FORVM, No. 452-454
Juli
1991

Demos und Büros

30 Thesen über Bürokratie und Staat, Freiheit und Sozialismus

Wir erleben gegenwärtig einen immer stärkerern Durchbruch planwirtschaftlicher Gedanken in der Wirtschaft.

Bruno Kreisky 1967 [1]

I.

Wenn es in der Öffentlichkeit um die Bürokratie geht, dann wissen wir schon, daß es gegen die Bürokratie geht. Angesagt ist, was gefällig ist: Denunziation statt Debatte.

Es ist außerordentlich schwierig geworden, die Diskussion über den Zusammenhang von Gesellschaft und Bürokratisierung inhaltlich auf ein Niveau zu bringen. Sie ist nicht einmal sachlich. [2]

Das hat Gründe. Auf inhaltlichem oder sachlichem Niveau wären Bürokratieabbau und Stigmatisierung der Beamten der Bevölkerung auch nicht nahezubringen. Die Diskreditierung setzt primär auf den sozialen Neid und vergrößert und vergröbert genüßlich bürokratisches „Fehl“verhalten in unzulässiger Weise.

Bürokratiefeindlichkeit baut auf die Personalisierung von Schuld. Nicht gegen „schlechte“ Gesetze oder gar gesellschaftliche Ursachen und Zustände wenden sich die mit der bürokratischen Tätigkeit Unzufriedenen, sondern gegen die Charaktermaske, den Beamten. Ihm wird alles zur Last gelegt: der negative Bescheid, die mangelnde Unterstützung, der Wust an Formularen etc. Berechtigte Wut wird in die falsche Richtung geleitet, personalisiert und zum standesmäßigen Vorurteil hochstilisiert, statt daß Lösungen gesucht werden, wo sie möglich sind: in den gesellschaftlichen Kämpfen. Der Fatalismus kennt eben nur Sündenböcke.

»Bürokratie« hat schon im gebräuchlichen Tonfall etwas Abwertendes an sich, [3] es ist eben nicht nur ein Schlagwort, sondern auch ein Kampfwort. Das gilt es zurückzuweisen. Seriöse Bewertung und abwertender Tonfall sind unvereinbar.

Gewisse Begriffe machen Karriere, fordern Bekenntnis oder Verdammung. Schon Hans Kelsen mußte in der Ersten Republik feststellen, daß der Begriff »Demokratie« dem politischen Modezwang unterliege, den man „zu allem möglichen Zwecken und bei allen möglichen Anlässen benützen zu müssen glaubt, (daher) nimmt dieser mißbrauchteste aller politischen Begriffe die verschiedensten, einander oft widersprechenden Bedeutungen an, sofern ihn nicht die übliche Gedankenlosigkeit des vulgär-politischen Sprachgebrauches zu einer keinen bestimmten Sinn mehr beanspruchenden, konventionellen Phrase degradiert.“ [4] Was für die Demokratie im positiven, gilt für die Bürokratie im negativen Sinn. Doch Vorsicht!, wer bei der Demokratie Beifall klatscht, sollte die Bürokratie nicht vorschnell verurteilen.

Die folgenden Überlegungen handeln von der emanzipatorischen Seite von Bürokratie und Staat. Bürokratiekritische Studien werden damit nicht schlichtweg zurückgewiesen, noch sämtliche Empfindungen über die Bürokratie ins Reich der Überempfindlichkeiten geschoben. Die Bürokratie hat schon so ihre Tücken.
Doch sind hier nicht diese der Gegenstand, sondern eine spezifische Betrachtung, die nicht mit einer allgemeinen Charakterisierung verwechselt werden darf. [5]

II.

Nur in wenigen Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels finden sich systematische Abhandlungen zu unseren Fragestellungen. In der „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ etwa weist Marx darauf hin, daß es das Ziel jeder Bürokratie ist, sich vom Mittel zum Zweck zu erheben:

Die Bürokratie gilt sich selbst als der letzte Endzweck des Staats. Da die Bürokratie ihre ‚formellen‘ Zwecke zu ihrem Inhalt macht, so gerät sie überall in Konflikt mit den ‚reellen‘ Zwecken. Sie ist daher genötigt, das Formelle für den Inhalt und den Inhalt für das Formelle auszugeben. Die Staatszwecke verwandeln sich in Bürozwecke oder die Bürozwecke in Staatszwecke. Die Bürokratie ist ein Kreis, aus dem niemand herausspringen kann. Ihre Hierarchie ist die Hierarchie des Wissens. Die Spitze vertraut den unteren Kreisen die Einsicht ins Einzelne zu, wogegen die unteren Kreise der Spitze die Einsicht in das Allgemeine zutrauen, und so täuschen sie sich wechselseitig.

Die Bürokratie ist der imaginäre Staat neben dem reelen Staat, der Spiritualismus des Staats. Jedes Ding hat daher eine doppelte Bedeutung, eine reelle und eine bürokratische, wie das Wissen ein doppeltes ist, ein reelles und ein bürokratisches (so auch der Wille). Das reelle Wesen wird aber behandelt nach seinem bürokratischen Wesen, nach seinem jenseitigen, spirituellen Wesen. Die Bürokratie hat das Staatswesen, das spirituelle Wesen der Gesellschaft in ihrem Besitze, es ist ihr Privateigentum. Der allgemeine Geist der Bürokratie ist das Geheimnis, das Mysterium, innerhalb ihrer selbst durch die Hierarchie, nach außen als geschlossene Korporation bewahrt. Der offenbare Staatsgeist, auch die Staatsgesinnung, erscheinen daher der Bürokratie als ein Verrat an ihrem Mysterium. Die Autorität ist daher das Prinzip ihres Wissens, und die Vergötterung der Autorität ist ihre Gesinnung. [6]

Hier muß denn doch einiges angezweifelt werden. Etwa die Behauptung, daß das Staatswesen Privateigentum der Bürokratie sei, ob also die eigene — von uns unbestrittene — Zwecksetzung der Bürokratie schon ausreicht, sie auch vom Mittel zum Zweck werden zu lassen und den Staat uneingeschränkt in Besitz zu nehmen. Es war aber nicht möglich festzustellen, ob Marx auch später an diesem Gedanken von 1843 festgehalten hat. Marx und Engels haben der Bürokratie — das gilt auch, abgeschwächt, für Demokratie und Staat — in ihrem Werk nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Der Schwerpunkt ihrer Forschung lag unzweifelhaft in der gesellschaftlichen Basis, weniger im gesellschaftlichen Überbau. Friedrich Engels hat das so begründet:

Anknüpfend an Hegels Rechtsphilosophie, kam Marx zu der Einsicht, daß nicht der von Hegel als ‚Krönung des Gebäudes‘ dargestellte Staat, sondern vielmehr die von ihm so stiefmütterlich behandelte ‚bürgerliche Gesellschaft‘ diejenige Sphäre sei, in der der Schlüssel zum Verständnis des geschichtlichen Entwicklungsprozesses der Menschheit zu suchen sei. Die Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft aber ist die politische Ökonomie [...] [7]

Die bisher am weitesten entwickelte Emanzipationstheorie, der Marxismus, hat also eine unterentwickelte Seite: den politischen Bereich. Was Staat und Bürokratie, Recht und Demokratie betrifft, sind die Analysen, sowohl der Klassiker als auch ihrer Nachfolger, von weniger überzeugendem Wert geblieben. [8] So fehlen bis heute fundierte Analysen der demokratischen Diktatur des Kapitals, d.h. der entwickelten westlichen Demokratien, die deren Vermögen zu Integration der Opposition und Legitimation des Systems schlüssig nachzeichnen und erklären. So lange dies aber nicht ansatzweise geleistet werden kann, ist auch jedes strategische Denken in Richtung Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsformation bloß ein Gedankenspiel. In den zentralen Ländern des Kapitals ist deren Herrschaft ungefährdeter — und heute muß man schon ergänzen: unkritisierter — denn je.

III.

Die bis heute bedeutendste Analyse von Wesen, Voraussetzung und Entfaltung bürokratischer Herrschaft lieferte zweifellos der deutsche Soziologe Max Weber, [9] der eine enge Verknüfung von kapitalistischer Gesellschaft und modernem okzidentalem Staat sah. Der entwickelte Kapitalismus benötige einen rationalen Staat: „Er beruht auf dem Fachbeamtentum und dem rationalen Recht“, [10] einem Recht, „das sich ähnlich berechnen läßt wie die Maschine“. [11] Die modernen Verbandsformen bedingen eine stete Zunahme der bürokratischen Verwaltung. [12] Vor allem der Großstaat und die Massenpartei bilden nach Webers Ansicht „den klassischen Boden für die Bürokratisierung“. [13]

Weber war einerseits fasziniert von der Bürokratie: „Der entscheidende Grund für das Vordringen der bürokratischen Organisation war von jeher ihre rein technische Überlegenheit über jede andere Form“, [14] schreibt er in seinem Hauptwerk. Erst mit ihr erhält die Herrschaft — an deren Notwendigkeit Max Weber nie zweifelt — einen rationellen Charakter. [15] Weber verteidigt die Bürokratie gegen jedwede vorbürokratische Formen (Patriarchale Struktur, Honoratiorenherrschaft [16]): „Gewiß ist die Bürokratie bei weitem nicht die einzige moderne Organisationsform, so wie die Fabrik bei weitem nicht die einzige gewerbliche Betriebsform ist. Aber beide sind diejenigen, welche dem gegenwärtigen Zeitalter und der absehbaren Zukunft den Stempel aufdrücken. Der Bürokratisierung gehört die Zukunft.“ [17] „Zunehmende ‚Sozialisierung‘ bedeutet heute unvermeidlich zugleich zunehmende Bürokratisierung.“ [18] Wobei Weber hier noch gar nicht den Sozialismus meint, sondern bloß die Tendenzen zur Vergesellschaftung im Kapitalismus. Für ersteren hingegen prophezeit er die bürokratische Alleinherrschaft:

Die staatliche Bürokratie herrschte, wenn der Privatkapitalismus ausgeschaltet wäre, allein. Die jetzt neben- und, wenigstens der Möglichkeit nach, gegeneinander arbeitenden, sich also immerhin einigermaßen im Schach haltenden privaten und öffentlichen Bürokratien wären in eine einzige Hierarchie zusammengeschmolzen. [19]

Weber erkannte andererseits aber auch die Schwächen der gesellschaftlichen Bürokratisierung:

Die Leidenschaft für die Bürokratisierung, wie wir sie sich hier äußern hörten, ist zum Verzweifeln (...), als ob wir mit Wissen und Willen Menschen werden sollten, die ‚Ordnung‘ brauchen und nichts als Ordnung, die nervös und feige werden, wenn diese Ordnung einen Augenblick wankt, und hilflos, wenn sie aus ihrer ausschließlichen Angepaßtheit an diese Ordnung herausgerissen werden. [20]

Die Möglichkeiten zur Minimierung der Herrschaft in Verbänden, die Weber auflistet, lesen sich dann wie die basisdemokratischen Postulate von Grünen und Alternativen aus deren Frühzeit (kurze Amtsfristen, jederzeitiges Abberufungsrecht, streng imperatives Mandat, strenge Rechenschaftspflichtt, Rotationsprinzip etc.). [21]

Vor allem macht uns Weber folgendes klar: Wer in hochentwickelten Gesellschaften Bürokratien in Institutionen und Verbänden verhindern und abbauen will, handelt sich Zustände ein, die noch undemokratischer und undurchschaubarer sind, als die bestehenden. Der Unterschied liegt in den Eingriffs- und Einsichtsmöglichkeiten, die bei der Bürokratie zumindest de jure und pro forma gegeben sind. Andere Formen von Herrschaft unterliegen nicht in ebenso hohem Ausmaß der Transparenz und der Einflußmöglichkeiten. Das bürokratische Prinzip ist herrschaftssichernd und herrschaftsnivellierend zugleich. Hans Kelsen, der wohl bedeutendste österreichische Rechtstheoretiker, hat schon recht, wenn er meint: „Für eine Führernatur ist in der Idealdemokratie kein Platz.“ [22] Auch wenn Kelsen gleich zugibt, daß die soziale Realität anders ausschaue, [23] so wird denn doch deutlich, was von der Personalisierung im politischen Bereich (Persönlichkeitswahlrecht, Direktwahl, Quereinsteigertum etc.) zu halten ist. Es geht weg vom Inhalt, hin zu den Führern. Auch wenn es nur kleine Führer sein mögen, erleben wir einen Trend von der rationalen zur charismatischen Herrschaft. Die Sehnsucht nach den Führern ist so groß wie die Angst vor den Apparaten.

IV.

Unter Bürokratie [24] mögen zwar primär die Staatsbeamten verstanden werden, ein moderner Bürokratiebegriff hat jedoch weit mehr zu umfassen. Die Bürokratie ist in den demokratischen Gesellschaften, d.h. den Ländern der demokratischen Diktatur des Kapitals, in alle gesellschaftliche Bereiche eingedrungen. Immer mehr Funktionen werden Büro- und Amtsfunktionen. [25] Wir unterscheiden ökonomische, politische und ideologische Bürokratien, wobei überall zu unterscheiden wäre, ob die jeweiligen Bürokratien öffentlichen oder privaten Gewalten unterworfen sind. Laut Otto Hintze [26] und Max Weber [27] gehören sie alle zum Beamtenstand.

Bürokratie kann also nicht ausschließlich dem Staatssektor zugerechnet werden. Bürokraten sind Menschen, die ihren Erwerb einer von außen bzw. oben reglementierten Bürotätigkeit verdanken. Beamte, wohin man schaut. So gibt es nicht nur Verwaltungsbeamte, sondern auch Versicherungsbeamte, Bankbeamte, Verlagsbeamte, Fabriksbeamte, Redaktionsbeamte, Parteibeamte etc. Auch wenn sie „Angestellte“ heißen — was nur meint, daß sie anstellen sollen, wozu sie angestellt sind — stellen sie nichts anderes an. Der Grad der Rigidität der Bindung macht keinen qualitativen Unterschied. Das gilt auch für die eigene Krankenversicherung und das besondere Pensionsrecht. Letztere zeigen nur an, daß bestimmte Bürokraten meinen, die anderen wären keine. Das sind ständische Dünkel, die zwar der Erwähnung, aber keiner Analyse wert sind.

Jeder Verband (Staat, Kirche, Partei, Gewerkschaft, Betrieb, Bank, Versicherung, Lehrkörper etc.) trägt die Bürokratie in sich.

Im Kern ist eine Organisation dann bürokratisch, wenn der Funktionsmodus unabhängig von den darin arbeitenden Personen diesen als fixierter Rahmen vorgegeben ist. Von demokratischen, kollegial organisierten Institutionen unterscheidet sich die Bürokratie also dadurch; daß die Mitglieder nach zentralen Anweisungen von oben arbeiten, ohne die Inhalte selbst mitbestimmen zu können. Die definitorischen Merkmale der Bürokratie sind: 1. eindeutige Autoritätshierarchie mit zentraler Verantwortlichkeit und Kontrolle; 2. schriftl. festgelegte und dauerhafte Arbeits(ver-)teilung, die auf fachl. Spezialisierung beruht (Geschäftsverteilung) sowie exakte Festlegung der Rechte und Pflichten der Organisationsmitglieder (‚Kompetenzen‘); 3. schriftl. Kommunikation über vertikale Dienstwege (‚Aktenkundigkeit‘); 4. Erledigung der Aufgaben nach genau definierten Regeln und Verfahrensweisen. [28]

V.

Die Bürokratie ist zwar jeder Verwaltung immanent, doch erst in der bürgerlichen Gesellschaft, und besonders in der bürgerlichen Demokratie, wird sie zu einer dominanten Größe.

Demokratie [29] ist ohne Bürokratie nicht zu haben. Demokratisierung bedingt Bürokratisierung. Wobei es aber festzuhalten gilt, daß es sich hier um keine wechselseitige Bedingtheit handelt, sondern bloß um eine einseitige: Zwar ist die Demokratie stets an eine Bürokratie gekoppelt, nicht aber die Bürokratie an eine Demokratie. Es gibt keine Demokratie ohne eine entwickelte Bürokratie, es gibt aber sehr wohl entwickelte Bürokratien ohne Demokratie. Damit sind nicht nur politische Diktaturen gemeint, sondern insbesondere auch die gesamte Privatverwaltung, die weniger auf Normen, denn auf direkten Befehlen und Anweisungen basiert.

Bürokratie hat es dort zu geben, wo Gleichheit ein partielles oder tendenzielles Anliegen ist:

Die personelle Verkörperung dieses formellen Rechts oder rechtlichen Formalismus ist die Bürokratie, der die Aufgabe zufällt, unter Anwendung des Rechtsformalismus auf alle Lebensgebiete diese zur Einheit des ‚staatlichen‘ Lebens zusammenzufassen. Bürokratie ist daher personell durch Staatsbeamte verkörperter Formalismus. [30]

Die Bürokraten sind also Gleichbehandler, ihre Tätigkeit hat eine Kausalbeziehung (wenn — dann) zur Grundlage.

Hier treffen sich auch Bürokratie und Arbeiterbewegung. Deren Organisationen waren wesentliche Träger der Bürokratisierung, eben weil sie auch die Hauptakteure der gesellschaftlichen Demokratisierung darstellten. Das gilt sowohl für die interne Bürokratisierung (Partei- und Gewerkschaftsapparate), als auch für die (der Arbeiterbewegung) externe Bürokratisierung in der Gesellschaft, die in bedeutendem Ausmaß Folge der Erkämpfung sozialstaatlicher Standards war. Die Bürokratie ist natürlich kein Produkt der Arbeiterbewegung oder des Sozialismus, sehr wohl sind diese Kräfte aber hauptverantwortlich für die Beschleunigung des Bürokratisierungsprozesses in der modernen Gesellschaft.

Vor allem die Sozialdemokratie, die schon sehr bald das Endziel und somit die gesellschaftliche Umwälzung nicht nur vernachlässigte, sondern gänzlich aus den Augen verlor, war gezwungen, ihre siegreichen Kämpfe in vom bürgerlichen Staat legitimierte Gesetze für die Arbeiter (und gegen die Unternehmer) umzuwandeln. Die Verrechtlichung vorher „freier“ Sachverhalte und Beziehungen verursachte unweigerlich Beamte in verschiedensten Sektoren, die diese Regeln und Normen vollziehen und anwenden, seien es nun staatliche Beamte oder Privatbeamte (Sozialversicherungsanstalten etc.). Der Friede mit dem Kapitalismus wurde nur dadurch möglich, weil es die Institution Staat gab, die den Arbeitern jene Rechte garantierte, die sie gesellschaftlich im Klassenkampf errungen hatten.

Bürokratie ist für die modernen Gesellschaften eine unbedingte Notwendigkeit, d.h. man kann sich eigentlich nicht aussuchen, ob man sie haben will oder nicht, Demokratie hingegen ist bloß eine Möglichkeit, noch dazu eine — so zeigen es die westlichen Systeme —, die auf den politischen Sektor beschränkt bleibt: die anderen gesellschaftlichen Bereiche sind zwar vor der Demokratisierung, nicht aber vor der Bürokratisierung geschützt. Was wiederum nur ein Beleg für obige These ist: Demokratie ist nur möglich, Bürokratie jedoch notwendig.

Wenn sich die Bürokratie aber einmal als Mittel gegen ihren Zweck wendet und begrenzt werden muß, dann sind mit dieser Begrenzung auch die Grenzen der Demokratisierung gezogen.

VI.

Das demokratische Prinzip der Wahl der Volksvertretung bedingt das bürokratische Prinzip der Kooptation in der Verwaltung. Wenn die Gesellschaftsmitglieder frei und autonom sein sollen, so muß der Verwaltungsapparat an die Beschlüsse der Volksvertretung gebunden sein und darf nicht außerhalb des gesetzten Rechts handeln. Freiheit des bürokratischen Apparates würde nichts anderes als Willkür bedeuten.

Auch auf diese Dialektik von demokratischer Organisation des Staates und autokratischer Organisation der Verwaltung hat schon Hans Kelsen hingewiesen:

Die Gesetzmäßigkeit der Vollziehung — und das bedeutet bei der demokratischen Gesetzgebung: der Volkswille und sohin: die Demokratie selbst — wird in der Mittel- und Unterinstanz zweifellos besser als durch Selbstverwaltungskörper durch von der Zentralstelle ernannte und ihr verantwortliche Einzelorgane, d.h. also: durch eine autokratische Organisation dieses Teils der Staatswillensbildung gewahrt.

Das bedeutet aber des weiteren, daß im Gefolge des Legalitätsprinzips das bürokratische System seinen Einzug in die Organisation des grundsätzlich demokratischen Staates halten muß. [...] Es war ein Irrtum, darin schlechthin eine Abschwächung der Demokratie zu sehen. Denn nur für eine rein ideologisch und nicht an den realen Tatbestand orientierte Betrachtung erscheinen Demokratie und Bürokratie als absolute Gegensätze. Die Bürokratisierung bedeutet vielmehr unter gewissen Voraussetzungen die Aufrechterhaltung der Demokratie. [31]

Die Verwaltung ist zwar abgehoben, aber doch alles andere als verselbständigt. Ihre Autonomie ist begrenzt. Sie ist Machtmittel, und trotz aller Anmaßungen nicht Machthaber. Bürokratie und Kreativität schließen einander weitgehend aus, was vom Bürokraten gefordert wird, ist nicht Flexiblität, sondern Kategorisierung. Er ordnet Probleme zu. Im Bürokraten tritt dem hilfesuchenden oder seine Rechte einfordernden Menschen eine normierte Person entgegen, oft aller Menschlichkeit entledigt. „Der Persönlichkeitstyp des Bürokraten hat seinen Kern in dieser Norm der Unpersönlichkeit.“ [32]

Der Bürokrat selbst ist zu einem Doppelleben verurteilt. Er hat im Dienst keine Meinung zu haben, sein Verhalten wird normiert. Dieser Entfremdung sich kontinuierlich auszusetzen und die Kritikfähigkeit zu erhalten, scheint fast ausgeschlossen. Aus der zwangsweisen Identifikation mit der Rolle wird so meist eine willige oder gar eine freiwillige, das Notwendige wird als das Richtige angesehen. Gesichtslosigkeit ist der Bürokratie immanent. Die permanente Sinnfrage ist für den Bürokraten nicht aushaltbar. Er stellt so den Sinn seiner Tätigkeit gar nicht mehr in Frage, nımmt seine Rolle nicht mehr als Rolle wahr, sondern als bloße Arbeit (wie jede andere). Er beendet diesen schizophrenen Zustand, indem er als Individuum in seiner Rolle aufgeht, sich als Mensch sozusagen aufhebt, darin seine persönliche Entfaltung sucht und Vollendung findet. Gesellschaftliche Wirklichkeit und objektive Norm drohen in seinem Denken eins zu werden, weil sein Handeln auf diese Identifizerung ausgerichtet ist.

Eine Demokratisierung der Bürokratie ist aber unmöglich, soll die staatliche Demokratie aufrechterhalten werden. Der freie Beamte, das ist der willkürliche Beamte, einer, der entscheidet, wie er will und was er will. Ein österreichisches Nachrichtenmagazin schlagzeilte vor einigen Jahren „Vurschrift is Vurschrift“. [33] Auf dem Cover des rotweißen Montagmorgenblattes war ein gar finster dreinblickender Bürokrat mit kariertem Sakko, Brille und natürlich Scheuklappen zu sehen. Wie ihn der Normalbürger sich vorzustellen hat, so wird er ihm vorgestellt.

Wie kann dieser Angriff auf „Vurschrift is Vurschrift“ gemeint sein? Was legt er nahe? Er spricht sich jedenfalls nicht gegen bestimmte Vurschriften aus, sondern beklagt vielmehr deren kategorische Anwendung. Wie sollen sie aber angewandt werden? Selektiv etwa? Nach Gutdünken des Beamten? Oder gar nach dem Gutdünken gewisser Journalisten? Der Angriff auf „Vurschrift is Vurschrift“ kann nur so verstanden werden, daß unsere „liberalen“ Schreiber einer selektiven Anwendung von Vorschriften, Gesetzen und Verordnungen, somit der Korruption das Wort reden.

VII.

Das Büro ist heute ein zentraler Ort. Es ist Ort der menschlichen Kommunikation wie Ort der Anonymität. Das Büro hat somit einen Doppelcharakter. Hier läuft alles zusammen, ohne sich jedoch zusammenzukommen. Es treffen sich bloß Wünsche und Funktionen, nicht jedoch Menschen mit Menschen. So entsteht ein eigenartiges Büroklima, das für Außenstehende oft unergründlich ist.

Die „Kälte des Amts“ ist keineswegs scheinbar, sondern tatsächlich. Freilich weiß niemand, wie das geändert werden kann, denn die Entpersönlichung, die Selbstentfremdung ist Voraussetzung der bürokratischen Gerechtigkeit. Und eine andere, andererseits, darf es auf staatlicher Ebene gar nicht geben. Amt und Akt bzw. Büro und Beleg sind Leitbegriffe (und wohl auch: Leidbegriffe) des Bürokraten. Seine Tätigkeit besteht in der Grundstruktur darin, daß er an einem zentralen Ort Schriftstücke produziert. Das Schriftstück ist sein Werk, sei es Urkunde oder Ausweis, Beleg oder Rechnung, Bestätigung oder Bescheid, Protokoll oder Zeugnis. Dieses Werk ist funktionalen, nicht kreativen Charakters.

Die Quintessenz bürokratischen Tuns ist die Herstellung eines Schriftstückes. Nur dieses gewährleistet Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Verwaltungsprozesses. Differenzierte Gesellschaften müssen daher ein hohes Niveau des Vermerkens entwickeln, um willkürliche Entscheidungen hintanzuhalten und ausreichende Grundlagen für zukünftige Entscheidungen zu schaffen.

Die Bürokratie hat also Fälle zu bearbeiten, wobei die Aufgabe darin besteht, Norm und Fall in eine logische Beziehung zu setzen. Das ist manchmal außerordentlich leicht, manchmal schwieriger, manchmal schier unmöglich. Die Schwierigkeiten rühren daher, weil jeder Fall in der Tendenz ein Ausnahmefall ist. Die gesetzten Normen können den individuellen Fällen niemals restlos Genüge leisten. Auch verstreichen vom Zeitpunkt des Erkennens rechtlicher Schwächen und Lücken bis zur Etablierung eines neuen Gesetzes meist Monate bis Jahre. So hinkt die Regelungsdichte immer hinter den Regelungsnotwendigkeiten her.

VIII.

Die Berufsbeamten sind entstanden auf Grundlage der sich entwickelnden Arbeitsteilung, sie sind eng an die Entwicklung des bürgerlichen Rechtsstaats gekoppelt. [34]

Nach dem Abbau der obrigkeitsstaatlichen Willkür versuchten alle gesellschaftlichen Gruppierungen (mit mehr oder weniger Erfolg) ihre Ansprüche durchzusetzen. Vor allem die reformistischen Arbeiterparteien setzten der sozialen Differenzierung in der Gesellschaft die Differenzierung des Rechts entgegen. Am Ende dieser Kette stand in Westeuropa der Sozialstaat. Die Inflation von Recht [35] erforderte immer mehr Menschen, die sich hauptsächlich darum kümmern, die Gesellschaft nach festgesetzten Regeln zu ordnen.

Bürokratische Aufblähung und mangelnde Transparenz sind nur sekundär Auswüchse des Apparates, primär sind sie Folge der gesellschaftlichen Kämpfe und der Durchsetzung, also der Setzung von Recht. Die spezifischen gesellschaftlichen Interessen, die sich aus der sozialen Vielfalt ergeben, bedingen gerade diesen Dschungel aus Regeln und Verordnungen.

Die demokratisch-bürokratische Prozedur zur Entscheidungsfindung ist langwierig und mühsam, eben weil viele ein Wörtchen mitzureden haben. Man kann das übertreiben, doch die Alternative heißt cäsaristische Befehlsgewalt. Da geht zweifellos alles schneller. Mit Entscheidungs- und Handlungspartizipation — Ziele jedweder Demokratisierung — hat das freilich nichts mehr zu tun. Verrechtlichung, d.h. die Erfassung einer zunehmenden Anzahl von Lebensbereichen und deren Regelung durch Recht, ist aber ein ambivalentes Phänomen: „Verrechtlichung bewirkt nämlich u.U. zugleich Freiheitsverbürgung und Freiheitsgefährdung. Entrechtlichung beseitigt u.U. Freiheitsbeschränkungen und eröffnet zugleich Möglichkeiten vermehrter Willkür.“ [36]

Wenn jemandem etwas gegeben werden soll, was ihm ursprünglich nicht gehörte, muß es anderen genommen werden. Des einen Freud, des andern Leid. Soziale Gerechtigkeit ist eine subjektive Größe, sie hängt vom Standpunkt, besser: vom sozialen Standort in der Gesellschaft ab. Je mehr Rechte also in der Gesellschaft durchgesetzt werden, desto mehr Pflichten werden ihren Mitgliedern auferlegt. Die Umverteilung feilich ist inzwischen zu einer Rundherumverteilung geworden. Jeder ist Geber und Nehmer zugleich.

Wenn also Entrechtlichung angesagt ist, muß gefragt werden, wer denn da entrechtet werden soll, wem das Recht bisher genützt und wem es geschadet hat.

IX.

Es ist modern geworden, von regulierter Gesellschaft, vom vormundschaftlichen Staat, vom verwalteten Bürger etc. zu sprechen. „Die Vorwürfe gegen den Geist des Beamtenstandes, den Geist der Abhängigkeit, der Routine, des Schlendrians, des seelenlosen, die Persönlichkeit aufreibenden Dienstmechanismus — diese Vorwürfe sind ja alt und zum Teil wohlberechtigt. Es gehörte seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zum beständigen Programm der liberalen Politiker, über die Bürokratie zu schelten.“ [37]

Der Angriff auf die Bürokratie korreliert mit dem aktuellen Sieg der Marktwirtschaft, der übrigens ideologisch noch deutlicher als wirtschaftlich ausgefallen ist. Die Wachstumsraten haben die Wachstumsratten auf den Markt gerufen. Seitdem ist nichts mehr sicher. Der antibürokratische Kampf richtet sich in einem nicht zu unterschätzenden Umfang gegen das demokratische und soziale Potential des Bürokratismus.

Der Liberalismus hat zweifelsohne eine (für ihn) richtige Front gegen die Bürokratie eröffnet, er führt eine Auseinandersetzung, an der er — verhält er sich bündnispolitisch klug, nämlich so, daß es ihm auch weiterhin gelingt, die Nutznießer der Bürokratie in den Kampf gegen diese miteinzubeziehen — unter den gegebenen Kräfteverhältnissen in der Gesellschaft nur gewinnen kann. Fürchten muß er allerdings das Schaltersyndrom:

Es ist das Schicksal jedes Deutschen, vor dem Schalter zu stehen — und seine Sehnsucht, hinter dem Schalter zu sitzen!

(Kurt Tucholsky [38])

Jeder ist gegen die Bürokratie und wäre gern selbst dabei. Was für Deutschland damals galt, gilt auch für Österreich heute. Die Beamtenlaufbahn ist heiß umworben. Nach neuesten Studien und aller Marktwirtschaftseuphorie zum Trotz wollen ca. 80 Prozent der österreichischen Jugendlichen in den Staatsdienst, ziehen sie die Sicherheit des Staates der Freiheit des Marktes vor. Otto Hintzes Rekurs auf diesen doch äußerst interessanten Umstand ist auch heute noch gültig: „Der starke Andrang zu den öffentlichen Betrieben legt doch ein günstiges Zeugnis für sie ab, das alle übelwollende Kritik nicht zu entkräften vermag.“ [39]

Es ist schon ein groteskes Bild: die Bürokratie ist medial zum Hauptfeind geworden, viele Menschen beteiligen sich an dieser Verunglimpfung. Und doch ist es für die meisten Österreicher nach wie vor ein berufliches Ziel, Beamte zu werden, im Staatsdienst tätig sein zu dürfen. Der gesunde Menschenverstand — mit welchen Unzulänglichkeiten er auch immer behaftet sein mag (es sind gar viele [40]) — erweist sich zumindest in diesem Fall den liberalen Interessen und Einflüssen überlegen. Was freut und weniger mit dem Wunsch nach Unterordnung, als dem Wunsch nach Sicherheit zu erklären ist.

Linke, die sich dem liberalen Kampf anschließen, stehen aber eindeutig an der Front auf der falschen Seite. Ihre Kritik an Bürokratie und Bürokratismus hat eine differenzierte zu sein, keine prinzipielle. In der gegenwärtigen Situation geht es daher darum, gemeinsam mit der Bürokratie die liberalen Angriffe abzuwehren. Bürokratiefeindlichkeit darf nicht der Ort sein, wo sich selbstbewußte Liberale mit naiven Linken und Alternativen treffen. [41]

Mit einer Mär sollte in diesem Zusammenhang auch einmal aufgeräumt werden, mit der Verwechslung von Toleranz und Liberalismus. Es stimmt auch nicht, daß der Liberalismus keine Autoritäten mag, er wünscht nur keine anderen Autoritäten in der Gesellschaft. Auch der Liberalismus hat dort seine Grenzen, wo der Liberalismus seine Grenzen hat. Eine emanzipatorische Linke kann nur antiliberal sein.

X.

Wenn wir Zeitungen lesen — was wir müssen, nicht um zu wissen, was ist, sondern um zu wissen, wovon die anderen reden —, dann erhalten wir eine klare Antwort: Alle Probleme sind Probleme (mit) der Bürokratie:

Ein Großteil dieser Budgetprobleme ist darauf zurückzuführen, daß Österreich ein überbürokratisierter Staat ist, bei dem das Verhältnis zwischen der wertschaffenden Wirtschaft und der an sich notwendigen, aber eben im engeren Wortsinn unproduktiven Verwaltung aus der Balance geriet. Zur Erinnerung: Es gibt bei uns mehr Beamte als Industriebeschäftigte. [42]

Innert kurzer Fristen erinnert Hans Rauscher im »Kurier« sich und seine Leser an diesen „Mißstand“. Wie Gebetsmühlen arbeiten diese „Kolumnenmaschinen“ — wie Michael Scharang sie sehr treffend bezeichnet [43] —, täglich verabreichen sie ihrem Publikum diese unverdaubare Kost, bis dieses meint, daß es nur diese Sicht der Dinge gebe. Besonders haben es den Rauschers die Bundesbahnen angetan. Kein Artikel, wo die Bundesbahner nicht als Inbegriff der Sozialschmarotzer und Privilegienritter, als Feindbild der Nation aufgeführt werden.

Selbst Peter Alexander, der in der Krone auf sein hartes und arbeitsreiches Leben zurückblickt, seufzt über die paradiesischen Zustände der Kollegen beim Verschub: „Warum bin ich kein Bundesbahner geworden. Da hätt’ ich schon mit 52 in Pension gehen können.“ [44] Tja, ungerecht ist die Welt.

„Weniger Beamte!“ ist eine Forderung, die sich leicht stellen läßt. Nur, wo und wozu? Beim Universitätspersonal etwa wird man ebensowenig einsparen können wie bei den Krankenschwestern oder Kindergärtnerinnen. Ein Abbau der Staatsbürokratie ist ohne Abbau bestimmter Leistungen unmöglich. Die liberalen Kommentatoren (und zunehmend auch die von ihnen dimensionierten Politiker) wissen zwar nicht, wovon sie reden, aber sehr wohl, was sie wollen.

Der antibürokratische Kampf, der vom heimischen, aber noch mehr vom ausländischen Kapital vorgegetragen (Stichwort: Einschränkung der Erwerbsfreiheit) wird, der in den Medien angeführt und von den Politikern aller Schattierungen bereits nachgeäfft wird, hat, obwohl er berechtigte Anliegen und Wünsche der Bevölkerung aufgreift, vor allem eine antisoziale Zielsetzung. Die Frage ist nämlich auch immer die, wie berechtigte Wünsche und Anliegen aufgegriffen werden, was mit ihnen geschieht. Unter der Anleitung einiger freier Bürger soll der vielzitierte kleine Mann mobilisiert werden, seine eigenen Rechte zu beschneiden. Apropos beschneiden: Fußpilze werden ja auch nicht durch Amputation des Beines beseitigt, obwohl sie dann auf jeden Fall verschwunden wären. Genau diese Methode aber ist vorgeschlagen.

Es geht ihnen nicht um die Schwächung der Bürokratie, sondern darum, den Sozialstaat auszuhebeln, die Kämpfe von hundert Jahren sozialer Bewegung (wenigstens teilweise) rückgängig zu machen. In Zeiten der Hochkonjunktur ist das sogar noch leichter, weil viele Erwerbstätige unmittelbar kaum auf die sozialstaatlichen Einrichtungen angewiesen sind, d.h. die Beseitigung bestimmter Rechte und Begünstigungen sie nicht ad hoc trifft. Der Abbau sozialer Rechte muß nicht unmittelbar mit dem Abbau des sozialen Niveaus einhergehen.

Die Kritik am Bürokratismus hat jedenfalls dazu geführt, daß auf dem sozialen Sektor jede innovatorische Kraft verlorengegeangen ist. Trotz günstiger Wirtschaftslage bleiben Sozialreformen wie zu Beginn der Siebzigerjahre aus.

XI.

Einerseits hetzt man in den Medien gegen die Bürokratie, andererseits auch gegen die Korruption. Das ist ein Widerspruch. Man geißelt die strengen Regeln und Richtlinien, den Amtsweg und den Papierberg, kurz: man zweifelt am Sinn der (über-) korrekten Einhaltung von Gesetzen und Vorschriften. Andererseits verurteilt man bestimmte innerbürokratische oder politische Abweichungen (Vergabe von Aufträgen und Projekten, Besetzung von Funktionen etc.) als Korruption (Freunderlwirtschaft, Vitamin B etc.).

Ein bestimmter Bruch ist freilich nicht Zielscheibe der medialen Kritik bzw. der davon abhängigen öffentlichen Debatte: die illegale Weitergabe von internem Material. Das Amtsgeheimnis ist uns, damit kein Mißverständnis aufkommt, kein Wert an sich, aber der marktwirtschaftliche Umgang, die Umgehung durch einen ordinären Handel, die Weitergabe von Akten an Journalisten bestimmter Medien ist auch nicht gerade einer. Die Worme etwa existieren auf der Grundlage permanenter Gesetzesverletzung (untreuer Amtsträger). Wir plädieren — von begründeten Fällen abgesehen — für die öffentliche Zugänglichkeit samt Registrierung sämtlicher Akten, nicht aber für die Privatisierung einzelner Unterlagen.

Eines aber sollte klar sein: Es gibt keine Bürokratie ohne die Abweichung von bürokratischen Prinzipien. Der menschliche Zug beim Vollzug (das „Nachhelfen“) kann nicht immer hintangehalten werden. Streng genommen ist die nichtbürokratische Handlung ein Betrug an der Allgmeinheit, wenn sie zugunsten des Klienten ausfällt, und ein Betrug am Klienten, wenn sie zu seinen Ungunsten ausfällt. Je menschlicher, desto korrupter, je bürokratischer, desto gerechter, könnte man meinen. Doch vergessen wir nicht: Korruption bringt Freude und Abwechslung in den grauen Alltag des Bürokraten. Sie hebt kurzfristig die Entfremdung zugunsten der Selbsttätigkeit auf. Korruption ist, im Gegensatz zum bürokratischen Akt, ein sinnlicher Akt. Das sagt man zwar nicht, noch weniger schreibt man es, aber stimmen tut’s doch, und so wird’s auch gehandhabt. Wer in den Dienstwegen (die ja keine Dienstwägen sind) nicht irre werden soll, der muß sich gelegentlich einen (amtlich tolerierten) Ausflug in die Illegalität leisten.

XII.

Bei der anstehenden Verwaltungsreform dreht sich die Diskussion hauptsächlich um die Beseitigung der sogenannten Beamtenprivilegien. So haben heute fast alle für die Abschaffung der Pragmatisierung zu sein. Dabei wird nicht bedacht, daß gerade diese die Kosten der Bürokratie niedrig hält. Im Falle einer Aufhebung müßten nicht nur den Spitzenbeamten weitaus höhere Löhne ausbezahlt werden, damit sie nicht in die Privatbürokratie (Versicherungen, Banken etc.) abwandern. Der Staat würde dann bloß die Ausbildungskosten tragen, der Nutzen würde der Privatwirtschaft zufließen. Es ist das alte Spiel, das auch in diesem Bereich durchgesetzt werden soll: Kosten sollen sozialisiert bleiben, der Profit hingegen privatisiert werden.

Durch die Aufhebung der Pragmatisierung wird außerdem die Freiheit des Verwaltungsbeamten außerhalb des Büros untergraben. Politische Betätigung zieht die Gefahr der Entlassung nach sich. Sie nimmt ihm die Sicherheit des Arbeitsplatzes und unterwirft ihn zusätzlich zu den formellen Regeln noch der inhaltichen Willkür der Vorgesetzten. Das Bekenntnis zum bürgerlichen Staat und seinen Gesetzen wird auf die Privatsphäre ausgeweitet. Die einmalige Aufforderung zum Gelübde wird zu einer permanenten Anforderung. Die politische Betätigung von Beamten als Privatpersonen, vor allem außerhalb der etablierten Parteien und Verbände, kann durch die Aufhebung der Pragmatisierung entscheidend eingeengt werden und wäre eine neue Disziplinierungsmaßnahme. Vielleicht soll sie das auch sein.

XIII.

Die Alternativbewegung ist mit ihren basisdemokratischen Vorstellungen (vorerst) gescheitert. [45] Vor allem die Idee eines herrschaftsfreien Netzwerkes erwies sich der Bürokratie hinsichtlich Effizienz wie Demokratie als unterlegen.

Beim Netzwerk sind Regelungsdichte und Transparenz nicht nachvollziehbaren Kriterien überlassen. Das Netzwerk zeichnet sich durch Willkür aus, statt durch Verbindlichkeiten. Geht die Bürokratie von der Fälligkeit aus, Informationen weiterzugeben (oder auch für sich zu behalten), so beobachten wir im Netzwerk eine Zufälligkeit der Informationsweitergabe. An die Stelle formaler Herrschaft und Hierarchie setzt sie informelle Klüngel und Vetternwirtschaft. Minimiert die Bürokratie die informelle Herrschaft zugunsten der formellen, so maximiert das Netzwerk die informelle Herrschaft zuungunsten der formellen. Die oft behauptete Herrschaftslosigkeit war eine reine Farce und endete beim praktischen Versuch meist im Chaos oder in der Unterordnung unter originäre Führungspersönlichkeiten aus dem informellen Bereich oder unter von außen oktroyierte Führer (Promis).

Das Netzwerk ist also im besten Fall undemokratisch und im schlechtesten Falle unbrauchbar. Es überträgt Regeln der individuellen Kommunikation (freier Meinungsaustausch, willkürliche Informationsweitergabe, Recht auf Geheimnisse, Bevorzugung bestimmter Individuen etc.) auf kollektive Gebilde.

Die Geschichte der organisierten Teile der Alternativbewegung zeugt von der Überwindung des Netzwerks. Zwei Perspektiven standen hier zur Verfügung: die demokratische Partei und der Promiverein, d.h. das bürokratische und das Honoratiorenmodell. Durchgesetzt hat sich eine Mischung aus beiden, bei eindeutiger Dominanz des letzteren auf Bundesebene. Das Promimodell ist einfacher handhabbar, vor allem von außen.

Auch daß mit der Denzentralisierung ein Gegengift gegen den Bürokratismus gefunden wurde, muß entschieden bestritten werden. Natürlich mag es einzelne Beispiele geben, wo Verwaltungsangelegenheiten dezentral besser funktionieren. Insgesamt zeitigt jede Dezentralisierung aber auch Probleme: Intransparenz, Entscheidungslähmung und Koordinationsschwierigkeiten. Was im Einzelfall einfach ausschaut, kann die Sache mehr komplizieren, als ursprünglich angenommen.

Die Entscheidung für Zentralismus oder Dezentralismus (oder eine spezifische Kombination beider) ist von taktischer, nicht von prinzipieller Natur. [46] Sätze wie „Small is beautiful“ oder „Big is better“ sind so richtig wie falsch, also nur beschränkt richtig. Jede Fragestellung erfordert eine bestimmte Konkretion, Vorgaben sind eher störend als handlungsanleitend und zielorientiert. Zentralismus und Dezentralismus sind in unserer Betrachtung keine ideologiefähigen Kategorien.

Hans Kelsen, der Schöpfer der österreichischen Verfassung, ein überzeugter Zentralist, sah in der Dezentralisierung sogar Gefahren für die parlamentarische Demokratie und sprach sich daher ganz entschieden dagegen aus: „Der Wille des Ganzen — so wie er in der zentralen Legislative zum Ausdruck kommt — droht durch den Willen des Teils — in den einzelnen Selbstverwaltungskörpern — paralysiert zu werden.“ [47] Ein Argument, das nicht leichtfertig von der Hand gewiesen werden kann. Die tendenzielle Aufhebung verschiedener Kompetenz-Kompetenzen kann nur zum Kampf verschiedenster Bürokratien und gesetzgebender Körperschaften gegeneinander führen. [48]

XIV.

Das Progressive an der modernen Bürokratie ist, daß sie ihrem Wesen nach ein Bremsklotz jeder Gesellschaft ist. Diesen Charakterzug gilt es noch stärker zu entwickeln.

Eine Zukunft der Bürokratie liegt also in ihrer Rolle bei der Entschleunigung der Gesellschaft. Die Gesellschaft hat eine Dynamik entfaltet, die gebremst und gestoppt werden muß. Wachstumszahlen, gesellschaftliche Umgruppierungen, ökologische Katastrophen, das alles geht mit einer Geschwindigkeit vor sich, die nach der Handbremse schreit. Mehr Staat — unabhängig, ob das ein sozialistischer, ein demokratischer oder faschistischer sein wird — erscheint auf die Dauer unausweichlich. Dazu wird eine starke Bürokratie vonnöten sein.

Überspitzt formuliert ist die Bürokratie vorweggenommener Sozialismus, wenn auch kapitalistisch deformiert. Damit soll die Bürokratie aber nicht als neues revolutionäres Subjekt (z.B. statt der Arbeiterklasse) installiert werden. Doch eines scheint klar: Ohne Bürokratie, ohne Gewinnung und Unterstützung maßgeblicher Teile ebendieser, sind die notwendigen Umwälzungen nicht machbar.

Die Bürokratie wird in den Übergangsphasen zu nachkapitalistischen Gesellschaften eine entscheidende Rolle spielen. Die Bürokratie ist zwar nicht der primäre Träger der Umwälzung, aber sie gewährleistet die Unterordnung der Ökonomie unter die Politik (und auch, was oft verschwiegen wird: unter die Ideologie).

XV.

Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebiets — dies: das ‚Gebiet‘, gehört zum Merkmal — das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht. Denn das der Gegenwart Spezifische ist, daß man allen anderen Verbänden oder Einzelpersonen das Recht zur physischen Gewaltsamkeit nur soweit zuschreibt, als der Staat sie von ihrer Seite zuläßt: er gilt als alleinige Quelle des ‚Rechts‘ auf Gewaltsamkeit. [49]

Behauptet wird also nicht schlichtweg ein Gewaltmonopol des Staates — das würde auch nicht den Tatsachen entsprechen, geht doch weit mehr Gewalt von der Gesellschaft aus, als von ihrem staatlichen Sektor —, sondern daß Gewalt nur dann legitim ist, wenn sie staatlich getan, toleriert, gefördert oder zugelassen wird. Der Staat mit seinem Gewaltapparat hat nicht die Gewalt monopolisiert, er ist vielmehr dazu da, gesellschaftliche Macht und Gewalt in letzter Instanz zu garantieren und abzusichern, d.h. erst dann einzugreifen, wenn der Gesellschaft die Selbstherrschaft zu mühsam, die Selbstjustiz zu grausam oder die Selbstgewalt ganz einfach zu schwach ist.

XVI.

Der Staat ist nicht neutral. Die Aussage stimmt. Doch was sagt sie aus? Davon abzuleiten, daß der Staat nur ein Ausschuß bourgeoiser Interessen wäre, ist jedenfalls verfehlt. »Bürgerlicher Staat« meint bloß, daß es seine Aufgabe ist, die bürgerliche Gesellschaft als System zu garantieren, nicht aber, daß sich ausschließlich bürgerliche Interessen in seinem Handeln wiederfinden. Der Staat erst formiert die bürgerliche Gesellschaft, er kann nicht ihr bloßes Mittel sein — auch wenn er in dieser Funktion oft in Erscheinung tritt —, er ist Voraussetzung ihres Bestehens.

Der bürgerlicher Staat ist auch Ausdruck eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses. So ist es nicht zwingend, daß er immer bürgerlichen Interessen entspricht. Manchmal greift er sogar sehr vehement in bürgerliche (Vor-) Rechte ein, denn gerade „in Staat und Bürokratie verkörpern sich eben auch Interessen der abhängig Beschäftigten“, [50] deutlicher als in den übrigen Bereichen der bürgerlichen Gesellschaft. Es ist gerade ein hervorstechendes Wesensmerkmal der entwickelten bürgerlichen Demokratie, daß ihr Staat, bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung seines Klassencharakters, den Wünschen und Vorstellungen von Arbeitern und Angestellten, Beamten und Intellektuellen, Bauern und Kleinbürgern nicht nur entgegenkommt, sondern deren Interessen in der Gesellschaft Raum eröffnet und sie bewußt in sein Handeln miteinbezieht.

XVII.

Staatliche Gesetze und gesellschaftliche Realitäten dekorrespondieren. Doch was folgt daraus? Doch nicht, daß der Staat seine Normen der gesellschaftlichen Normalität anzupassen hätte. Das wäre in vielen Punkten ein deutlicher Rückschritt.

Der Staat garantiert weitaus mehr Ansprüche, als die Gesellschaft einzulösen bereit ist. Ein deutliches Beispiel dafür ist, daß staatlicherseits die Gleichstellung der Frau im Erwerbsleben („Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit!“) zwar „verwirklicht“ ist, von der Gesellschaft aber partout nicht erfüllt wird. Man könnte diese Liste fortsetzen und zeigen, in wie vielen Fällen die staatliche Gesetzgebung fortschrittlicher ist als das gesellschaftliche Leben.

Der Staat ist nicht die primäre Integrationskraft in der Gesellschaft, auch wenn er diese letztlich zusammenhält. Ein Großteil der Integrationsfaktoren sind nichtstaatlich: Produktions- und Distributionsbereich, Familie, Warenwelt, Kirche etc. Auch die Ausbeutung und der Verzicht auf viele bürgerliche Freiheiten während der Lohnarbeit — schließlich hat man sich da ja verkauft — sind gesellschaftlich bedingt, nicht staatlich. Arbeitsplatz und Konsum, Verteilung und Raub, Medien und Werbung dimensionieren den heutigen Menschen mehr als staatliche Behörden und Normen.

XVIII.

Der Staat ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Er muß gegen die Liberalen und alle Marktwirtschaftseuphoriker in Schutz genommen werden. Diese wollen den Staat zurückzudrängen, ihn auf einen Gewaltapparat reduzieren. Die tendenziell emanzipatorischen Momente des Staates gehen dabei verloren, während das repressive Element gestärkt wird.

Beim „Kampf gegen den Staat“ ist Differenzierung nötig. Wogegen man ist und auftritt, ist deutlich zu benennen, ebenso, was erhaltenswert ist, auch wenn es bloß schützenswert ist, weil es aktuell keine greifbaren Alternativen gibt. Die Kritik des konkreten Staates, die nur Bestandteil einer Kritik der konkreten Gesellschaft ist, hat so zu unterscheiden zwischen einer prinzipiellen (Militär, Polizei) und einer taktischen (Bürokratie, Recht) Seite. Von einer prinzipiellen Staatsfeindlichkeit (wie sie in linken und grünen Kreisen gerade en vogue ist) sollte Abschied genommen werden. Die Linke, die diese Bezeichnung verdient, hat antiliberal zu sein.

Der Sozialismus hat jedenfalls nicht deshalb eine so verheerende Niederlage erlitten, weil er auf den Staat setzte. Das wäre doch etwas zu eng und reduktionistisch, und vor allem ganz idealistisch gedacht.

Über der (notwendigen und auch nützlichen) Kritik des Staates wurde die Kritik der Gesellschaft vernachlässigt, vor allem vergessen, daß die Bedingungen des bürgerlichen Staates in der bürgerlichen Gesellschaft liegen. Diese Einseitigkeit ersetzt Gesellschaftskritik durch Staatskritik, [51] verengt also oppositionelle Kritik auf einen bestimmten gesellschaftlichen Sektor, den Staat, und macht durch die Vergrößerung des einen Bestandteils das Ganze unsichtbar. Die staatlichen Apparate sind nicht die Quelle der Macht und der Herrschaft, sondern deren Ausdruck und letzte Garantie.

XIX.

Eine der schlimmsten linksliberalen Kopfgeburten der letzten Jahre ist die „zivile Gesellschaft“. Die Freunde dieses ausschließlich positiv besetzten Begriffs wollen wie alle Liberalen Kompetenzen des Staates in die Gesellschaft zurücknehmen. Eine alte liberale Idee wird aufgewärmt, ohne zu bedenken, daß die Verhältnisse in der Gesellschaft um vieles ungleicher, undemokratischer und letztlich auch unfreier sind als im Sektor Staat. Ist es doch der Staat, der am meisten demokratisiert und transparent ist.

Es ist immer wieder die Frage zu stellen, ob von Macht und Gewalt, die das Individuum in seinem Leben zu erleiden hat, ein Großteil vom Staat ausgeht, d.h. Staatsgewalt ist, oder doch eher den ungeschriebenen Regeln der gesellschaftlichen Kommunikation folgt. Die Gesellschaft ist gewalttätiger als der Staat, ihre Macht ist weniger eingeschränkt — weil frei und eben nicht an Gesetze gebunden. Während staatliche Übergriffe berechtigerweise Entsetzen auslösen, werden gesellschaftliche Übergriffe unberechtigerweise wie schicksalshaft hingenommen. Für die westlichen Demokratien kann und muß behauptet werden, daß der Staat zivilisierter ist als die sogenannte zivile Gesellschaft. [52]

Ob das nun die Fabriken sind oder der Straßenverkehr, die Luftverschmutzung oder das Familienleben, gegen die Gefahren, die dort lauern, sind Staat und Bürokratie geradezu Wohltätigkeitsvereine. Der Staat, der die Gesellschaft einengt und bedrängt, ist ein Märchen der Unternehmer und ihrer Liberalen, die als Prototypen des freien Bürgers auftreten und Allgemeininteresse heucheln. Nicht die Gesellschaft schützt vor dem Staat (obwohl es das selbstverständlich auch gibt, ist dies doch nicht die Haupttendenz), sondern der Staat schützt vor der Gesellschaft, wie auch — was nach wie vor richtig ist — in Krisensituationen die Gesellschaft vor ihren Mitgliedern. Das Tabu der Gesellschaftskritik muß wieder aufgehoben werden.

XX.

Der Staat gebärdet sich deswegen oft konservativ bis reaktionär, eben weil er dem reaktionären Bewußtsein in der Bevölkerung nachgehen und nachgeben muß, nicht weil er die Gesellschaft nach rechts drängen will. In Österreich stehen alle Parlamentsparteien links von ihrer Wählerschaft. Das gilt sogar für die FPÖ Jörg Haiders.

Es ist z.B. falsch, ob ihrer restriktiven Asylpolitik anzunehmen, daß sozialdemokratische Politiker, von Cap bis Marrizi, von Löschnak bis Matzka, auf einmal zu Ausländerfeinden geworden sind. Das würde Ursache und Wirkung verkehren. Tatsache ist, daß die Politik dieser Herren den völkischen Stimmungen folgt, aber geradezu eine aufgeklärte Variante davon darstellt. Wenn es wahr ist, daß es — so ungefähr Otto Bauer — besser sei, mit den Massen zu irren, als gegen sie Recht zu behalten, das primäre Ziel, stärkste Partei zu bleiben, dann betreiben Innenministerium und Zentralsekretariat eine adäquate Politik, die, steht man auf dem sozialdemokratischen Standpunkt, gegen das moralisierende Gesäusel in den eigenen Reihen und in der liberalen Presse (die ja nichts anderes vertritt als Unternehmerinteressen) verteidigt werden muß. Der Konflikt in der SPÖ erinnert objektiv denn auch eher frappant an eine politische Arbeitsteilung für die Öffentlichkeit. Sollte eine Kritikerin oder ein Kritiker in die heutigen Funktionen der kritisierten Genossen nachrücken, werden auch sie ihren Cap und ihren Matzka stellen. Unausweichlich.

XXI.

Es gibt keine emanzipatorische Strategie, die am Staat vorbeiführt, d.h. an ihm vorbeikommt. Nicht die Frage stellt sich, ob man in staatlichen Instanzen Politik betreiben will, sondern welche vernünftig ist. In dieser Hinsicht ist auch ein Teil der radikalen linken Staatskritik in die falsche Richtung gegangen. Trampert und Ebermann irrten, als sie schrieben, daß es „keine wirkliche emanzipatorische Politik gäbe, die sich über den Staat verwirklichen kann“. [53] Das ist zweifellos eine Verkennung der gesamten bisherigen Geschichte der Emanzipation, sei sie Reform oder Revolution. Hier schwindeln sich die beiden aus der Verantwortung, wenn sie meinen, das Ziel emanzipatorischer Bewegungen (sie meinten damals noch die Grünen) sei „nicht die Staatsmacht, sondern sie kämpfen für Entfaltungsmöglichkeiten der Massenbewegungen“. [54] In einer Klassengesellschaft kann Entfaltungsmöglichkeit nur über Macht erfolgen. Man mag dies unsympathisch finden, und es birgt auch nicht zu unterschätzende Gefahren, aber es ist so. Gesellschaftliche Gegenmacht — nichts anderes sind oppositionelle Bewegungen — ist aber nur dann von Dauer, wenn sie entweder die Staatsmacht niederschlägt, oder sich in ihr. Ersteres nennt man Revolution, letzteres Reform.

Emanzipation lief bisher hauptsächlich über den Staat. Sie ist nur durch den gezielten Einsatz von Machtmitteln möglich; bräuchte es diese nicht, dann hätten wir den erwünschten Zustand bereits. [55] Emancipatio sine potestate non est.

Deshalb ist dies ein Plädoyer für die Neuauflage und Neukonstruktion eines nichtreformistischen Sozialismus, d.h. für einen Neuversuch des Zweiten Weges. Bei allen Beschränkungen und berechtigten Einwänden scheint das bolschewistische Konzept zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsformation am weitesten entwickelt. Das Scheitern der Oktoberrevolution und der ihr folgenden Umwälzungen können nicht idealistisch aus den Konzepten der Kommunisten, sondern müssen materialistisch aus den Möglichkeiten der nachrevolutionären Gesellschaften in einem kapitalistischen Weltsystem erklärt und abgeleitet werden. Bis zur Machtübernahme Stalins gab es unter den russischen und den europäischen Revolutionären einen breiten Grundkonsens. Am 3. Weltkongreß der »Komintern« 1921 formulierte ihn Lenin so:

Es war uns klar, daß ohne die Unterstützung der internationalen Weltrevolution der Sieg der proletarischen Revolution unmöglich ist. Schon vor der Revolution und auch nachher dachten wir: Entweder sofort oder zumindest sehr rasch wird die Revolution in den übrigen Ländern kommen, in den kapitalistisch entwickelteren Ländern, oder aber wir müssen zugrunde gehen. [56]

Sie blieb isoliert und ging zugrunde.

Die prinzipielle Zusage zum Zweiten Weg ist natürlich an eine Absage an den Ersten wie an alle Dritten Wege gekoppelt. Der ursprünglich reformistische Weg des Sozialdemokratismus hat sein Ziel im Ausgangspunkt gefunden, heute kann niemand mehr ernsthaft behaupten, daß mit und durch die Sozialdemokratie eine andere Gesellschaft machbar ist.

Und die Dritten Wege? Die sind allesamt Fiktionen geblieben. Deren überladene Ansprüche erschlagen jede Theorie und Aktion. Sie sind wohl deshalb so beliebt, weil sie den Sozialismus in einem Bechsteinschen Märchen, dem „Schlaraffenland“ auflösen. Außer Schlaraffen weiß freilich niemand, wie man dort hinkommt. So ist es nicht zufällig, daß alle Dritten Wege im Nichts oder im Sozialdemokratismus der II. Internationale, also in einer Neuauflage des Ersten Weges, dem Bernsteinschen Märchen, endeten und enden müssen.

XXII.

Die Theorie der Menschenrechte ist geprägt von bürgerlichen Wertvorstellungen. Als Menschenrechte gelten heute bloß die Bürgerrechte, nicht jedoch die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse. Alles, was die Bürger schon haben, ist ihnen nicht mehr wert, für die anderen einen Wert darzustellen. In zynischer Arroganz fordern sie von den unterentwickelt Gehaltenen die Einhaltung der Sekundärtugenden, der ihnen so wichtigen Bürgerrechte. Sie tun so, als ob sie nicht wüßten, daß diese erst zur Geltung kommen können, wenn die Primärbedürfnisse der großen Mehrheiten gestillt sind.

Bürgerrechte setzen erst nach den essentiellen Bedürfnissen ein. Essen, Trinken, Wohnen, Lieben, Spielen, Schlafen, Lesen, Schreiben, Bewegen, Arbeiten, Lohn empfangen, Faulenzen etc. gehen vor. Die bürgerlichen Rechte haben nachgeordnete Bedeutung. Freiheit ist erst dann ein höherer Wert als Essen, wenn der Hunger gestillt ist.

Es geht um eine Rangordnung der Prinzipien, eine Rangordnung, die nicht zu allen Zeiten und an allen Orten die gleiche sein kann. Wer immer Grundwerte angibt, muß sie nicht nur anschaulich definieren, sondern kommt nicht umhin, sie auch abstrakt wie konkret, theoretisch wie praktisch zu hierarchisieren. Das Spannungsverhältnis ist zu erläutern und die Argumente der Bevorzugung und der Benachteiligung zu benennen.

XXIII.

Wir erleben heute die Renaissance eines alten Leitbegriffes. Gemeint ist der Markt. Er gilt als die Wunderwaffe schlechthin.

Eine marktlose Gesellschaft ist selbstverständlich unmöglich. Auch in einer sozialistischen Planwirtschaft wird der Markt eine, wenn auch eine untergeordnete Rolle spielen. Jede Gesellschaftsformation beherbergt unterschiedliche Produktionsweisen, die kapitalistische wie die sozialistische. Ihr Grundcharakter läßt sich nur ermitteln, indem im Ensemble der Produktionsweisen eine den dominanten Part spielt. Im Sozialismus wird das zweifellos die Planwirtschaft sein. Der Markt und seine entscheidenden Größen Angebot und Nachfrage sollen bloß flexible und aktuelle Korrekturen ermöglichen. Das Profitprinzip muß dem Bedürfnis-Prinzip rigoros unterstellt sein.

Unbestreitbar bietet die marktwirtschaftliche Freiheit Möglichkeiten, doch für die Mehrheit der Menschen ist sie eine einzigartige Verunmöglichung des Lebens. Die Bürokratie eröffnet und begrenzt die Möglichkeiten der Menschen. Die Marktwirtschaft eröffnet hingegen grenzenlose Möglichkeiten, was aber auch bedeutet, daß sie die Möglichkeiten der meisten Menschen gegen Null hin begrenzt. Marktwirtschaftliche Durchsetzung, das ist nichts anderes als die angemaßte Selbstkompetenz in Permanenz. Die Freiheit, die sie meinen, die gibt es etwa schon auf dem Wohnungsmarkt. Das sollte allen eine Warnung sein.

Marktwirtschaft ist vielfach ein Spiel ohne Reglement, ein öffentlich tolerierter Diebstahl: „Die Vorliebe des Bürgertums für Räuber erklärt sich aus dem Irrtum: ein Räuber sei kein Bürger. Dieser Irrtum hat als Vater einen anderen Irrtum: ein Bürger sei kein Räuber“, [57] wußte schon Bertolt Brecht. Und er wußte damit, was heute niemand mehr wissen will.

XXIV.

Der freie Bürger fürchtet Staat und Bürokratie deswegen, weil sie ihn den von den Bewegungen erkämpften Regulierungen unterwerfen könnten. Er sieht darin feindliche Institutionen, die ihn um die Früchte seiner individuellen Leistungen in der Gesellschaft bringen. Das Konzept des freien Bürgers inkludiert die Minimierung staatlichen zugunsten gesellschaftlichen Zwanges. Der freie Bürger ist der von den staatlichen Zwängen, den Auflagen und Pflichten befreite Bürger. Die staatlich garantierten Rechte sollen den gesellschaftlichen Zwängen geopfert werden. Es geht ihm um eine Zurückdrängung der staatlichen Regulierung. Diese stärkt zwar den freien Bürger, nicht jedoch die Staatsunterworfenen im allgemeinen, denen Erkämpftes sozusagen „wegzivilisiert“ wird.

Der unbedingte Individualismus des freien Bürger deutet an, daß einige Individuen mehr wert sind als viele, daß die Freiheiten einiger über den Freiheiten vieler stehen sollen. Dies führt zu einer sozioökonomischen Wertigkeit von Menschen, d.h. zu einer Freiheit des Individuums, die sich primär über den Marktwert bestimmen läßt.

XXV.

Die Freiheit wird im Marxismus eng an den Begriff der Notwendigkeit geknüpft: „Freiheit besteht also“, schreibt Friedrich Engels „in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung. Die ersten, sich vom Tierreich sondernden Menschen waren in allem Wesentlichen so unfrei wie die Tiere selbst; aber jeder Fortschritt in der Kultur war ein Schritt zur Freiheit“. [58]

Die Freiheit, für deren Dominanz wir eintreten, ist die Freiheit der Allgemeinheit vom Individuum, nicht die Freiheit des Individuums von der Allgemeinheit. Die Freiheit ist — eben wegen ihrer schrankenlosen Nutzung im Kapitalismus — zu einem knappen Gut geworden. Eine restriktive Handhabung derselben ist notwendig und wünschenswert. Wenn bestimmte Freiheiten erhalten und ausgebaut werden sollen, wird es notwendig sein, bestimmbare Freiheiten einzuschränken bzw. zu beseitigen. Freiheit darf nicht mehr einfach ergriffen und genommen, was heißt: anderen genommen werden wie bisher. Freiheit darf keine Ware sein. Sie ist uns ein für alle proportioniertes Gut. Freiheit ist nur Freiheit, wenn sie annähernd eine gleiche Freiheit ist. Die gleiche Freiheit aller ist mehr wert als die größtmögliche Freiheit weniger Einzelner.

Befreiung wird in Zukunft nur noch möglich sein, wenn man den individuellen Freiheiten engere Grenzen zieht. Emanzipation besteht heute — das ist eine neue Qualität — in der Begrenzung und nicht mehr in der Entgrenzung. Die Freiheit muß ihrer bürgerlichen Schrankenlosigkeit entledigt werden, sonst erledigt uns diese. Je größer die Möglichkeiten und damit die Folgen des Handelns werden, desto geringer ist die individuelle Freiheit (etwa im Produktionsprozeß) zu veranschlagen.

XXVI.

Freiheit kann sich nur in Ungleichheit ausdrücken. Und umgekehrt. Die Gleichheit kann sich nur in Unfreiheit ausdrücken. Doch Freiheit, die Ungleichheit bedeutet, bedeutet auch Unfreiheit; und Gleichheit, die Unfreiheit bedingt, bedingt auch Ungleichheit. Sobald man versucht, Freiheit gleich zu machen, wird sie unfrei. Sobald man versucht, Gleichheit frei zu geben, schlägt sie in Ungleichheit um.

So weit die Theorie. Und trotzdem soll man sich nicht mithilfe eines dialektischen Verhältnisses von Freiheit und Gleichheit aus der Verantwortung eines Standpunktes stehlen. Anders als die Liberalen vertreten wir die Protektion der Gleichheit. Diese ist ohne Gleichmacherei von Ungleichem nicht zu haben. Die Gegenüberstellung von Gleichheit und Gleichmacherei haben wir übrigens nie verstanden. Gleichheit ist doch kein Naturzustand, sondern nur kulturell herstellbar: durch Gesetze und Löhne, durch Rechte und Pflichten. Das muß erst einmal gleich gemacht werden.

Die Freiheit (einzelner) beschneidet nicht nur die Gleichheit, sondern auch die Freiheit (aller) deutlicher, als die Gleichheit sie beschneidet. Die Gleichheit ist eine Einengung, die Freiheiten eröffnet, während die Freiheit eine Ausweitung ist, die Freiheiten verunmöglicht. Und noch ein Umstand sollte nie vergessen werden: Für die größtmögliche Freiheit aller gibt es ganz einfach zu wenig Raum, zu wenig Zeit und zu wenig Güter. Ökologisch wäre sie außerdem eine einzigartige Katastrophe.

XXVII.

Die Frage, die auch nach den jüngsten Ereignissen in Osteuropa, der Krise der kolonialen Befreiungsbewegungen, der Domestizierung der Grünen und der Hochkonjunktur nach wie vor offen bleibt und eine Debatte erfordert, lautet: Ist der Kapitalismus umstürzbar oder ist er unstürzbar?

Die Privatisierer im Osten — die alle überzeugte Kronzeugen des westlichen Weges sind — haben diese Frage schon auf ihre Weise beantwortet:

Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Mittel- und Osteuropa bedeutet auch den Zusammenbruch der Marxschen Konzeption der Überlegenheit vergesellschafteten Eigentums über das Privateigentum. Die ganze Vorstellung des Sozialismus, die auf der Kollektivierung der Produktivkräfte und deren Eigentum basierte, erwies sich als ein großer und schädlicher Irrtum. Moderne Konzeptionen des Kapitalismus und des Sozialismus haben die gleichen ökonomischen Grundlagen, den Markt und das Privateigentum. [59]

Wir wissen zwar nicht, wie Komarek — der hier stellvertretend für fast alle östlichen Umbrüchler zitiert sei — dazukommt, in aller Munde zu sprechen, wir wissen aber, daß diese östliche Vereinnahmung heute üblich und daß der Antikapitaliimus aus der Vorstellungswelt dieser Leute gänzlich verschwunden ist. Daß ein Sozialismus völlig hinfällig ist, der sich in seinen Grundlagen nicht mehr vom Kapitalismus unterscheidet — vergessen wir nicht, daß der Sozialismus nur durch seine Opposition zum Kapitalismus zu einer historischen Kraft werden konnte —, fällt dem Autor nicht auf. Es dürfte ihn aber auch nicht mehr stören.

XXVIII.

Man mag für oder gegen den Sozialismus sein, man kann aber nicht von Sozialismus sprechen, ohne die Frage nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel positiv zu beantworten. Dieses Axiom ist nämlich das fundamentale Wesensmerkmal des Sozialismus, das ihn von allen Spielarten des Sozialdemokratismus unterscheidet.

Sozialismus ist — allen west-östlichen Unkenrufen zum Trotz — ohne Expropriation der Expropriateure nicht denkbar. Erst

mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über den Produzenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch die planmäßige bewußte Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche. Der Umkreis der die Menschen umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt unter die Kontrolle der Menschen, die nun zum ersten Mal bewußte, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden. Die Gesetze ihres eignen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht. Die eigne Vergesellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als von Natur und Geschichte oktroyiert gegenüberstand, wird jetzt ihre eigne freie Tat. Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit. [60]

So weit Engels. Ähnlich auch Karl Marx. Im dritten Band des Kapitals führt er aus:

Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also in der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dieses Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. [61]

Der Bruch mit diesen Theoremen ist ein Bruch mit dem Sozialismus.

XXIX.

Bürokratie ist also nur mit dem Staat und mit der Demokratie zu beseitigen. Lenin definierte einmal den Kommunismus als eine staaten- und somit demokratielose Gesellschaft. [62] Wo es keine Herrschaft mehr zu geben braucht, werden auch ihre Formen obsolet. Erst wenn Staat und Demokratie absterben, kann auch die Bürokratie verschwinden. Soweit die kommunistische Utopie. Nun, wir müssen zugeben, daß es heute keine empirischen Grundlagen gibt, die bereits in diese Richtung deuteten.

Solange es gesellschaftliche Kämpfe (vor allem Verteilungskämpfe, aber auch Kämpfe gegen spezifische Formen und Inhalte der Produktion) und stark differierende Lebenslagen national wie international gibt, ist eine gesamtgesellschaftliche Selbstverwaltung unmöglich, sie müßte, von äußeren Regeln und Schlichtungsinstanzen (wie der Bürokratie eben) befreit, im Chaos enden. Es ist heute unzweifelhaft, daß die sozialistischen Gesellschaften stärker bürokratisiert sein werden, als es die bürgerlichen je waren. [63] Das gilt auch für zukünftige Varianten, nicht nur für den ehemaligen real existierenden Sozialismus.

Die Bürokratie ist ein immanentes Wesensmerkmal des Sozialismus:

Je demokratischer eine gegebene Gesellschaft ist — im Sinne der Einschränkung oder Ausschaltung der Einflüsse von Eliten der Geburt, der Position, des Geldes usw. —, je schwächer infolgedessen die Einwirkungsmöglichkeit verschiedener ‚Honoratioren‘ (wobei wir auch den Geldadel zu diesen zählen), desto stärker ist die gesellschaftliche Position des bürokratischen Apparats, dem sich keinerlei seinen Einfluß begrenzende Kräfte widersetzen können. [64]

XXX.

Herrschaft, und mit ihr Macht und Gewalt, sterben erst dann ab, wenn es keinen materiellen Kampf mehr um die gesellschaftlichen Früchte gibt, wenn das Haben das Sein für alle und jeden absichert. Die Utopie der klassenlosen Gesellschaft darf nicht aufgegeben werden, auch wenn eine mittelfristige Realisierung nicht bevorsteht. Dagegen steht nämlich nicht nur der Kapitalismus, sondern auch jener ökologisch-industrielle Grundwiderspruch, der erst gelöst werden muß: Einerseits sind die Produktivkräfte weltweit noch nicht so entwickelt, um solche Entwicklungen zu garantieren. Andererseits birgt aber heute jede (undifferenzierte) Beschleunigung der Weltproduktivkräfte ökologische Katastrophen in sich. Das Dilemma lautet: Der Sozialismus erfordert Industrialisierung, die ökologisch unvertretbar ist.

Eines aber erscheint uns klarer denn je: Die Produktivkräfte müssen durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel eingezwängt werden, d.h. die unbeschränkte Freiheit, über Produktionsmittel und Produktivkraftentwicklung verfügen zu können, muß aufgehoben werden. Bloße Eingriffsrechte sind da nicht genug, gebraucht werden Vorgriffsrechte. Demokratisierung der Wirtschaft heißt Plan und Bürokratie.

Eine breite Debatte über Freiheit und Plan, über gesellschaftliche Notwendigkeiten und individuelle Möglichkeiten wäre angesagt. Wir sollten beginnen, deren Kriterien zu diskutieren. Die Zukunft gehört der Planwirtschaft.

[1Bruno Kreisky, Die Aufgaben des demokratischen Sozialismus in unserer Zeit. Rede auf dem Niederösterreichischen Landesparteitag der SPÖ in St. Pölten am 13. Juni 1967; in: ders., Aspekte des demokratischen Sozialismus. Aufsätze, Reden, Interviews, München 1974, S. 132

[2Zur Unterscheidung von „inhaltlich“ und „sachlich“ siehe: Franz Schandl, Die grüne Ideologie in: Karl Lind (Hg.), Nur kein Rhabarber! Auseinandersetzungen mit grüner Politik in Österreich, Wien 1988, S. 153-160

[3Dieser Umstand hat sogar in den Wörterbüchern Eingang gefunden. Zu „Bürokrat“, „Bürokratie“, „bürokratisch“ und „Bürokratismus“ wird uns jeweils erklärt, daß all diese Begriffe abwertend gebraucht werden und wohl auch zu gebrauchen sind. (Vgl. Duden Fremdwörterbuch, 41982, S. 131)

[4Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1929, S. 1

[5Der folgende Diskussionsbeitrag hat aber auch schon gar nichts mit übertriebener Staatstümelei oder gar Staatsfanatismus zu tun. Die in anderem Zusammenhang geäußerte Staatskritik bleibt voll aufrecht: Franz Schandl, Freiheitlich demokratische Grünzeug-Ordnung, FORVM März 1987, S. 52-56

[6Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1843), MEW Bd. 1, S. 248-249

[7Friedrich Engels, Karl Marx (1869), MEW Bd. 16, S. 362-363

[8Das trifft hier nicht nur Marx und Engels, sondern schließt ausdrücklich auch die Analysen von Lenin und Trotzki, Gramsci oder Lukács mit ein.

[9Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), Tübingen, 5. Aufl., 1985, vor allem die S. 551-579

[10Ebenda, S. 815

[11Ebenda, S. 817

[12Ebenda, S. 128

[13Ebenda, S. 559

[14Ebenda, S. 561. Wobei diese Position freilich eingeschränkt werden muß. Weber sah einen der Vorzüge der bürokratischen Organisationsform in der „Beschleunigung des Reaktionstempos“ (S. 562). Heute müssen wir dankbar sein, daß das nur bedingt richtig ist und erkennen, daß bürokratische Formen ab einer gewissen Größe, Komplexität und Zentralisation schwerfällig werden und das Reaktionstempo eher verzögern denn beschleunigen.

[15Max Weber unterscheidet drei Arten der Herrschaft: die rationale, die traditionale und die charismatische. (S. 124)

[16Ebenda, S. 580 f

[17Ebenda, S. 834

[18Ebenda, S. 826

[19Ebenda, S. 835

[20Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924, S. 414

[21Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 169. Ähnliche „basisdemokratische“ Forderungen finden sich auch bei Hans Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus, Wien und Leipzig 1925, S. 13 ff

[22Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 79

[23Ebenda

[24Die Debatte darüber, ob die Bürokratie Klasse oder bloß Schicht, politische und/oder soziale Kategorie ist, bzw. ob sie nicht verschiedenen gesellschaftlichen Klassen und Schichten zugeordnet werden muß, wollen wir uns hier aber sparen. Sie wäre für unseren Beitrag auch von untergeordneter Bedeutung. (Vgl. dazu etwa: Nicos Poulantzas, Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, 2. überarbeitete Auflage, Frankfurt am Main 1975, S. 323 ff)

[25Henry Jacoby, Die Bürokratisierung der Welt, Neuwied und Berlin (West) 1969, S. 114

[26Otto Hintze, Der Beamtenstand; in: ders., Beamtentum und Bürokratie, Göttingen 1981, S. 17-18

[27Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 229, 551 f, 825, 835

[28Hartmut Häußermann, Bürokratie/Bürokratisierung; in: Rüdiger Voigt (Hg.), Handwörterbuch zur Kommunalpolitik, Opladen 1984, S. 84

[29Wir verwenden einen engen Demokratie-Begriff, der Demokratie mit Parteienstaat und Parlamentarismus (d.h. Wahlmöglichkeiten im politischen Sektor und mit der Etablierung von bürgerlichen Grundrechten) gleichsetzt.

[30Leo Kofler, Stalinismus und Bürokratie (1952), Neuwied am Rhein und Berlin (West) 1970, S. 21

[31Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 73

[32Robert K. Merton, Bürokratische Strukturen und Persönlichkeit (1940); in: Renate Mayntz (Hg.), Bürokratische Organisation, Köln-Berlin (West) 1968, S. 271

[33profil 42, 13. Oktober 1986, S. 1

[34Bernd Wunder, Geschichte der Bürokratie, Frankfurt am Main 1986, S. 66

[35Diese Inflation von Gesetzen und Verordnungen hält auch nach wie vor an. Man nehme nur den aktuellen Sozialbericht, blättere ihn durch und versuche einen Überblick zu bewahren. (Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Bericht über die soziale Lage 1989, Wien 1990)

[36Rüdiger Voigt, Regulatives Recht im Wohlfahrtsstaat; in: ders. (Hg.), Abschied vom Recht?, Frankfurt am Main 1983, S. 20

[37Otto Hintze, Der Beamtenstand, S. 67

[38Kurt Tucholsky; zit. nach: Herbert Sultan/Wolfgang Abendroth, Bürokratischer Verwaltungsstaat und soziale Demokratie. Beiträge zu Staatslehre und Staatsrecht der Bundesrepublik, Hannover-Frankfurt am Main 1955, S. 40

[39Otto Hintze, Der Beamtenstand, S. 71

[40Vgl. Franz Schandl, Die grüne Ideologie, S. 160-169

[41Vgl. etwa Peter Pilz, Land über Bord. Kein Roman, Wien 1989, S. 184: „Es ist ein weiter Weg von der leeren Hülse ‚Volksvertretung‘ hin zur Realdemokratie. Das größte Hindernis auf diesem Weg ist die Allmacht der Bürokratie.“ Dumpfe Vorurteile in maßlosen Begriffen, eben eine allmächtige Pilzsche Realanalyse.

[42Hans Rauscher, Milliardengrab Bundesbahnen, Kurier, 4. April 1991, S. 2

[43Michael Scharang, Literaturtratsch, Theaterklatsch, Zeitungsquatsch, Konkret 2/1991

[44Georg Markus, Peter Alexander, wie ihn keiner kennt, Neue Kronen Zeitung, 7. April 1991, S. 28. Im konkreten Fall hätten wir das dem Peter aber schon vergönnt: Was wäre ihm und all den Leidtragenden in der Television und im Wunschkonzert nicht alles erspart geblieben.

[45Wobei man den Versuch und die Bemühungen nicht diskreditieren sollte. Man wollte das Bürokratische Modell auf jeden Fall überwinden, und nicht dahinter zurückfallen, wie das bei den meisten Bürgerinitiativen der Fall ist. Diese sind Honoratioreninitiativen mit einem vordemokratischen Partizipationsniveau.

[46Es ist daher durchaus verständlich, daß die Grünen fordern, der Umweltschutz solle von einer Ländersache zu einer Bundesangelegenheit werden, d.h. dezentraleren Einheiten zugunsten des Zentralstaates entzogen werden.

[47Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 72

[48Ein Beispiel auf Parteiebene wäre hier die ÖVP mit ihren zahlreichen Parallelhierarchien. (Vgl. Franz Schandl, Schwarz vor den Augen. Die Krise der ÖVP und wie sie behoben wird, MOZ 58, Dezember 1990, S. 16-19)

[49M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 822

[50Eckart Reidegeld, Der Streit um Markt und Staat. Zur Entstaatlichungsdebatte in der Bundesrepublik Deutschland; in: Rüdiger Voigt (Hg.), Abschied vom Recht?, S. 129

[51Besonders gefährlich sind dabei Begriffe wie Megamaschine. Sie irrationalisieren die Debatte und sind abzulehnen, weil sie vom eigentlichen Gegenstand ablenken, Phänomene überzeichnen, ohne sie in gesellschaftliche Relation und historischen Bezug zu setzen.

[52Der Terminuns geht hauptsächlich auf Gramscis Gefängnishefte zurück. Über die Widersprüche und Mißinterpretationen der Gramscischen Kategorien siehe vor allem: Perry Anderson, Antonio Gramsci. Eine kritische Würdigung, Berlin (West) 1979. Bezüglich unserer Frage gilt es mit Anderson festzuhalten: „Paradoxerweise hat Gramsci jedoch in den Gefängnisheften überhaupt keine Aufzeichnungen über die Geschichte oder Struktur der bürgerlichen Demokratie hinterlassen.“ (S. 42)

[53Thomas Ebermann/Rainer Trampert, Die Zukunft der Grünen. Ein realistisches Konzept für eine radikale Partei, Hbg. 1984, S. 270

[54Ebenda

[55Diese Passage sollte übrigens nicht als Parteinahme für die deutschen und österreichischen Realos verwechselt werden. Auch die stellen keine Machtfrage, sondern schielen bloß auf Ministerposten. Verantwortungsübernahme für das System ist angesagt, nicht Machtübernahme. Mit unserem Verständnis von radikaler Politik hat dies nichts gemein.

[56Wladimir I. Lenin, II. Kongreß der Kommunistischen Internationale. 22. Juni-12. Juli 1921, Werke Bd. 32, S. 503

[57Bertolt Brecht; hier zit. nach: Marianne Kesting, Bertolt Brecht in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1959, S. 44

[58Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft („Anti-Dühring“, 1876/78), MEW Bd. 20, S. 106

[59Valtr Komarek, Some Problems of Privatization in the Central and Eastern Europe (Manuskript), Prag 1990, S. 1

[60Friedrich Engels, Anti-Dühring, S. 264

[61Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band (1894), MEW Bd. 25, S. 828

[62Wladimir I. Lenin, Staat und Revolution (1917), LW Bd. 25, S. 469-477

[63Vgl. Adam Schaff, Die kommunistische Bewegung am Scheideweg, Wien 1982, S. 66 ff.

[64Ebenda, S. 76

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