FORVM, No. 95
November
1961

Die Bedeutung der Bedeutung

In dem sehr lesenswerten, allgemein verständlichen Buch, das der niederländische Sprachforscher H. L. Koppelmann über „Nation, Sprache und Nationalismus“ in deutscher Sprache geschrieben hat (Leiden 1956), findet sich auch ein Auszug aus der französischen Übersetzung des Stenogramms der Verhandlung gegen die Verschwörer vom 28. Juni 1914, denen der Erzherzog Thronfolger mit seiner Gattin zum Opfer fiel (S. 131 ff). Auf die Frage des Vorsitzenden, welche „elementarsten Rechte“ den Südslawen gefehlt hätten, antwortete der etwa zwanzigjährige Angeklagte Grabez: „Die politische Freiheit.“ Was der Angeklagte unter diesem Schlagwort verstehe, wollte nun der Vorsitzende wissen. Darauf erfolgte die Antwort: „Das weiß ich selbst nicht recht.“

Das Wesentliche am Wort ist weniger sein Lautkörper als vielmehr sein Inhalt, die Bedeutung. Sie ist ein sehr zusammengesetztes psychologisches Gebilde. Bei bewußter Vereinfachung lassen sich zwei Teile unterscheiden: der eine umfaßt die Vorstellung oder den Begriff (oder beides), der andere Gefühle verschiedener Herkunft. Die beiden Teile sind keineswegs unveränderlich. Der eine hängt hauptsächlich vom Bildungsgrad des Sprechers oder Hörers ab, der andere von der Veranlagung und den Erlebnissen — beide also auch vom Beruf. Bei vielen Wörtern des Alltags sind diese Unterschiede ohne Wichtigkeit, obgleich sie vorhanden sind. So wird z.B. mit dem Wort „Pferd“ ein passionierter Reiter eine genauere Vorstellung und auch lebhaftere Gefühle verbinden als ein Postbeamter; ganz anders wird es wieder beim Pferdeschlächter sein.

Ohne scharfe Grenze zu diesen variablen Begleitgefühlen gibt es auch noch das Wortethos, das verhältnismäßig — zum mindesten innerhalb derselben Gruppe von Sprechern und innerhalb kurzer Zeit — unveränderlich ist. Das Wortethos wird besonders bei den sogenannten ordinären Wörtern wirksam. Hier hat das negative Wortethos seine Wurzel in Scham oder Ekel. Anderseits haben z.B. die Rosse, die etwa im Marstall eines Königs stehen, ein durchaus positives Wortethos im Vergleich mit Rössern, die vor einem Pflug oder Bierwagen gehen. Pferde hingegen sind neutral, denn nicht jedes Wort muß ein Wortethos haben.

Kehren wir zu den Schlagwörtern zurück. Es sollen Wörter sein, mit denen man — zunächst nur im Wortgefecht — den Gegner erfolgreich schlagen kann. Man will damit bei den Anhängern Beifall finden und nach Möglichkeit neue Anhänger gewinnen. Zu diesem Zweck werden Wörter bewußt oder unter dem Druck einer oft absichtlich herbeigeführten Stimmung in ihrem begrifflichen Teil beschnitten, entstellt oder vernebelt, auch dieses Teiles ganz beraubt („Bedeutungsentleerung“), während die Begleitgefühle aufgebläht werden, so daß sie fast oder ganz die Alleinherrschaft gewinnen, wie dies bei Schimpfwörtern der Fall ist. Wenn ein Mensch „Schwein“ oder „Ochse“ genannt wird, so tritt die Vorstellung eines Schweines oder eines Ochsen kaum oder gar nicht ins Bewußtsein.

Hiezu eine Anekdote, die über eine bekannte, verstorbene Künstlerpersönlichkeit erzählt wird und wahrscheinlich nicht wahr ist, aber den Vorzug ihres Genres hat, daß sie treffsicher erfunden ist: Um einen Debattenredner außer Gefecht zu setzen, soll diese Persönlichkeit gesagt haben: „Hören Sie nicht auf ihn, er ist ein Kommunist, Nazi und Jude!“ Daß jedes einzelne dieser Wörter als Schimpfwort gebraucht werden kann, haben wir erlebt. Der Vorgang ist zunächst derselbe wie bei den genannten Tiernamen, indem der begriffliche Bedeutungsteil verdrängt wird; außerdem soll das individuelle Begleitgefühl mobilisiert werden, nach Möglichkeit bei allen Anwesenden.

„Freiheit“ — es gibt wohl in der Neuzeit keine Verfassung und kein politisches Programm ohne dieses Wort; ist doch das Begleitgefühl bei allen positiv, umso mehr, je weniger sie die Freiheit kennen. Schon Hannibal rief seinen wohl kaum an Freiheit gewöhnten afrikanischen Horden zu, seine und ihre Aufgabe sei es, „den Erdkreis zu befreien“. Dabei wollte er Italien und Rom erobern und verheeren (daß es ihm nicht gelungen ist, haben wir den Römern heute noch zu danken).

„Friede“ — schon Caesar spricht vom „Befrieden“ („pacare“) Galliens, wozu es eines achtjährigen blutigen Krieges bedurfte. Er und andere lateinische Schriftsteller fassen also das Wort „pax“, „Friede“, so auf, als ob Friede allein schon durch die Beendigung eines Krieges gegeben sei. Tatsächlich kennt das Lateinische kein Wort, das vollinhaltlich unserem Frieden entsprechen könnte; seiner Herkunft nach bedeutet „pax“ nur „Festsetzung, Vertrag“ zwischen Kriegführenden. Anders ist es bei uns, wo dem Wort „Friede“ derselbe Bedeutungsträger zugrundeliegt, den wir in „frei“ und „freien“ haben (ursprünglich etwa „lieb“; auch der „Freund“ ist ursprünglich der „Liebende“). Ganz im Gegensatz zum lateinischen Wort ist bei unserem Wort nicht nur sinngemäß, sondern auch sprachgeschichtlich der unmittelbare Zusammenhang von Friede und Freiheit gegeben. „Friede in Freiheit“ ist im Deutschen fast ein Pleonasmus.

„Politiker“ und „Staatsmann“ — die begrifflichen Grenzen sind recht klar. Der Politiker ist Angehöriger einer Partei und arbeitet nach Möglichkeit auf baldige Erfolge hin, die seiner Partei und ihm selbst zugeschrieben werden sollen; er kann zum Staatsmann werden, wenn er bei überragender Begabung sich über die Partei erhebt und dennoch als ihr Angehöriger für das Wohl aller Bürger auf lange Sicht arbeitet. So hat das Wort Staatsmann ein Wortethos großer Hochschätzung, ja der Erhabenheit. Deshalb wird es, besonders bei wichtigen Ereignissen, lieber verwendet als „Politiker“.

Ähnlich steht es mit unseren „Abgeordneten zum Nationalrat“. Das Wort „Abgeordneter“ ist in seinem begrifflichen Teil so klar und eindeutig, daß man daran nichts ändern kann. Es hat aber ein Wortethos, das nicht jedem angenehm ist, weil es im Pflichtgefühl wurzelt und im Dienen am Volk, das seine Abgeordneten wählt. So geht man hier einen andern Weg und läßt das peinliche Wort einfach weg, man spricht von „Nationalrat“ und bedient sich unbewußt dabei noch des höchst positiven Wortethos, das von der Ehrbarkeit und Integrität des monarchistischen „Hofrates“ stammt.

In den Vereinigten Staaten gibt es eine sprachwissenschaftliche Disziplin, die „General Semantics“ heißt und sich zum Ziel gesetzt hat, in der Alltagsrede die genaue bedeutungsmäßige Erfassung und Kontrolle der Wörter zu fördern, um Mißverständnissen vorzubeugen. Auch bei uns wäre die „Allgemeine Semantik“ keine unnütze Disziplin.

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