FORVM, No. 280/281
März
1977

Die Kernknackerbande

Für ein nukleares Moratorium

Kernenergie ist sicher, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

  • Die entscheidenden technischen Bestandteile des Kraftwerks müssen absolut störungsfrei arbeiten.
  • Eine Anzahl von Leuten in entscheidenden Positionen muß die Betriebsanweisungen in allen Punkten genau befolgen.
  • Sabotagefälle dürfen nicht vorkommen.
  • Es darf keine Überfälle auf Transporte von radioaktivem Material geben.
  • Keine Anlage zur Herstellung von radioaktivem Brennmaterial, keine Anlage zur Wiederaufbereitung dieses Materials und keine Ablagerungsstätte für radioaktive Abfälle darf irgendwo in der Welt in einer Region liegen, wo es Unruhen oder Guerillakämpfe gibt.
  • Keine Revolution, kein Krieg, auch kein Krieg mit konventionellen Waffen darf dort stattfinden, wo es ein Kernkraftwerk oder eine der erwähnten Anlagen gibt.
  • Die ungeheuren Quantitäten von äußerst gefährlichem Material dürfen niemals in die Hände von unwissenden und verzweifelten Leuten geraten.
  • Kein Akt Gottes darf zugelassen werden.
Hannes Alfven, Nobelpreisträger für Physik
Mai 1972, im „Bulletin of the Atomic Scientist“

Schlesinger: Den Bock zum Gärtner

Es gibt nur einen Weg: Moratorium. Das heißt: Der Bau neuer Kernkraftwerke, Brüter oder Nichtbrüter, ist zu verbieten. Eine Lizenzerteilung für solche Anlagen findet nicht mehr statt. Allen Kernkraftwerken, die schon in Betrieb sind, wird die Lizenz entzogen.

Ist das extrem? Im Gegenteil. Extremismus ist der fortgesetzte Betrieb von Kernkraftwerken, die fortgesetzte Lizenzerteilung für neue solche Werke. Das ist Verzicht auf unsere moralische Verpflichtung gegenüber dieser Generation und künftigen Generationen. Ich kenne kein Beweismaterial für die Annahme, daß Kernkraft „sicher“ gemacht werden kann. Ich kenne auch kein Beweismaterial für die Notwendigkeit von Kernkraft als Energiequelle. Außerdem hat Kernkraft nichts mit Technik zu tun, sondern mit Moral.

Einige mächtige Gruppen werden mit dieser Ansicht natürlich nicht übereinstimmen, insbesondere die US-Atomenergiekommission (AEC), die Erzeuger von Kernkraftwerken und Teile der Elektrizitätswirtschaft. Diese Gruppen handeln aus sehr handfesten materiellen Interessen. James Schlesinger hat, als er noch Vorsitzender der AEC war, die völlige Unglaubwürdigkeit dieser Organisation klargestellt. In seiner Antrittsrede vor versammelten Häuptern der Nuklearindustrie erklärte er, „die AEC werde künftighin im öffentlichen Interesse arbeiten“. Die AEC gibt es schon 25 Jahre. In wessen Interesse hat sie während dieser ganzen Zeit gearbeitet?

Unter Schlesinger wurde die AEC womöglich noch schlimmer als vor ihm. (Jetzt ist Schlesinger gar Carters Energiebeauftragter! Anm. d. Red.) Als Richter J. Skelly Wright im Calvert-Cliffs-Prozeß zu dem Urteil gelangte, daß die AEC gegen das Umweltschutzgesetz (National Environmental Policy Act, NEPA) verstoße, erklärte Schlesinger, die AEC werde sich dem Gerichtsurteil fügen. Zugleich forderte er vom Kongreß eine totale Änderung jenes Gesetzes, nach dem er verurteilt wurde.

Sein Vorgänger Dr. Glenn Seaborg forderte eine „gesetzlich zulässige Höchstmenge“ an Radioaktivität. Er wußte, daß man eine solche Dosis wissenschaftlich überhaupt nicht feststellen kann, schon die kleinste Dosis kann Schaden anrichten. Dennoch setzten 1957 die öffentlichen Hüter der Gesundheit — „National Academy of Sciences“, „National Council on Radiation Protection“ — die Dosis so hoch fest, daß sie selber schätzten, dies könne 10 Prozent mehr Krebsfälle jährlich zur Folge haben und eine Viertelmillion „defective babies“ (Mißgeburten). Damit würden die entsprechenden Fortschritte der Volksgesundheit der letzten 25 Jahre rückgängig gemacht. Die Nuklearindustrie hat dies bestätigt, indem sie plötzlich versprach, sie würde nur ein Prozent der zulässigen Höchstmenge in die Gegend blasen.

Unsichere Kühlung

Daß dieses Versprechen unglaubwürdig ist, bewies unter anderem die Affäre mit den Notkühlsystemen. Solche Systeme müssen zuverlässig funktionieren, um größere Katastrophen für die Zivilbevölkerung zu vermeiden. Gemäß eigenen Angaben der AEC sind einwandfreie Notkühlsysteme unerläßlich. Dennoch erteilte sie die Lizenz für Kernkraftwerke, deren Notkühlsysteme noch keinerlei Prüfung hinter sich hatten. Als der entsprechende öffentliche Aufschrei erfolgte, versprach die AEC simulierte Tests in einem simulierten Reaktor. Sechs solcher Tests wurden durchgeführt, sechsmal versagte das Notkühlsystem. Dennoch erließ die AEC „provisorische Sicherheitsbestimmungen“, welche gelten sollten, bis die Testserie erfolgreich abgeschlossen ist.

Da die Tests bisher lauter Mißerfolge erbrachten: auf welcher Basis lassen sich denn überhaupt „Sicherheitsbestimmungen“ festsetzen? Die Haltlosigkeit dieser Bestimmungen wurde nicht nur von Henry Kendall und Dan Ford (Union of Concerned Scientists) nachgewiesen, sondern auch von einer ganzen Reihe Experten der AEC selbst. Ihre Öffentlichen Aussagen wurden allerdings erst möglich, sobald der Skandal aufgeflogen war, daß die AEC ihren Angestellten jede öffentliche Stellungnahme verboten hatte, die mit der „offiziellen“ AEC-Politik nicht übereinstimmt.

Kann man einer solchen Institution auch nur ein einziges Wort glauben? Als Schlußstrich unter die seit 20 Jahren verkündete Behauptung der AEC, es gäbe „sichere Methoden“ für die Lagerung von atomarem Abfall, erklärte Schlesinger: Er werde die NASA bitten, den Atommüll mit Raketen auf die Sonne zu schießen.

Ungeheure Summen werden von Nuklearindustrie und Elektrizitätswirtschaft aufgewendet, um über die Massenmedien ihre Botschaft auszutrompeten: „Kernenergie ist sicher.“ Unterdessen hat Dr. Walter Jordan, Experte der AEC und kernkraftfreundliches Mitglied der Lizenzbehörde (Atomic Safety and Licensing Board), erklärt:

Die entscheidende Frage ist immer noch offen. Ist es uns gelungen, das Risiko herunterzuschrauben auf 1:10.000 für einen größeren Unfall pro Reaktor und Jahr? Sind wir schon so weit? Es gibt keine Methode, das zu überprüfen. Bisher haben wir in den USA ungefähr 100 Reaktorjahre ohne Unfall. Aber das ist weit entfernt von 10.000. Es besagt nicht viel. Der einzige Weg, das Risiko herauszufinden, ist der weitere Bau von Reaktoren.

Alle 20 Jahre New York vernichten?

Dr. Jordan hat recht, daß wir keine Ahnung haben, wie groß das Risiko eines größeren Reaktorunfalls ist. Hingegen ist sein Ansatz eines „erträglichen Risikos“ zweifelhaft. Bei einer künftigen Zahl von 500 Reaktoren (es sind sogar mehr geplant) heißt sein „erträgliches Risiko“ von 1:10.000, daß er alle 20 Jahre einen größeren Unfall „erträgt“. Das bedeutet die Vernichtung einer Stadt wie New York oder Philadelphia. Ist das „erträglich“?

Die Nuklearindustrie besteht auf Geheimhaltung wesentlicher Teile der Reaktoren. Da es um Leben und Tod Zehntausender Menschen geht, ist die Bekanntgabe aller Details wohl eine Minimalforderung. Als dies kürzlich bei einem Hearing von der Bürgergruppe „National Intervenors“ verlangt wurde, entschied die AEC, daß das Notkühlsystem Geschäftsgeheimnis der Produzenten sei. Die Nuklearindustrie wird mit Dutzenden Milliarden Dollar Steuergelder subventioniert; ob Zehntausende Steuerzahler sterben oder nicht, ist ihr Geschäftsgeheimnis.

Die öffentlichen Hearings über die Sicherheit von Kernkraftwerken sind eine Farce, solange sie in der Zuständigkeit der AEC liegen. Diese ist ja Hauptinteressent am raschen Verkauf möglichst vieler Reaktoren. Den Bürgern geht es dort wie Lämmern auf der Schlachtbank. Sie werden mit tausendundeinem technischen Detail umgebracht. Sie halten es dann schon für einen Sieg, wenn sie die Verbesserung eines Sicherheitsventils erreichen oder einen zusätzlichen Schrubber zur Beseitigung austretender radioaktiver Flüssigkeit oder einen neuen Kühlturm. Solche Siege sind Ablenkungen vom wirklichen Problem. Durch Hinzufügung eines weiteren Gadgets zu den vielen tausend Gadgets, aus denen ein Kernkraftwerk besteht, wird überhaupt nichts entschieden.

Jährlich 50 Megatonnen in die Luft

In Wirklichkeit geht es um zwei Gruppen von biologischen Giften, die bei der Erzeugung von Kernenergie unvermeidlich anfallen:

  1. langlebige radioaktive Spaltprodukte;
  2. Plutonium 239.

Diese Gifte gefährden das Leben unserer Generation und der künftigen Generationen. Sie stellen die Bewohnbarkeit der Erde in Frage.

Ein Kernkraftwerk in der Größenordnung von 1.000 Megawatt, Brüter oder Nichtbrüter, gas-, wasser- oder natriumgekühlt, erzeugt jährlich ebensoviel langlebige radioaktive Spaltprodukte wie 23 Megatonnen Atombomben. Wenn das US-Bauprogramm für Kernkraftwerke tatsächlich durchgeführt wird, werden wir zur Jahrhundertwende mindest 500 Reaktoren haben. Die jährliche Produktion von langlebigen Spaltprodukten wird dann 11.500 Megatonnen Atombomben erreichen. Die wichtigsten langlebigen Spaltprodukte, Strontium 90 und Caesium 137, haben Halbwertzeiten von 30 Jahren. Vervielfacht man diese Zeit, gelangt man zu einem — aus Abbau vorhandener Radioaktivität und Zuwachs neuen Materials sich ergebenden — „stationären Zustand“ in der berechenbaren Größenordnung von 500.000 Megatonnen Atombomben.

Die Atomwaffenversuche der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion produzierten insgesamt in allen Testjahren rund 250 Megatonnen Spaltmaterial. Diese Menge, obgleich über die ganze Welt verteilt, rief damals bereits internationale Besorgnis hervor. Wir würden, in unserem viel kleineren Staatsgebiet bei Erreichung des beschriebenen „stationären Zustands“, jährlich 50 Megatonnen Spaltmaterial freisetzen. Dies schon unter der Annahme, daß es gelingt, 99,99 Prozent des Materials im Reaktor zurückzuhalten. Läßt sich eine solche Isolation des Reaktors und auch der Abfallprodukte über Jahrhunderte hinweg sicherstellen? Ist das ein „technisches Problem“?

Schlimmer noch steht es mit dem Plutonium 239. Es ist die giftigste Substanz, über die der Mensch je in größerer Quantität verfügte, und es ist das Herzstück der Kernkraft, Brüter oder Nichfbrüter. Doktor Donald Geesaman, Plutoniumexperte der AEC, schätzt: je 10.000 Plutoniumpartikel (ein Mikron Durchmesser) in der Luft erzeugen je ein Lungenkarzinom. In einem Kilogramm Plutonium 239 gibt es 180 Billionen solcher Partikel oder 18 Milliarden Lungenkrebsdosen.

Plutonium 239 hat eine Halbwertzeit von 24.400 Jahren. Wenn es in die Atmosphäre gelangt, bedeutet dies erhöhte Krebsgefahr für die nächsten 1.000 Generationen. In einer gemäß dem US-Bauprogramm voll entwickelten Kernkraftindustrie werden jährlich etwa 100 Tonnen Plutonium 239 produziert. Unter der Annahme — die durch nichts bewiesen ist —, daß 99,999 Prozent dieses Materials zurückgehalten werden können, gelangt immer noch jenes eine Kilogramm ins Freie, welches die oben geschilderten Wirkungen hat.

Überdies ist Plutonium 239 die begehrteste Ware für den illegalen Handel. Man kann daraus auf einfachste Weise Atombomben machen.

Polizeistaat auf Jahrtausende?

Die ungeheuren Mengen radioaktiver Gifte, die von unserer Nuklearindustrie erzeugt werden, müssen jahrtausendelang unter Kontrolle gehalten werden — was für eine Naivität oder Arroganz, wenn dies als „technisches Problem“ bezeichnet wird. Worum es wirklich geht, sagte einer der wildesten Nukleartrompeter, Dr. Alvin Weinberg, Direktor des Oak Ridge National Laboratory (in Science, 7. Juli 1972):

Wir Kernkraftleute („nuclear people“) haben der Gesellschaft ein faustisches Okkasionsgeschäft angeboten. Mit der einen Hand geben wir eine unerschöpfliche Energiequelle ... mit der anderen Hand verlangen wir für diese magische Quelle einen Preis, der ganz ungewohnt ist, nämlich Wachsamkeit und Langlebigkeit unserer sozialen Institutionen ... eine permanente soziale Ordnung wird von der Kernenergie vorausgesetzt ... etwas, das es für immer geben muß ... Im Austausch für atomaren Frieden ... mußten wir eine militärische Priesterschaft einrichten, die uns vor den Kernwaffen beschützt. Sie erhält jenes heikle Gleichgewicht zwischen der Bereitschaft zum Krieg und der Wachsamkeit gegenüber menschlichem Irrtum, der uns in diesen stürzen könnte ... Ich glaube, daß die friedliche Kernenergie Forderungen von der gleichen Art an unsere Gesellschaft stellt, für eine noch längere Dauer.

Wäre es nicht eine Zumutung für den Rest des Universums, würde ich vorschlagen, daß Dr. Weinberg und seine Hohepriester ihre Nuklearreligion anderswo äls auf unserer Erde etablieren. Er sagt uns jedenfalls, woran wir sind: Wenn wir die Zukunft für ungezählte Generationen voraussagen können; wenn wir Krieg, Bürgerkrieg, Revolutionen vermeiden können; wenn wir Geisteskrankheiten, Sabotage, Terror, Kriminalität aller Art ausschließen können — dann ist Kernenergie sicher.

Die einzig rationale und moralische Alternative ist die unverzügliche Schließung aller Kernkraftwerke. Es geht nicht darum, die Kernkraft „sicher“ für die Menschen zu machen. Das Problem liegt im Gegenteil darin, daß man die Menschen nicht „sicher“ für die Kernkraft machen kann — außer durch Verwandlung in totale Roboter.

Die „Energiekrise“ hat sich als ein von der Industrie produzierter Schwindel herausgestellt. Es gibt genug alternative Energiequellen. Reines synthetisches Gas aus Kohle ist technisch erprobt und ökonomisch möglich. Kohle haben wir für viele hundert Jahre. Unterdessen können wir längst zur Sonnenenergie übergehen. Sie ist technologisch einfach und völlig umweltfreundlich.

Aber den Hohepriestern der Nuklearreligion paßt das nicht. Befragt man einen Nukleartechniker über die Lösung der ungeheuer schwierigen Kernkraftprobleme, lautet seine unveränderliche Antwort: Wir können das sehr bald lösen. Fragt man ihn, wann die Sonnenenergie nutzbar sein wird, schaut er auf all die grünen Pflanzen, die das seit Äonen zusammenbringen, und sagt: Vielleicht in 100 Jahren oder niemals.

Der rasche Weg zum reinen synthetischen Gas aus Kohle und zur Sonnenenergie ist das Kernkraftmoratorium. Die dadurch freigesetzten Mittel, öffentliche wie private, sind enorm. Die alternativen Energien werden, sobald das Moratorium durchgesetzt oder auch nur in Nähe der Durchsetzung ist, mit atemberaubender Geschwindigkeit ins Stadium der „kommerziellen Reife“ kommen.

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