FORVM, No. 95
November
1961

Die nichtexistenten Autoren

Es gibt in Österreich (leider) eine Boulevard-Presse und (leider) eine Meinungs-Presse; was es (leider, leider) nicht gibt, ist eine gute Zeitung. Wer gerne Zeitung liest, muß entweder sich in die Nationalbibliothek setzen und alte Bände durchschmökern, oder er muß die „Neue Zürcher Zeitung“ abonnieren. Ich will damit zweierlei sagen: einmal, daß die Meinungen unserer Meinungs-Presse derart kindisch oder antiquiert oder unverschämt oder irrealistisch, kurz: so bedeutungslos sind, daß man sich, beispielsweise, nach der Lektüre der Pollak’schen „Arbeiter-Zeitung“, um nicht gemütskrank zu werden, mit der Lektüre eines Exemplars der Austerlitz’schen „Arbeiter-Zeitung“ trösten muß, die man nämlich auch dann mit Genuß und Gewinn lesen kann, wenn man der geäußerten Meinung des Blattes nicht beizupflichten vermag; und zum anderen, daß unsere Zeitungen nicht der Bekanntmachung von Sachverhalten und Tatbeständen, sondern bloß der von Gerüchten dienen.

Wenn unsere Meinungs-Presse schlecht ist, dann liegt das doch wohl auch — oder primär — an den Meinungen, die darin publiziert werden. Um bei der „Arbeiter-Zeitung“ zu bleiben: wenn eine von Hannak ironisierte Wochenzeitung „sich mit Recht“ „Heute“ nennt, dann müßte die „Arbeiter-Zeitung“ sich rechtens „Vorvorgestern“ nennen, weil sie die Meinungen der Dreißigerjahre an die Phänomene der Sechzigerjahre legt, was dem Versuche gleichkommt, eine Entfernung mit dem Litermaß zu messen, oder ein Parkett mit Kunstdünger zu bearbeiten. Diese Zeitung ist tatsächlich „ein Denkmal“ (Hannak), und als solches unendlich weit entfernt von dem Original, an welches es, das Denkmal, erinnern soll. Wenn das Niveau nicht hat gehalten werden können, dann erstens, weil die „Idee“ (Hannak) von damals keine Idee von heute mehr ist, und zweitens, weil ernsthafte Menschen am publizistischen Antiquitätenhandel nicht eben das lebhafteste Interesse haben. Aber davon später mehr. Zu der Polemik Hannaks gegen das „Heute“ wäre nur zu sagen: daß sich entwickelnde Phänomene naturgemäß nicht so exakt und eindeutig ins Wort gefaßt werden können wie abgestorbene, museumsreife Realitäten; daß dem alten Dogmatiker das „Heute“ natürlicherweise als ein Saustall erscheinen muß, während die junge Intelligenz darin, wie in einem Spiegel, Linien einer neuen Gestaltung wahrnimmt, und eben Gott sei Dank nicht die von Hannak schmerzlich vermißte „Linie“. (Daß das „Heute“ viel besser — oder meinetwegen: weniger schlecht — sein könnte, ist auch meine Meinung; aber auch davon später!)

Warum es in Österreich keine informative Presse gibt, ist leider leicht erklärt: nämlich mit der politischen Lethargie des Volkes, die, dank der Koalitionspolitik, von Jahr zu Jahr merkbar zunimmt. Der Österreicher will gottbehüte nicht wissen, ob der sowjetische Ministerpräsident eine rasche Berlin-Lösung, „gefordert“ oder, „vorgeschlagen“ hat; ob die Gesetze der Republik Österreich, wie es die Verfassung zwingend vorschreibt, im Parlament, oder, wie es tatsächlich geschieht, im Koalitionsausschuß fabriziert werden; ob sein Vaterland der EFTA oder der EWG oder der WEU oder der NATO angehört; und jeweils: warum. Ihn interessieren vornehmlich, wenn nicht ausschließlich, die Annoncen, woraus das „Neue Österreich“, m.E. die beste Tageszeitung Österreichs, und die daran beteiligte KPÖ, m.E. die beste politische Partei Österreichs, reichen Gewinn ziehen. Den Text eines Gesetzes, einer Resolution, einer Deklaration lesen zu müssen: das empfände der Österreicher gewissermaßen als eine Verschärfung der Strafe, Staatsbürger zu sein. Wenn schon Politik, dann nur in der Form eines breitgewalzten Wahl-Slogans! Wenn schon Sachlichkeit, dann nur auf Volksschul-Niveau! Gewiß: der (ein halb Dutzend Mal zurechtoperierte) Busen einer Film-Diva ist attraktiver als der Kopf eines Außenministers; doch wage ich — selbst auf die Gefahr hin, der Volkswut zum Opfer zu fallen — hier die Behauptung, daß dieser in höherem Maß der Beachtung wert sei als jener. Mit dieser Erklärung, warum wir keine Informations-Presse haben, ist aber auch erklärt, warum wir eine Boulevard-Presse haben.

Warum aber sind Zeitungen wie — ich greife wieder auf Hannak zurück — die „Arbeiter-Zeitung“ oder das „Heute“ nicht so gut, wie sie sein sollten oder angeblich sein könnten?

Wenn man eine gute Zeitung machen will, braucht man drei Dinge: erstens Geld, zweitens Mitarbeiter und drittens Leser. Oder, einfacher gesagt: man braucht erstens Geld, zweitens Geld und drittens Geld. So viel Geld aber hat fast niemand, und weil Mitarbeiter außer einem Trinkgeld (offiziell Honorar) nichts kosten, ist es zweckmäßig, die Existenz einer Zeitung auf diesen zweiten Faktor zu gründen. Ich bin kein Hellseher und weiß daher nicht, wie viel Geld hinter der „Neuen Zürcher Zeitung“ steht; aber ich bin ein Leser und weiß daher, daß sie sehr gute Mitarbeiter hat. Die NZZ zwingt allein durch die Qualität ihrer Mitarbeiter einen großen Kreis von Personen zum Abonnement: alle Politiker, die ansonsten ja nie erführen, was in der Welt vorgeht.

Zur Apologie des Trottels

In Österreich aber treibt man leichter eine Million Schilling als einen guten Journalisten auf. Das hat zuerst einmal einen handfesten materiellen Grund: wer einen Artikel schreibt und diesen dann für 100 Schilling an ein österreichisches Blatt, statt für 100 Mark an ein deutsches, verkauft, ist ein Trottel. (Ich tue es.) Dann aber — und deshalb neige nun auch ich schon zu einer Revision meiner geschäftlichen Praxis —, dann aber wird’s erst wirklich tragisch: nicht für den Journalisten, der ja bequem nach Deutschland ausweichen kann, sondern für den Staat und für das Volk. Ich meine die zynische Mißachtung der Intelligenz, den Kalten Krieg gegen das Denken. Der Journalist (worunter ich, der Einfachheit halber, jeden Mitarbeiter einer periodischen Druckschrift verstanden wissen möchte), der Journalist also, der, im Geist und im Sinne Grillparzers, aus Liebe zu seinem Volk und aus Treue zu seinem Staat nicht (oder nicht nur) in Deutschland, sondern nur (oder auch) in Österreich publiziert und — in krassem Gegensatz zu all seinen geldgierigen Mitbürgern, von Direktor Hitzinger abwärts — 100 Schilling für 100 Mark nimmt (wovon er dann noch empfindlich höhere Steuern als sein deutscher Kollege zahlen muß): dieser Journalist, sage ich, sieht sich ausgeschlossen von der Möglichkeit, die Wahrheit zu schreiben. Ich wiederhole: die Wahrheit. Und ich meine damit keineswegs das, was ihm selber als wahr erscheint, also seine (von Hannak vermißte) Meinung bezüglich dessen, was wahr sei. In einem totalitären Staat, der es erklärtermaßen ist, versteht sich das von selbst. In einem totalitären Staat hingegen, der, indem er es nur de facto ist, permanent seine eigene freiheitliche Verfassung widerlegt, in einem schizophrenen Gemeinwesen wie dem unseren also wird einer, der sich dem Denken und damit der Wahrheit verpflichtet fühlt, nicht ins geographische Exil oder in den physischen Tod, sondern in das Exil der Lethargie und in den Tod seiner Moralität getrieben, was infolge der humanitären Verbrämung ungleich gemeiner ist. Nicht der Zwang zum Schweigen, sondern der schlimmere, nur die halbe Wahrheit sagen zu dürfen, korrumpiert den Geist. Aus diesem Dilemma sind zahllose Österreicher bereits geflohen: nach den USA, deren Universitäten ihnen weit offen stehen; nach Deutschland, in dessen Literatur, Publizistik und Theater sie führende Positionen ein nehmen; nach nahezu allen anderen Ländern der Erde, wo der freie Geist so gewürdigt wird, wie er es verdient. Oder kurz gesagt: in die Modernität. Nur in Österreich fordert man vom Intellektuellen, daß er sich zum Museumsdiener oder — um sinngemäß mit Hannak zu sprechen — zum Denkmalschützer degradiere, kurz: all den politisch-ideologischen Pofel poliere, mit dem unser Staat schon einmal in Konkurs gegangen ist und der dem modernen Österreicher auch dann nicht als Gold erscheint, wenn Gorbach und Pittermann ihn in den Mund nehmen.

Ich weiß schon seit Jahren, was man mir auch jetzt erwidern wird: In der Sowjetunion ist es viel schlinnmer. Meine Antwort: Wir haben nicht um einige oder viele Grade besser zu sein als die Russen — das sind nämlich schon die Polen —, sondern radikal anders; wenn wir mit dem Westen bestehen wollen, darf es eine derartige Vergleichsmöglichkeit zwischen diesem und den östlichen Regimes überhaupt nicht geben!

Zurück zur Journalistik: Wenn die seriöse — genau gesagt: die seriös gemeinte — Presse keine qualifizierten Mitarbeiter in auch nur annähernd genügender Zahl findet — und daß dem so sei, behaupte ich in Übereinstimmung mit allen mir persönlich bekannten Herausgebern, Chefredakteuren und Redakteuren —, dann einfach deshalb, weil, wie in allen anderen Intelligenzberufen, auch in der Journalistik der Geist a priori verdächtig und in letzter Konsequenz unerwünscht ist; denn er kann seiner Natur nach nicht lügen, die Lüge aber ist in Österreich die Conditio sine qua non des Schreibens. (Beweise dafür aus meiner eigenen bescheidenen Praxis nur gegen Rückporto und Spesenersatz.) Glaubt man denn im Ernst, daß unter diesen Voraussetzungen ein Intellektueller — und darunter verstehe ich einen Menschen, der die Resultate seines Denkens auch dann voll anerkennt, wenn sie seiner Meinung über den gedachten Gegenstand widersprechen —, daß also ein Intellektueller das tiefe Bedürfnis habe, in Österreich publizistisch tätig zu sein (von ein paar patriotischen Narren, zu denen auch ich mich rechne, abgesehen)?

Die „Selbstvernichtung der Presse“ (Hannak) ist eine logische Folge der Selbstvernichtung des Staates und der Nation, die derzeit im Gange ist. Die erste Voraussetzung einer Wiedergenesung der Presse ist daher, daß der Würgegriff der Koalitions-Diktatur sich löse, die alten, vor einem technisch gar nicht durchführbaren Bürgerkrieg zitternden Angsthasen beider Parteien abtreten und endlich der patriotischen Jugend, zu der ich beispielsweise, wenn er noch lebte, auch Karl Renner zählen würde, Platz machen: einer Jugend, die sich nicht nach dem Geburtsdatum bestimmt, sondern nach dem Willen und der Fähigkeit, ein gesundes politisches Klima zu schaffen. Tritt diese Voraussetzung nicht ein, dann wird unsre Presse einer einzigen Zeitung weichen müssen, die in diesem Augenblick ihren Namen wirklich offen wird nennen dürfen. Prawda heißt auf deutsch: Wahrheit, Recht.

Aber schuld daran, wenn’s je so weit kommt, bin natürlich ich, denn ich bin schon seit 1956 gegen die Koalition. Und diese Leute sind bekanntlich schlimmer als sämtliche Kommunisten und Nazis zusammen.

P.S. Gewisse krasse Ausdrücke und Wendungen verdanke ich der gelegentlichen Lektüre der „Arbeiter-Zeitung“.

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