirtschaftspolitischen Methoden gelegt, also auf Fiskal-, Handels-, Geld-, Kreditpolitik usw., die den Entscheidungsrahmen für die Privatwirtschaft bilden. Direkte Lenkungsmaßnahmen werden noch immer von der großen Mehrheit der zünftigen Nationalökonomen abgelehnt, wenngleich in letzter Zeit eine bemerkenswerte Reorientierung, insbesondere unter den jüngeren deutschen Wirtschaftstheoretikern, sich anzubahnen scheint. [22]

In der Nachkriegszeit ist auch in den anderen westeuropäischen Ländern ein mehr oder minder starker wirtschaftlicher Aufstieg vor sich gegangen und hiebei haben sich zum Teil recht ähnliche Erscheinungen geltend gemacht wie in der Bundesrepublik: bedeutende wirtschaftliche Aktivität des Staates; relativ hohe Exportquoten; billige Arbeitskräfte aus den südlichen Ländern Europas. Auch die westeuropäische Integration dürfte in ihrer Anlaufphase eine wachstumsfördernde Wirkung ausgeübt haben, da die von ihr bewirkten handelsverzerrenden Momente im Anfang wohl nur eine geringfügige Rolle spielten.

In einem Katalog der wirtschaftspolitischen Instrumente Westeuropas darf die Programmierung nicht unerwähnt bleiben. Sie ist sozusagen die „differentia specifica“ der Wirtschaftspolitik in Frankreich, Holland, Skandinavien, in jüngster Zeit auch in England und Italien. Die Programmierung oder Planification hat vor allem in jenen Ländern eine Heimstätte gefunden, wo die Laissez-faire-Traditionen nicht allzu stark verwurzelt sind. In Skandinavien mag auch das von der Sozialdemokratie geprägte politische Klima zur leichteren Aufnahme der Planung westlicher Machart beigetragen haben.

Der sogenannte Plan, ob nun französischer, holländischer, skandinavischer Herkunft, ist nichts anderes als eine — vom Standpunkt des einzelnen Unternehmers — unverbindliche Vorausschau auf die kommende wirtschaftliche Entwicklung. In Frankreich wirken die Unternehmer am Zustandekommen dieser Vorausschau mit, in anderen Ländern ist sie vor allem die Aufgabe staatlicher Organe. Wiewohl also die Programmierung den Charakter einer unverbindlichen Prognose trägt, sollte ihre Wirkung auf die Funktionsweise der westlichen Volkswirtschaft nicht unterschätzt werden. Indem die Unternehmer die gesamtwirtschaftliche Prognose ihren Entscheidungen zugrunde legen, tendieren sie dazu, die Planziele zu verwirklichen.

Die Programmierung mag daher im Falle von Volkswirtschaften, die durch Impulse besonderer Art nicht in demselben Maße wie die Bundesrepublik begünstigt waren, zur Aufrechterhaltung der hohen Wachstumsraten beigetragen haben; sie hat sicherlich auch eine Verbesserung der industriellen Struktur zur Folge gehabt, sowohl in betrieblicher als auch in produktionstechnischer Hinsicht. Es gibt Anzeichen hiefür, daß mit der Abschwächung des Wachstums in der Bundesrepublik die Perspektive der Einführung eines deutschen Modells der Planification eine geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft auf Ökonomen und Wirtschaftspolitiker ausüben wird.

Die derzeit im Gang befindliche große Debatte um die Mitbestimmung zeigt ferner, daß sich nun auch die deutsche Arbeiterbewegung an dem Ringen um eine rationalere Form der Wirtschaftspolitik maßgeblich zu beteiligen beginnt.

X.

Ich komme zum Schluß: Auch die jüngste Entwicklungsetappe des Kapitalismus, der sogenannte Neo-Kapitalismus, ist von den Gespenstern der Instabilität und Stagnation bedroht. Eine Wirtschaftsphilosophie des Laissez-faire, wie sie noch zu Anfang der großen Depression weitgehend geübt wurde, ist jedoch im Zeitalter des Wettbewerbs der Systeme völlig undenkbar.

In den Vereinigten Staaten wurde die Herausforderung durch den Osten im wesentlichen mit steigenden Rüstungsausgaben und mit wirtschaftspolitischen Eingriffen à la Keynes beantwortet. In Westeuropa hat man sich einer reichhaltigeren wirtschaftspolitischen Palette bedient, die neben Vollbeschäftigungs- und Integrationspolitik auch verschiedene Varianten der Programmierung umfaßt.

Nur Westdeutschland hat bisher ein offenes Bekenntnis zur Keynes’schen Therapie vermieden und der Programmierung die kalte Schulter gezeigt. Aber auch hier ist mit einer Änderung der wirtschaftspolitischen Orientierung — in Anbetracht der deutlichen Abschwächung des Wirtschaftswachstums — in der nahen Zukunft zu rechnen.

Die gewaltige technische Revolution und die daraus resultierende sprunghafte Erhöhung der Produktivität der Arbeit werden auch den kommenden Jahren und Jahrzehnten ihren Stempel aufprägen. Die Frage nach der sinnvollen Verwendung der ins Unermeßliche wachsenden Produktivkräfte wird so von der Geschichte immer wieder gestellt werden. Wie der Zauberlehrling wird sich auch die Menschheit immer dringender mit der Bändigung der von ihr gerufenen Geister beschäftigen müssen. Wird man auf die Dauer mit der Zauberformel „Rüstungsausgaben plus Wohlfahrtsausgaben plus Programmierung“ auskommen?

Es scheint mir klar, daß man jene grausige Form der Verschwendung, die der Menschheit alljährlich das Sümmchen von 180 Milliarden Dollar kosten dürfte, [23] nicht ad infinitum steigern kann. Vielleicht ist es naiver Optimismus, im Angesicht der sich rasch ausbreitenden Waldbrände in drei Kontinenten, heute noch zu hoffen, daß dem Rüstungswettlauf Einhalt geboten werden kann. Aber zu solchem Optimismus muß man sich schon aus Gründen der biologischen Selbsterhaltung bekennen.

Die Alternative zur Erzeugung von Instrumenten des Todes ist die Produktion der guten Dinge des Lebens. Die Umwandlung des Rüstungsstaates in den Wohlfahrtsstaat stellt uns, wie ein Komitee weltberühmter Nationalökonomen gezeigt hat, vor verhältnismäßg leicht lösbare organisatorisch und wirtschaftspolitische Probleme.

Leontieff, Lange, Tinbergen und Genossen haben freilich — aus leicht begreiflichen Gründen — die Frage offengelassen, was man tun müsse, um das einem derart radikalen Umstellungsprozeß adäquate politische Klima zu schaffen. [24]

Eine konsequente Politik der Abrüstung muß zugegebenermaßen von einem Wirtschaftsprogramm ausgehen, welches die sinnvolle Verwendung der im Zuge der Abrüstung freigesetzten menschlichen und materiellen Ressourcen vorsieht. Die Verwirklichung dieses Programms ist jedoch von der Überwindung des Widerstands jener sozialen Kräfte abhängig, die im Rüstungsstaat die beste Garantie für die Aufrechterhaltung ihrer uralten politischen und wirtschaftlichen Privilegien erblicken.

Der Umbau des Rüstungsstaates in einen „programmierten Wohlfahrtsstaat“ muß deshalb im Zeichen des Kampfes um eine sozialistische Gesellschaftsordnung geführt werden, denn nur diese gibt Gewähr für die volle Entfaltung unserer materiellen und geistigen Ressourcen, für ein wirklich umfassendes Programm der Abrüstung und für eine weltweite Konzeption der Entwicklungshilfe. Auch der Neo-Kapitalismus ist kein Ersatz für den Sozialismus.

[1Marx kommt auf diesen methodologischen Grundsatz immer wieder zurück. So heißt es im ersten Band des Kapitals: „Das Nachdenken über die Formen des menschlichen Lebens, also auch ihre wissenschaftliche Analyse, schlägt überhaupt einen der wirklichen Entwicklung entgegengesetzten Weg ein. Es beginnt post festum und daher mit den fertigen Resultaten des Entwicklungsprozesses ...“ (Dietz Verlag 1955, Seite 81). Im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes wird der gleiche Gedanke in der folgenden Weise ausgedrückt: „Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.“

[2Siehe Band I des Kapitals, Seite 679 und 680.

[3Insbesondere Friedrich Engels hat sich mit diesem Thema wiederholt beschäftigt. Siehe Briefe an Sorge (31. Dez. 1892 und 16. Jan. 1895) und Mrs. Wischnewetzky (3. Juni 1886) in: „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl Marx u.a.“, Stuttgart 1906.

[4Das soll natürlich nicht heißen, daß es dem westeuropäischen Kapitalismus geglückt ist, das Phänomen der Armut zu beseitigen. Der Paria der „Gesellschaft im Überfluß“, wie wir sie in Westeuropa kennen, ist heute jedoch nicht der chronisch Unbeschäftigte oder Arbeitslose, sondern der Angehörige einer kinderreichen Arbeiter- oder Angestelltenfamilie, der kleine Rentner, der wegen eines chronischen Gebrechens nur beschränkt einsatzfähige Arbeiter und die sogenannte „gescheiterte“ Existenz, die in Katastrophen gestürzt wurde, für die es noch keine Versicherung und noch keine amtliche Hilfsstelle gibt. Vergl. meine Studie „Österreichs Wirtschaft zwischen Ost und West“, Wien 1965, Seite 28.

[5Der Slogan „Volkskapitalismus“ ist, soviel mir bekannt, apokryphen Ursprungs. Die Anregung dazu düfte von Adolf Berle gekommen sein, und zwar von seinem Buch „The 20th Century Capitalist Revolution“, in dem wohl nicht der Ausdruck, aber die den Ausdruck tragenden Thesen dargelegt werden. Im Anschluß an Berles Argumentation ist eine Volkskapitalismus-Literatur entstanden. Siehe z.B. Prof. Emil Küng (Schweiz), „Eigentumspolitik und Volkskapitalismus“, Der Unternehmer, Wien 1965. Die einschlägige amerikanische Literatur, die einen beachtlichen Umfang erreicht hat, kann hier aus Raumgründen nicht zitiert werden.

[6Adolf Berle hat die wichtigsten seiner Thesen neuerdings in einem Diskussionsartikel zusammengefaßt: „The Impact of the Corporation on Classical Economic Theory“, The Quarterly Journal of Economics, Cambridge, Mass., USA, Februar 1965, Seite 25 ff.

[7Die klassische Formulierung dieses Standpunkts findet sich bei C. A. R. Crosland: „Die britischen Sozialisten stehen vor dem Problem, die gesellschaftlichen Institutionen derart einzusetzen, daß der Profit des privaten Sektors primär für Investitionszwecke und nicht (entweder laufend oder letzten Endes) für die Verteilung an Aktionäre verwendet wird — das heißt, daß er in der Hauptsache als Quelle der Kapitalakkumulation und nicht als eine Form des privaten Einkommens zu dienen hat.“ Siehe: The Future of Socialism, London 1956, Seite 418.

[8Hilferding faßt diese Situation in dem lapidaren Satz zusammen: „Die Kapitalisten bilden eine Gesellschaft, in deren Leitung die meisten von ihnen nichts dreinzureden haben.“ Das Finanzkapital, Berlin 1955, Seite 175.

[9Die Wirtschaftstherapie der Nachkriegszeit wird von einem angesehenen westlichen Ökonomen mit den folgenden Worten beschrieben: „Die Übernahme der Verantwortung für eine makro-ökonomische Wirtschaftspolitik war ein bewußter Akt in den meisten Ländern. Diese Verantwortung wurde fast während der ganzen Periode der Fünfzigerjahre nicht in dem Sinne aufgefaßt, daß man das Erzeugungspotential erweitern müsse, sondern daß man einfach für ein Niveau der Nachfrage sorgen müsse, welches die volle Ausnützung der Ressourcen, unter besonderer Berücksichtigung der Arbeitskräfte, gewährleisten würde ... Indem es ihnen gelang, die Ressourcen voll auszunützen und damit die Stabilität der Wirtschaft zu erhöhen, konnten die Regierungen die wirtschaftliche Unsicherbeit in einem solchen Maße verringern, daß sie eine hohe Investitionstätigkeit anregten und so auch den Wachstumstrend verstärken.“ Angus Maddison, Economic Growth in the West, New York und London 1964, Seite 99.

[10Theodor Prager: Wirtschaftswunder oder keines, Europa Verlag, Wien 1963.

[11Vergl. Harry Magdoff, „Problems of United States Capitalism“, Socialist Register, New York 1965, Seite 63 ff.

[12Vergl. Leo Huberman und Paul Sweezy, „The Kennedy-Johnson Boom“, Monthly Review, New York, Februar 1965.

[13Vergl. Ernest Mandel, „Economics of Neo-Capitalism“, Socialist Register, New York und London 1964, Seite 56 ff.; siehe auch Paul Sweezys Beitrag in „Has Capitalism Changed?“, herausgegeben von S. Tsuru, Tokio 1958.

[14Siehe Angus Maddison: Economic Growth in the West, insbesondere das Kapitel „The Role of Government in Promoting Growth“, Seite 99 ff.

[15Siehe Harry Magdoff: Problems of United States Capitalism, Socialist Register, 1965, Seite 64.

[16Vergl. Fritz Vilmar: Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus, insbesondere das Kapitel „Rüstung — bedeutendste Konjunkturstütze des gegenwärtigen amerikanischen Kapitalismus“, Seite 63 ff., Frankfurt 1965.

[17Siehe die diesbezüglichen Daten des amerikanischen Census 1960 und den Kommentar der Monthly Review, Juli-August 1962, Seite 173 ff.

[18Ein Gremium von deutschen Ökonomen führt dies vor allem auf die Verknappung des Angebots an Arbeitskräften zurück: „Mit dem Übergang vom extensivem Wachstum, das durch ein jeweils ausreichendes oder überreichliches Angebot an Arbeitskräften gekennzeichnet ist, zu kapitalintensivem Wachstum hat sich das Wachstumstempo verlangsamt.“ Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Stabiles Geld — stetiges Wachstum, Jahresgutachten 1964/65, Stuttgart 1965, Seite 49.

[19Das Produkt aus der Zahl der Erwerbstätigen und der durchschnittlichen Arbeitszeit nimmt, wie der oben zitierte Sachverständigenrat feststellt, seit dem Jahr 1956 nicht mehr zu.

[20Nähere Angaben über die Entwicklung des deutschen Außenhandels finden sich gleichfalls in dem oben zitierten Gutachten des Sachverständigenrats; siehe Kapitel „Außenwirtschaft und Binnenkonjunktur“, Seite 1 ff.

[21Diese bedenkliche Entwicklung ist vielleicht deshalb nicht genügend in das öffentliche Bewußtsein gedrungen, weil etwa die Hälfte des deutschen Rüstungsbedarfs durch Importe gedeckt wird. Allerdings bemüht sich die deutsche Industrie, „das Verhältnis von Auslands- und Inlandsaufträgen zugunsten der letzteren zu verschieben“. Vergl. Fritz Vilmar: Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus, Seite 94.

[22Symptomatisch für diese Entwicklung dürfte eine von der deutschen List-Gesellschaft veranstaltete Tagung sein, deren Protokoll von Alfred Plitzko herausgegeben wurde: Planung ohne Planwirtschaft, Basel und Tübingen 1964.

[23Die Schätzungen der Militärausgaben für die Jahre 1964 und 1965 gehen sehr weit auseinander. In den obigen Daten, die sich auf amerikanische und deutsche Quellen stützen, sind auch die Kosten der Raumfahrt und der Atomforschung inbegriffen.

[24Vergl. „Economic and Social Consequences of Disarmament“, UN Publications (E/3593/Rev I), New York 1962.

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