FORVM, No. 417-419
Oktober
1988

Der Kampf in YU

um Magna Charta & was noch

Waren es Prophezeihungen oder Hiobsbotschaften, jene Aussagen vor fast zwei Jahrzehnten, als die jetzige, nun wieder heftig kritisierte Verfassung, in der Rohfassung diskutiert wurde? So schrieb noch 1971 der Belgrader Juraprofessor Djuric:

Jugoslawien ist heute bereits nur ein geographischer Begriff, weil auf seinem Territorium, oder genauer auf seinen Trümmern, unter der Maske einer konsequenten Entwicklung der Gleichberechtigung zwischen den Nationen, die in ihm leben, einige selbständige, unabhängige, sogar sich gegenseitig widerstrebende Nationalstaaten eingerichtet wurden.

Damals wurde der Professor von der Fakultät gefeuert, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, und die Publikation seiner Rede verboten. Heute sind solche Aussagen Gemeinplätze der Presse und gehören zur alltäglichen Rhetorik der Politiker, vor allem in Serbien.

Damals, 1971, veröffentlichte der Belgrader „Student“ eine äußerst scharfe Kritik der Verfassungsmacher (vor allem Kardeljs und Titos):

Für die ist die Öffentlichkeit nur eine blinde Masse, die die Vereinbarungen der Spitze nur segnen darf.

Auch diese Nummer der Studentenzeitung wurde verboten, wegen Verleumdung der Staatsführung. Mit fast denselben Sprüchen hantiert jetzt die selbe „Spitze“ in einigen Landesteilen bei ihrer Kampagne für oder gegen die Verfassungsänderungen.

Tito ist seit über acht Jahren tot, und manche der führenden Politiker nehmen seinen Namen überhaupt nicht mehr in den Mund. Schon gar nicht lobend. Im äußersten Fall wird er, oft unausgesprochen, mit allen bestehenden Schwierigkeiten und ungelösten Problemen des Staates in Verbindung gebracht. Die Zeiten haben sich (wirklich?!) geändert. Was Anfang der siebziger Jahre nur in Studentenzeitungen oder philosophischen Heften erscheinen konnte (oft nur bis zum offiziellen Verbot), wird neuerdings in manchen Landesteilen zur amtlichen und einzig gültigen Politik erklärt — nämlich die „Kritik alles Bestehenden“, die man als wirksame Waffe im Machtkampf erkannt hat. Und die famose „Spitze“, welche im Großen und Ganzen aus Leuten besteht, die — mit einigen Ausnahmen — zu Titos Zeiten bloße Beamte und Unbekannte waren, hat „ihrer“ Öffentlichkeit große Freiheiten gegeben, solange sie sich nur, natürlich, im Sinne der „Spitze“ artikuliert.

Hinter den Kulissen der aktuellen Verfassungsänderungen spielt sich in Jugoslawien ein beispielloser Machtkampf ab, spektakulär und in (fast) aller Öffentlichkeit. In diesen Machtkampf sind, nolens-volens, alle Jugoslawen einbezogen. Die Änderungen der Verfassung, von Teilen der Führungsspitze nur als Kosmetik gedacht, sollten sıch ausschließlich im wirtschaftlichen Teil abspielen. Grundlegende Änderungen waren von vorherein ausgeschlossen. Aber dann, im Sommer 1987, stürzte der mächtige Vorsitzende der Verfassungskommission, Pozderac, ein Vertreter Bosniens und tief verwickelt in dem weltbekannten Agrokomerc-Skandal. Somit wurde der Weg frei für die Befürworter radikaler Änderungen, vor allem die Vertreter Serbiens, welche tief in die Grundlagen der Verfassung eingreifen wollen.

Die Verfassungskritiker teilen sich in zwei Gruppen: die Technokraten und die Politokraten (Etatisten). Sie kommen aus ganz verschiedenen Lagern und haben völlig verschiedene Ziele im Auge. Ideologisch-politisch ist die „politokratische“ Gruppe stärker, sie ist in den weniger entwickelten Regionen entstanden und kämpft für mehr Staat, mehr Zentralismus und verlangt im Vertrauen auf ihre Unterstützung durch breite Massen ein Volksreferendum über die Verfassungsänderungen für ganz Jugoslawien. Diese Gruppe stützt sich auf die wiederbelebte Parole von „Blut und Boden“, auf die ruhmreiche nationale Geschichte, auf „gewonnene Kriege und verlorene Frieden“, verlangt einen starken, einheitlichen Staat, in welchem nur das staatstragende Volk zu entscheiden hätte — das ist der Fall in Serbien, wobei all diese Forderungen noch aufgeheizt wurden von der jahrelang andauernden „Konterrevolution“ in der Provinz Kosovo, welche als Herz Serbiens gefeiert wird, und in welcher angeblich ein albanischer Terror gegen Serben betrieben wird.

Die „Technokraten“ wollen wirtschaftliche Änderungen, um das System leistungsfähiger zu machen, gar die ökonomischen Grundprinzipien umbauen — immer im Namen des Systems der sozialistischen Selbstverwaltung.

Die Verfassungsgegner aus der „etatistischen“ Gruppe zielen fast ausschließlich auf das Grundprinzip der jugoslawischen Entscheidungsbildung — auf die Gleichheit aller Republiken, egal ob mit zwei oder acht Millionen Einwohnern. Dieses Prinzip — Resultat der multinationalen Zusammensetzung der jugoslawischen Föderation — anzufechten, bedeutet in der Praxis, die Grundwerte der jugoslawischen autochthonen und originellen Revolution direkt zu verneinen. Zur Zeit würden sich jene Kräfte „bloß“ mit der Eliminierung der Autonomie der zwei serbischen Provinzen begnügen, aber ihr Appetit wäre damit nur für kurze Zeit gesättigt.

Der Zagreber Kolumnist Joža Vlahović schrieb unlängst über Jugoslawiens Gespaltenheit, die Nervosität und das Wiederaufleben der nationalen Frage:

Sind ihre wirklichen Ursachen, daß die in der Verfassung verankerte Gleichheit der Nationen und Nationalitäten nicht vollständig im Leben verwirklicht ist, oder besteht das Wesen dieser Spaltungen darin, daß manche nicht bloß gleichberechtigt sein wollen, sondern glauben, daß sie viel mehr verdient haben?

Das ist eine Allusion auf die seit über einem Jahr in Serbien — und nicht nur in Serbien — andauernde Diskussion, die oft massenhaft auf den Straßen geführt wird: über die Notwendigkeit der Gleichstellung der größten YU-Republik mit den anderen, kleineren Brüdern (oder sind es Schwestern?!). Serbien hat nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb seines Territoriums zwei autonome Provinzen, in denen viele andere Nationen leben und wo die Serben die Mehrheit sind, akzeptieren müssen. Die jetzige serbische Führung fühlt sich dazu berufen, Serbien als eine einheitliche Republik („von Albanien bis Ungarn“) wiederherzustellen — obwohl die autonomen Provinzen erst nach den Balkankriegen (Kosovo) bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg (Vojvodina) an Serbien angegliedert wurden. Die heutige, ziemlich weitgehende Autonomie, die autonome Provinzen und Teilrepubliken fast gleichstellt, soll radikal beschränkt werden. Davon verspricht man sich die Lösung aller irdischen Probleme, die der serbische Nationalkampf als eine Art deus ex machina beseitigen soll, und in diesem waghalsigen Vorhaben, das ganz Jugoslawien aufs Spiel setzt, sind sich die Führung und laute Teile des Volkes einig: es besteht eine Art „Volksfront“, aber gewiß nicht in dem progressiven Sinne, wie sie aus der Geschichte bekannt ist. Eigentlich handelt es sich im Falle Serbiens um eine „Völkische Front“, mit sehr stark ausgeprägtem Nationalismus und Chauvinismus.

Seit mehreren Monaten sind die Massen, vor allem der Serben und Montenegriner in Kosovo, mobilisiert im Kampf für ein „einheitliches Serbien“, Tausende von Telegrammen werden täglich von „Der Basis“ an die Führungsspitze, besonders an den Parteichef Milošević geschickt, Tausende von aufgeregten Personen demonstrierten auf den Straßen, in tropischer Hitze, für die Forderung nach einem starken serbischen Staat. All dies bewog die serbische Führung (nicht aber die Provinzmachthaber in der Vojvodina und in Kosovo), offen zu sagen:

In der großen politischen Mobilisierung in Serbien äußert sich die Meinung der Bürger vollkommen öffentlich und massiv. Das ist Demokratie ... Nur das Volk, die Bürger, die Öffentlichkeit können einer Führung die notwendige Unterstützung geben oder nehmen.

Als vor 17 oder 18 Jahren in Kroatien sehr ähnliche Thesen erklangen, da hat der „Rest“ Jugoslawiens, mit Tito an der Spitze, die kroatische Staats- und Parteiführung des „Nationalismus“ und der Bildung und Duldung einer „Massenbewegung“ beschuldigt und ohne langen Prozeß im Dezember 1971 abgesetzt. Gleichzeitig wurden Hunderte Intellektuelle von ihren Stellen gefeuert und viele landeten im Gefängnis. Angesichts solcher Parallelen bedauern viele Jugoslawen, die jeglichen Nationalismus für sehr gefährlich halten, daß es heute keinen Tito, oder wenigstens irgendeine ähnliche Autorität auf Bundesebene gibt.

Das Staats- und Parteipräsidium, paritätisch aus Vertretern der Republiken/Provinzen zusammengesetzt, ist stark polarisiert, nach einem sechs- beziehungsweise achteckigen Schema, und dazu noch auf der Linie des Nord-Süd-Gefälles. Lokale Analytiker bezweifeln die Möglichkeit, daß sich ein Individuum aus der kollektiven Führungsspitze herausschält und sich zur allgemein akzeptierten Autorität für die große Mehrheit der jugoslawischen Völker aufschwingt. Gleichzeitig werden die Stimmen immer lauter, die nach einer starken Autorität verlangen, welche alle Schwierigkeiten lösen soll — sie meinen die Volksarmee. Eine repressive polizei-militärische Führung, ohne die moralische Autorität einer einzelnen Person, ohne eine demokratische Autorität des Volkes, ohne die gesetzliche Autorität der Verfassung ist nicht unmöglich (so das Zagreber Nachrichtenmagazin „Danas“).

Vor allem in der serbischen Massenbewegung wird nach der starken Hand, nach Waffen verlangt, um die „Freiheit, Ordnung und Gesetzlichkeit“ in der Provinz Kosovo herzustellen. Diese Leute, selbstorganisiert im nationalreinen „Organisatorischen Ausschuß für Protestversammlungen“, haben jedes Vertrauen in das heutige Jugoslawien, in welchem Serbien nur eine unter mehreren Republiken ist, verloren. Diese immer größer werdende Masse hat jedes Vertrauen in die Provinz- und Bundesführung verloren und beschuldigt die höchsten Staatsgremien, daß sie aus Verrätern und Karrieristen zusammengesetzt seien. Sie verlangen eine „Säuberung“, und darin haben sie volle Unterstützung der serbischen Führung, deren Chef — Slobodan Milošević — eine messianische Rolle spielen soll. Die aufgeregte Masse gibt die Schuld an allen Schwierigkeiten im Lande den Nicht-Serben, vor allem den Albanern, aber auch Slowenen und Kroaten. In ihren Auftritten, welche mehrere Male von der föderativen Parteiführung aufs Schärfste kritisiert wurden und die voll sind mit nationalem Mythos, wird die Verfolgung der Serben in Kosovo beweint, ein allmächtiger Staat verlangt und — eine neue Verfassung. Obwohl dieser Ausschuß nach noch immer geltenden jugoslawischen Gesetzen nicht legal ist, tritt er ganz offen auf, als ein mächtiger Faktor in der politischen Situation des serbischen Raums, versteht sich als Partner von Staat und Partei, verhandelt oder stellt ultimative Forderungen an lokale Behörden, mit einer ernst zu nehmenden Drohung:

Serbien wird ein Staat sein, oder es wird nicht sein!

Der offene extreme Nationalismus und eine ganz klare Absage an die Basiswerte der jugoslawischen Revolution, den dieser „Ausschuß“ propagiert, findet ein großes Echo in ganz Jugoslawien: ein positives in Serbien, und ein äußerst negatives besonders in Kroatien, aber auch in der Vojvodina und anderswo. Die serbische Parteiführung unterstützt diese Forderungen durch eine noch nie dagewesene Pressekampagne, welche manche ältere Jugoslawen an das Niveau des „Völkischen Beobachters“ oder des „Stürmer“ erinnert.

Gerade in den Massenmedien hat sich der aktuelle politische (kann man schon sagen: zwischen-nationale?) Kampf bedrohlich zugespitzt. An den Kommentaren, sogar schon an der bloßen Berichterstattung zum Thema Kosovo, oder zu den Verfassungsänderungen, zur Wirtschaftskrise und bis hin zum Sport, sieht man gleich, ob eine Zeitung in Ljubljana, Beograd oder Sarajevo gemacht wird. Eine Ausnahme sind die beiden Tageszeitungen, die in Kosovo erscheinen: „Jedinstvo“ — auf serbisch — schreibt, wie es die serbische Parteiführung befiehlt, „Rilindja“ — auf albanisch — schreibt, wie es die albanische Mehrheit im Provinzkomitee wünscht.

Die lokalen Massenmedien schimpfen auf Politiker aus anderen Teilrepubliken ohne irgendwelche Rücksichten, Beleidigungen werden ausgetauscht, als handelte es sich um Feinde. Charakteristisch ist in diesem Wörterkrieg: im sozialistischen Jugoslawien werden „klassenkämpferische“ oder „ideologische“ Parolen kaum mehr gebraucht. An die Stelle des revolutionären Vokabulars traten das „Volk“, „unser Boden“, „die glorreiche Geschichte“, „unsere Opfer“, „deren Verrat“ ...

Serbien und Slovenien, wie auch verschieden, sind gute Beispiele für die „Nationale Wiedergeburt“ und den gleichzeitigen Verlust (oder das Verlassen) des Klassenmomentes.

Mit verschiedenen Vorzeichen und verschiedener Richtung zeigen diese beiden Fälle, daß eine nationale Einigung nicht unbedingt nationalistisch und reaktionär sein muß (Slovenien), während die andere ganz offen nur auf die Vergangenheit baut und sich überhaupt nicht um die Zukunft kümmert (Serbien).

Aber die Zukunft kümmert in Wirklichkeit alle Jugoslawen. Denn sie — die Zukunft — ist etwas Verschwommenes, Undefinierbares, Irreales ... Das jetzige Modell von Wirtschaft, Politik und nationalen Beziehungen hat keine Zukunft. Soll aber das bedeuten, daß auch Jugoslawien keine Zukunft hat? Mögen es manche Demonstranten, auch gar führende Politiker sagen — das Land, diese Föderation muß eine Zukunft haben. Nicht nur wegen der Jugoslawen, sondern auch Europas wegen. Das ist klar, aber klar muß auch sein, daß es manchen Kräften in und um Jugoslawien nicht um Europa geht, sie sehen Jugoslawien als Teil einer anderen Welt, die Europa nicht braucht. Jugoslawien aber braucht Europa und Europa braucht Jugoslawien. Nicht so wie es jetzt ist, sondern ein Jugoslawien, in dem es keine Massen geben wird, die nach Waffen schreien, die alles mit Gewalt „lösen“ wollen, und die offen sagen: „Entweder wir — oder Nichts.“

Offensichtlich haben manche Jugoslawen die Lektion aus der Geschichte nicht gelernt, und wenn man die Lektion nicht gelernt hat, dann muß man die Klasse wiederholen. Jene Klasse, die so nach Libanon oder Rumänien riecht.

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