FORVM, No. 401-405
Juli
1987

Die Schweigespirale

Die Angst vor einem Atomkrieg, die nukleare Bedrohung, ist ein Tabuthema zwischen Eltern und Kindern. So lautet eines der wichtigsten Ergebnisse internationaler Untersuchungen in Ost und West über die Frage, wie wir mit der Atomkriegsgefahr leben. Bereits in den frühen sechziger Jahren konnten amerikanische Forscher die Betroffenheit von Jugendlichen durch die nukleare Bedrohung feststellen. Innerhalb von zehn Jahren entwickelte sich daraus eine lebhafte internationale Zusammenarbeit mit dem Ziel, die psychischen Auswirkungen des atomaren Gleichgewichts des Schreckens auf Kinder und Jugendliche in verschiedenen Ländern zu vergleichen.

Inzwischen liegt eine Fülle von teilweise repräsentativen Studien vor, die uns einhellig dazu zwingen, die Illusion aufzugeben, unsere Kinder wüßten nichts von der Gefahr oder könnten ohne Angst vor ihr aufwachsen. So bestätigten Untersuchungen, die Eric Chivian und Mitarbeiter an Hunderten russischen Kindern und Jugendlichen durchführten und amerikanischen Vergleichszahlen gegenüberstellten, daß sich der größte Teil der Befragten von der Gefahr eines Atomkriegs bedroht fühlte: 60% der amerikanischen und 98% der russischen Jugendlichen (American Journal of Orthopsychiatry: 55, S. 484-502, 1985).

Die Neun- bis Siebzehnjährigen schätzten überdies die Aussichten, einen atomaren Schlagabtausch zu überleben, ganz realistisch, nämlich gering ein. „Neben dem Realismus der Kinder und Jugendlichen sollte den Erwachsenen aber vor allem ein Ergebnis zu denken geben“, betonte Alfred Oppolzer, Kinderpsychiater und Anthropologe anläßlich einer Veranstaltung der „Österreichischen Ärzte gegen den Atomkrieg“ an der Wiener Universitätsklinik: „Kinder und Jugendliche bringen uns Erwachsenen einen enormen Vertrauensvorschuß entgegen. Sie erwarten geradezu, daß wir den Atomkrieg verhindern — in Zahlen ausgedrückt heißt das, daß zwischen 65% (USA) und 93,3% (UdSSR) der Neun- bis Siebzehnjährigen daran glauben, daß es nicht zur Katastrophe kommen wird.“

Diesen eigentlich günstigen Voraussetzungen auf seiten der Kinder und Jugendlichen steht aber ein deutlicher Mangel an Kommunikation zwischen den Generationen gegenüber. So kann es nicht verwundern, daß sich Jugendliche und Erwachsene ein völlig falsches Bild voneinander machen und jeweils davon ausgehen, der andere fühlte sich nicht von einem Atomkrieg bedroht. Eine schwedische Untersuchung an knapp 1000 13- bis 15-jährigen Schülerinnen und Schülern ergab, daß die Jugendlichen nur von 17% der Erwachsenen annahmen, sie seien ernstlich durch die atomare Bedrohung beunruhigt, während eine Parallelstudie zeigte, daß die meisten Erwachsenen (78%) allerdings Angst vor einem Atomkrieg hatten. „Dies ist kein Einzelergebnis, sondern der Ausdruck dafür, daß Erwachsene und Kinder oder Jugendliche sich zuwenig über ihre Befürchtungen und Sorgen austauschen“, erklärt Oppolzer. Eine neue Studie an verschiedenen Schultypen in Wien belegt, daß jeder zweite Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren noch nie mit seinen Eltern über die Frage der nuklearen Bedrohung diskutiert hat.

Wie in anderen Industrieländern ist auch in Österreich die Hauptinformationsquelle das Fernsehen; es folgen Zeitung, Radio, Bücher. Erst nach diesen Medien werden als Informationsquelle die Lehrer genannt, dann Freunde und zuletzt — die Eltern.

Die wichtigsten Gesprächspartner der Jugendlichen sind die Gleichaltrigen. Etwa die Hälfte spricht mit Freunden über die Angst vor einem Atomkrieg. Ein Viertel nennt hier die Eltern als Gesprächspartner, nur jeder Zwanzigste nennt Lehrer. Jeder vierte Jugendliche aber spricht mit niemandem über die Angst vor dem Atomkrieg.

Dabei fühlen sich 50% der Jugendlichen persönlich in ihrer Lebensplanung durch diese Angst beeinträchtigt. Die Zukunft erscheint überschattet oder sogar zerstört, „no future“.

Wie ist dieses Schweigen zwischen Erwachsenen und Kindern zu erklären? Was hält Kinder und Jugendliche davon ab, ihre Sorgen und Ängste wegen der nuklearen Bedrohung ihren Eltern mitzuteilen? Und was hält umgekehrt Eltern davon ab, ihren Kindern Gelegenheiten zu schaffen, bei denen dieses Thema offen besprochen werden könnte? Diese Fragen versuchen Norbert Wetzel und Hinda Winawer zu beantworten („Familiendynamik“: 12, S. 56-72, 1987). Sie kommen zu dem Schluß, daß eine stille Übereinkunft zwischen Eltern und Kindern besteht, dieses Thema zu vermeiden, um nicht in eine „Spirale von Angst und Verzweiflung“ zu geraten. Wetzel und Winawer sprechen von einer übermäßig verantwortlichen Reaktion der Kinder, die ihre Eltern nicht mit deren eigener Hilflosigkeit konfrontieren möchten und von machtlosen Eltern, die ihre elterliche Führungsfunktion vernachlässigen. Besonders kritisch für die Entwicklung des Kindes und für die ganze Familie sei eine Rollenumkehrung zwischen den Generationen, wenn bedrohliche Themen wie die Gefahr eines Atomkriegs zur Sprache komnien. So beobachten Familienberater und Therapeuten immer wieder, wie Kinder ihre Eltern zu trösten und zu beruhigen versuchen, sobald das heikle Thema auf dem Tisch ist.

Als verhängnisvoll daran beurteilen die Therapeuten, daß diese kindliche Beschützerrolle das Kind oft selbst daran hindert, seine eigene Angst und Verzweiflung zu äußern. Das Kind geht leer aus, bekommt selbst keinen Trost und bleibt mit seinen Sorgen allein.

Eine weitere, potentiell schädliche Entwicklung sehen Wetzel und Winawer darin, daß Eltern ihre Kinder mehr oder weniger direkt zu „Delegierten“ ihrer eigenen unerledigten Pflichten machen, daß Kinder anstelle der Eltern im Kampf gegen die atomare Bedrohung aktiv werden und auf diese Weise wieder von der älteren Generation alleingelassen sind.

Auch der Kinderpsychiater Oppolzer sieht die Gefahr, daß eine „alleingelassene Generation“ von Kindern und Jugendlichen immer mehr in erwachsene Funktionen hineingedrängt wird, denen sie nicht gewachsen ist: „Seit der Aufklärung gehen wir in der Kulturphilosophie von der Annahme aus, daß Kindheit und Jugend besondere Lebensphasen sind, die auch besonderen Schutz genießen sollen. Wenn wir es zulassen, daß die Differenzierung zwischen den Aufgaben der Erwachsenen und denen der Kinder immer mehr verschwindet, und wenn wir es der jungen Generation zumuten, mit ihren Ängsten allein fertig zu werden, dann drücken wir uns vor unserer Verantwortung als Eltern, Lehrer oder Therapeuten.“

Nicht gedrückt haben sich Schüler, Lehrer und Eltern an einem Wiener Gymnasium. Hier bildete sich kurz nach der Katastrophe in Tschernobyl eine Arbeitsgruppe mit dem Ziel der Selbstaufklärung über die Unfallfolgen. Das Engagement der Beteiligten und die Wirkung der Aktion zeigte, wieviel Jugendliche und Erwachsene von einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit ihren Fragen und Ängsten profitieren können. Dieses Modell eines neuen Dialogs zwischen den Generationen über die nukleare Bedrohung wird dokumentiert in einem Taschenbuch der „Autorengruppe Rahlgasse“ (1987), das Zeichnungen und Texte von Schülern und Eltern sowie einen pädagogischen Anhang enthält („Wir strahlen zurück! Erste Produkte der Betroffenheit.“ Zu bestellen über das Gymnassum BG&BRG-6, Rahlgasse 4, A-1060 Wien).

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