MOZ, Nummer 41
Mai
1989
Kolumbien:

„Der Dialog ist Teil des schmutzigen Krieges“

Die Regierung unterbreitete Dialogangebote an die kolumbianische Guerilla. Im vorliegenden Interview erklärt ein Vertreter der ELN (Ejercito de Liberación National/Volksheer zur nationalen Befreiung) die Hintergründe dieser neuen Strategie.

Bild: Contrast/Carlos Angel

Seit Jahrzehnten teilen sich die bürgerlichen Parteien Kolumbiens, ein Filz aus Oligarchie und Kapital, die Regierungsgeschäfte. Dem formaldemokratischen parlamentarischen System stehen ein starker Militärapparat und aus diesem heraus agierende Todesschwadronen zur Seite.

Die legale Opposition sieht sich einer Liquidierungspolitik durch eben diese Todesschwadronen ausgesetzt. Im letzten Monat wurde der stellvertretende KP-Vorsitzende Antequerra auf dem Flughafen von Bogota erschossen. Er war das 750ste Todesopfer der UP (Union Patriotica) in ihrer kurzen 4jährigen Geschichte. Neben der offen tätigen linken Opposition hat Kolumbien die wahrscheinlich aktuell stärkste Guerilla in Lateinamerika, zusammengefaßt in der Koordination „Simon Bolivar“.

Um ihr Image zu verbessern, hat die Regierung vor kurzem den aufständischen, in der Illegalität operierenden Bewegungen zum wiederholten Mal einen Dialog und die Rückkehr ins politische Leben angeboten.

Hierauf hat die Guerillagruppe M 19 positiv reagiert. Sie ist aus der gemeinsamen Koordination der Guerilla „Simon Bolivar“ ausgetreten, bereit, die Waffen niederzulegen und sich als Partei am politischen Prozeß zu beteiligen. Die sozialdemokratische Partei unterstützt diesen Schritt und will aus Kadern der M 19 und anderen intellektuellen Persönlichkeiten eine neue Partei („Movimento Alternativo Democratico“) formen. Die FARC (Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte, KP nahe, 10.000 Kämpfer/innen unter Waffen) steht ebenfalls in Verhandlungen mit der Regierung und hat einen einseitigen Waffenstillstand verkündet. Sie ist jedoch nur zu einer Aufgabe des bewaffneten Kampfes bereit, wenn die Regierung eine soziale und politische Umgestaltung in Angriff nehmen würde.

Die ELN (Ejercito de Liberación, Kuba-orientiert, 6000 Bewaffnete) hingegen lehnt den Dialog grundsätzlich als propagandistisches Manöver ab.

Ich hatte in Bogota Gelegenheit, mit einem hierzu autorisierten Mitglied der ELN ein Interview über die aktuelle Lage und die Strategie seiner Organisation zu führen. Name und Funktion des ELN-Aktivisten, zukünftig L genannt, müssen verborgen bleiben, da er — wie die meisten Mitglieder seiner Organisation — neben seiner illegalen eine legale Existenz führt.

Die ELN ist die zweitstärkste aufständische Bewegung in Kolumbien. Sie ist insbesondere in verschiedenen Massenorganisationen, den Bauernorganisationen und den unabhängigen Gewerkschaften verankert.

„Den Volksaufstand prolongieren“

Jean Oso führte für die MOZ mit L das folgende Gespräch:

MOZ: Könntest Du zu Beginn unseres Gesprächs sagen, wer Du bist, die Organisation, der Du angehörst, kurz vorstellen, skizzieren, welche Politik und Strategie Ihr verfolgt?

L: Ich bin Mitglied der MC-ELN (Union Camalista — Ejercito de Liberación National), einer politisch-militärischen Organisation, die im Untergrund arbeitet und an der Seite des Volkes für zwei strategische Ziele kämpft: die nationale Befreiung und den Aufbau des Sozialismus.

Wir sind der Überzeugung, daß nur durch die Entwicklung eines „prolongierten“ Volksaufstandes diese Ziele erreichbar sind. Daher gehen wir davon aus, daß nur über eine Verbreiterung und Verallgemeinerung eines Krieges des Volkes gegen seine Feinde die nationale Befreiung sowie der Aufbau des Sozialismus möglich sind. Dieses schließt andere Kampfformen als unsere nicht aus, sondern integriert sie. Ob es sich dabei um soziale, gewerkschaftliche oder andere Kämpfe des Volkes handelt oder um eine Ausbreitung der Guerillakämpfe und den Aufbau einer Volksarmee. Die verschiedenen Kampfformen werden in dem Maße integriert, wie eine Politisierung der Kämpfe möglich ist. Das heißt, daß nach unserer Meinung sowohl der bewaffnete Kampf als auch die politischen Kämpfe des Volkes, wenn sie einen über die unmittelbare Forderung hinausgehenden historischen und strategischen Charakter entwickeln, eine Voraussetzung für den Aufbau einer neuen Gesellschaft sind.

Als aufständische Bewegung arbeiten wir nicht nur als revolutionäre Armee auf dem Land, sondern sehen in partiellen aufständischen Prozessen auf dem Land oder generalisierten Aufständen in den Städten wichtige Bestandteile für das, was die Grundlage eines „prolongierten“ Volksaufstandes sein muß. Unter Nationaler Befreiung verstehen wir die Unabhängigkeit unseres Volkes, seine Selbstbestimmung und die Wiedererlangung der Souveränität, die zur Zeit insbesondere vom nordamerikanischen Imperialismus mit Füßen getreten wird.

Geheim oder Untergrund heißt für uns aber nicht, daß wir keine starke Verwurzelung in den verschiedenen sozialen Gruppen, auf dem Land oder in der Stadt haben.

Wir sind also im Untergrund aus der Sicht der Feinde und von ihnen nicht erkannt, aber anders bei unserem Volk. Mit unserem Volk sind wir durch unsere alltägliche politische Arbeit tief verbunden, wir sind ein Teil seiner Kämpfe, und unsere Mitglieder sind in den sozialen Organisationen des Volkes maßgeblich am Voranbringen auch der Forderungskämpfe beteiligt. Durch diese Forderungskämpfe ist es gelungen, breite Teile des Volkes zu organisieren, und diese Organisationsstrukturen — Gewerkschaften, kommunale Aktionsgruppen, Verbraucherkomitees, Bauernversammlungen, LandbesetzerInnen-Initiativen und viele mehr sind eine Voraussetzung dafür, daß der Widerstandskampf geführt werden kann. Dort, wo im Augenblick um etwas gekämpft wird, was die konkreten Lebensbedingungen verbessern soll, sind die Schulen für den Kampf, und dort ist es, wo unsere Mitglieder mitarbeiten, um eine neue Mentalität mitzuentwickeln: die Mentalität des völligen Bruchs mit den Interessen der Oligarchie.

Dort ist es, wo wir dem Volk zeigen müssen, daß seine einzigen Kämpfe nicht die kurzfristigen sind und die Verbesserung der Lebensbedingungen seinen Bedürfnissen entsprechend nur durch den Aufbau einer neuen Gesellschaft möglich ist. Aber auch in den politischen Massenorganisationen des Volkes kämpfen unsere Mitglieder und haben zu dem Prozeß beigetragen, der in den — sagen wir — letzten fünf Jahren zu einer großen Stärkung der politischen Massenorganisationen geführt hat.

Daher denken wir, daß der geheime Charakter unserer Organisation in keinem Widerspruch zu den Kämpfen unseres Volkes steht. Im Gegenteil: wir sind fest davon überzeugt, daß sich unsere Organisation nur auf diese Weise in die Avantgarde des Kollektivs einreihen kann.

Wir sind eine Untergrundorganisation und unsere MitkämpferInnen sind geheim, aber sie führen alle ein legales Leben innerhalb der verschiedensten Organisationen des Volkes.

MOZ: Die aktuelle politische Auseinandersetzung zwischen Linken und Herrschenden in Kolumbien scheint bestimmt durch die Politik des Dialogs zwischen Regierung und aufständischen Bewegungen, an der sich insbesondere M 19 und FARC beteiligen. Warum beteiligt sich Eure Organisation nicht an dieser Politik des Dialogs?

Trotz Dialog: die Regierung führt weiter Krieg

L: Erneut kommt nun dieser müßige Dialog auf den Tisch, den die Oligarchie vorschlägt, indem sie eine unbegehbare Brücke zwischen Krieg und Frieden entwirft, sich selbst als Vorhut des „Friedens“, der Eintracht und des Wohlstandes präsentiert.

Wenn wir sagen, daß die Friedenspolitik, die die Regierung betreibt, heuchlerisch ist, meinen wir, daß sie keine Friedenspolitik, sondern nur ein neuer Aspekt innerhalb der Aufstandsbekämpfung und der Strategie des „low intensity conflict“ (Krieg niederer Intensität) ist.

Auf der einen Seite wird von Frieden gesprochen, von Dialog, von der Suche nach Lösungen, und auf der anderen Seite wird eine Politik des Krieges vorangetrieben, des Krieges nicht nur gegen die aufständischen Bewegungen, sondern des Krieges gegen das Volk.

Darüber kann kein Zweifel bestehen; und ganz genau das ist es, was in Europa unter dem Begriff „schmutziger Krieg“ bekannt ist und als Staatsterrorismus das Leben von Tausenden von VolksführerInnen gekostet hat.

Die „Friedens“-Politik der Regierung hat aber eine weitere Funktion im Konzept der Aufstandsbekämpfung, die wir als „Strategie der präventiven Konterrevolution“ bezeichnen und die darin besteht, den aufständischen Bewegungen ihren politischen Rückhalt zu nehmen: Regionen für sich wiederzugewinnen, deren politische Kontrolle sie verloren hat, wie das z.B. in einigen ländlichen Gebieten der Fall ist. Zurückerobern nicht nur mittels des Repressionskrieges, sondern eben auch ideologisch zurückerobern: daher hat sie wirtschaftliche Programme entwickelt und vorangetrieben, die auch auf sozialer Ebene eine Penetration ermöglichen sollen, durch Anbieten von Ackerland, medizinischer Versorgung, Erziehung und Krediten in Verbindung mit Verbreiterung des Kommunikationsnetzes: die letztlich aber auch wieder die militärische Penetration erleichtern.

Für uns ist dies eine homogene Politik von seiten des Regimes, die aber innerhalb der aufständischen Bewegungen heterogene Effekte und unterschiedliche Akzeptanz zur Folge hat. Es gibt Organisationen innerhalb der aufständischen Bewegung, die entschlossen sind, an diesen „Verhandlungen“, an diesem „Dialog“ teilzunehmen und die in diesem Schritt eine strategische Bedeutung sehen.

Bild: Contrast/Carlos Angel

„Wir lassen uns nicht demobilisieren“

Wir teilen diese Auffassung nicht und wollen uns in diese Kriegsstrategie nicht einbinden lassen. In keinem Moment ihrer Dialogsangebote hat die Regierung die Absicht deutlich gemacht, den Bedürfnissen unseres Volkes entsprechende Lösungen zu suchen. Die Ausbeutungsbedingungen, unter denen unser Volk lebt und aus deren Realität heraus unsere Bewegung entstanden ist, haben sich nicht zum Guten geändert. Wir sind weder zur Demobilisierung bereit, indem wir unsere bewaffneten Leute abziehen, noch indem wir uns in die Strategie des Dialogs integrieren lassen, wie die Oligarchie es möchte. Wir sind dagegen bereit, über die Humanisierung des Krieges zu reden und zu verhandeln, die wir in dem Sinn verstehen, daß sowohl die Oligarchie als auch die aufständischen Bewegungen — und hierbei die Coordinadora Guerillera „Simon Bolivar“ — als kriegsführende Parteien die Genfer Konvention unterschreiben und respektieren sollen.

MOZ: Meint Ihr denn, daß die Strategie des Dialogs, die von M 19 und FARC betrieben wird, quasi ein „Hereinfallen“ auf die Wünsche der Herrschenden ist?

L: Da müssen wir differenzieren, denn die Haltung der Guerillatruppe M 19 ist nicht dasselbe wie die Haltung der FARC (Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte) es sind zwei völlig unterschiedliche Haltungen.

Im Fall der M 19 — indem sich diese Organisation vollständig den Bedingungen des „Friedenskatalogs“ unterwirft, den die Oligarchie entworfen hat, bedeutet es, daß die Bewegung M 19 de facto aufgelöst wird. Das heißt also, daß die M 19 — wenn die Vereinbarungen, die bereits unterschrieben wurden, auch ausgeführt werden — aufhört, als solche zu existieren.

Demgegenüber ist die Haltung der FARC eine völlig andere. Die FARC hat kein Abkommen mit der Regierung unterschrieben, das die Demobilisierung der aufständischen KämpferInnen vorsieht, und einen solchen Weg auch nicht als gangbar erachtet.

Die Haltung der FARC entspricht bestimmten taktischen Einschätzungen, die wir respektieren, die wir aber nicht teilen. Wir anerkennen weiterhin den politischen Willen der FARC, innerhalb der Coordinadora Guerillera „Simon Bolivar“, in der die FARC weiterhin vertreten ist, mitzuarbeiten. Die Bewegung M 19 dagegen wird in dem Maße, in dem sie aufhört, eine Bewegung zu sein, die den bewaffneten Kampf vorantreibt, ihren Grund für das Mitwirken in der Coordinadora Guerillera „Simon Bolivar“ aufgeben. (Wenige Tage nach dem Interview wurde der Austritt der M 19 aus der Koordination bekannt, J.O.).

„Massaker und Morde gehen weiter“

MOZ: Du hast gesagt, daß die Regierung ihre Politik aus einer Position der Stärke heraus entwickelt. Es besteht doch sicherlich die Gefahr, daß diese Politik des Dialogs das Bewußtsein in der Bevölkerung darüber, von wem die Gewalt ausgeht, für Euch nachteilig beeinflußt. Mit welchen Mitteln wollt Ihr dieser Gefahr entgegentreten?

L: Die Absicht der Regierung, das nationale und internationale Prestige unserer aufständischen Bewegungen zu zerstören, ist klar. International soll die aufständische Bewegung als Urheberin der Massaker und Morde dastehen — und die Regierung als Friedensbewegung in einem Krieg zwischen Extremisten. Daß dies nicht stimmt, weiß unser Volk, das tagtäglich dem Terror ausgesetzt ist und genau sieht, wer den Krieg vorantreibt.

Auf internationaler Ebene sehen wir die Bemühungen vieler internationaler Kommissionen, die in Kolumbien waren, um die Situation der Menschenrechte in Kolumbien zu beurteilen: wie die Kommission des Friedensnobelpreisträgers Perez Esquivel, wie Pax Christi aus den Niederlanden und wie andere Organisationen. Dadurch ist es möglich geworden, daß klar wurde, wer in Kolumbien die Menschenrechte verletzt. So ist es der Regierung auch jüngst auf der Menschenrechtskonferenz in Genf nicht gelungen, sich reinzuwaschen, sondern sie mußte eine Verurteilung ihrer nachgewiesenen Menschenrechtsverletzungen zur Kenntnis nehmen.

Darüber hinaus glauben wir, daß es nicht gelingen wird, den Krieg aufzuhalten, sondern daß dieser sich weiter vertiefen wird. Bei dieser Konfrontation, bei der auf der einen Seite die Streitkräfte der Oligarchie und auf der anderen Seite die bewaffneten Kräfte der aufständischen Bewegungen stehen, setzen wir uns für die Anwendung internationaler Abkommen — wie der Genfer Konvention — ein, die auch einen Schutz für die Zivilbevölkerung bedeutet. Daneben forçieren wir im nicht-militärischen Bereich den Aufbau eines breiten Widerstandes von seiten der Volksorganisationen.

MOZ: Siehst Du die Politik des Dialogs durch die kolumbianische Regierung in einem Zusammenhang mit vergleichbaren Angeboten in anderen Ländern Lateinamerikas, z.B. in Ecuador, wo sich die aufständische Bewegung in den sogenannten demokratischen Prozeß eingegliedert hat? Siehst Du diese Politik des Dialogs im Zusammenhang mit einer geänderten Strategie der imperialistischen Metropolen USA und Westeuropa?

L: Die vom Pentagon betriebene Politik ist allgemein als „Krieg niedriger Intensität“ bekannt, der eine Weiterentwicklung und Modernisierung der nationalen Sicherheitsdoktrin darstellt. Aber diese Politik hat in den verschiedenen Ländern unterschiedliche konkrete Anwendungen und trifft auf unterschiedlich weit entwickelte revolutionäre Prozesse.

Im Fall Ecuador haben beispielsweise die Oligarchie und die Streitkräfte eine traditionell andere Methode als in Kolumbien. Zwar geht die Politik der Repression in beiden Fällen auf dieselbe Strategie zurück, trifft in Ecuador jedoch auf wesentlich schwächere revolutionäre Kräfte als in Kolumbien, mit einer geringeren Fähigkeit zur Konfrontation.

Dieselbe Politik ist auch in El Salvador und Guatemala angewandt worden, wobei sie in El Salvador an einer fortgeschrittenen und starken aufständischen Bewegung gescheitert ist, welche kurz vor dem Augenblick steht, in dem sie dem Imperialismus und seinen Statthaltern die Macht entreißen wird. Im übrigen stellt der „low intensity conflict“ für uns keine veränderte Strategie dar, sondern eine Ausweitung und Anpassung der Aufstandsbekämpfungspolitik der USA.

MOZ: Danke Dir für dieses Gespräch.
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