FORVM, No. 137
Mai
1965

Forscher, Lehrer, Mandarine

Dr. Carl Grünberg, vor 25 Jahren fast achtzigjährig gestorben, war Professor an der Universität Wien, Jude und Marxist. Daß er alles drei sein konnte, spricht für die Zeit, in der er es war (1900-1924). Heute wäre dies wohl unmöglich. Gar erst mit so provokanter offizieller Deklaration wie in Grünbergs Rede aus Anlaß seiner Übersiedlung an die Universität Frankfurt, wo ihm, einer europäischen Leuchte der Rechts-, Agrar-, Wirtschafts- und Sozialgesehichte, Betreuer von zuletzt 15 monumentalen Bänden eines „Archivs der Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“, [*] ein eigenes Institut eingerichtet wurde. Wir drucken aus diesem verschollenen Beweisstück für die Gleichung „Professor = Bekenner“ einige Passagen aus Anlaß des 600jährigen Jubiläums der Alma mater Rudolfina.

Wir alle wissen und es ist seit langem Gegenstand ernsthaftester Erörterung, daß die von altersher überkommene Wirksamkeit der Universitas litterarum in der Gegenwart stärkere und starke Änderung erfahren hat. Ihrer geschichtlichen Entstehung nach wesentlich der Forschung gewidmet, haben die Universitäten im Verlaufe der Zeit ihren Aufgabenkreis stetig ausgeprägter in die Richtung zur Lehre hin verschoben gesehen. Sie haben immer mehr den Charakter von Fachbildungsanstalten oder richtiger: eines Bündels von Fachschulen angenommen.

Dieser Verschiebungsprozeß war ein zwangsläufiger. Er hat sich nicht zufällig vollzogen, sondern mit innerlicher Notwendigkeit. Schon die intensiv und extensiv unaufhörlich wachsende Tätigkeit des Staates sowie der anderen öffentlich-rechtlichen Körper hat ihn unvermeidlich gemacht. Nicht minder aber auch das Aufkommen ständig weitergreifender Selbsthilfeorganisationen aller Art sowie die Zunahme des gesellschaftlichen Bedarfs an hoch- und höchstqualifizierten Leistungen, die ohne spezielle wissenschaftlich fundierte Schulung nicht prästiert werden können.

Durch all das ist ein der Art und der Zahl nach fortwährend anwachsendes Heer von sozialen Funktionären gezeitigt worden, die ihre Fachausbildung auf Hochschulen und, soweit sie nicht rein technischer Natur ist, noch immer auf den Universitäten erhalten. Diese sind so, ihrer ursprünglichen, rein wissenschaftlichen Widmung entgegen, zu Mandarinen-Ausbildungsanstalten geworden.

Wenn ich das Wort „Mandarine“ hier verwende, so nur wegen seiner Prägnanz. Es möge also nicht falsch gedeutet werden, jedenfalls nicht in dem Sinne, als ob es überhaupt ein Werturteil oder gar ein absprechendes zum Ausdruck bringen wollte. Nichts liegt mir ferner. Das Mandarinat, d.h. die Gesamtheit der an den Hochschulen fachlich ausgebildeten Gesellschaftsfunktionäre: der Richter, Anwälte, Verwaltungsbeamten, Handelskammersyndici, Mittelschullehrer, Ärzte usw., ist für den normalen Ablauf des Gesellschafts-, Wirtschafts- und Rechtslebens eine nicht wegzudenkende Voraussetzung. Der Staat hat die Pflicht, für seine Beschaffung zu sorgen, d.h. möglichst tüchtige soziale Funktionäre auf allen Bedarfsgebieten zur Verfügung zu stellen und daher auch zur Ausbildung bringen zu lassen. Man unterschätze mir also nicht das Mandarinat und noch weniger die Anstalten zu dessen systematischer Heranziehung — erst recht aber nicht diejenigen, welche an diesen Anstalten wirken!

Wer vermöchte aber zu leugnen, daß das Aufgehen in der Aufgabe, ihrer Pflicht bewußte und zu deren Erfüllung im Leben geeignete soziale Funktionäre heranzubilden, die Kraft der damit Betrauten so sehr in Anspruch nimmt, daß vielfach, persönlich und sachlich, für eigene wissenschaftliche Arbeit nicht viel übrig bleibt? Wer kann ernsthaft bezweifeln, daß namentlich an stark besuchten Universitäten die Fülle von Lehr- und Prüfungslasten die Forschertätigkeit lähmt, ja nahezu ausschließt?

Eigentliche Forschernaturen werden durch ihre Lehrtätigkeit, je länger sie dauert und je hingebungsvoller sie ausgeübt wird, geistig und seelisch förmlich zermürbt und zum Verdorren gebracht. Dies gilt namentlich für jene Gebiete, auf denen die Berufsausbildung eine Massenerscheinung ist.

Gelähmte Forschung

Es wird mir denn auch wohl nicht bestritten werden können, daß zahlreiche glänzende Persönlichkeiten an deutschen und ebenso an österreichischen Universitäten für die Wissenschaft unvergleichlich mehr leisten, ihren Hochschulen weitaus stärkeren Glanz vermitteln könnten, wenn sie, wenigstens von einer gewissen Periode ihres Lebens an, dem lähmenden Einfluß aus einem Übermaß von Unterrichts- und reinen Verwaltungsaufgaben her, wie das heutige Universitätsleben sie so reichlich mit sich bringt, sich zu entziehen vermöchten und statt immer wieder die gleichen Hauptvorlesungen zu halten, die Bürde der Massenseminare zu tragen und unter den Prüfungslasten zu seufzen, freier und frei der Forschung zu leben imstande wären.

Jede starke Forschernatur wird immer das lebhafte Bedürfnis haben, sich nicht ausschließlich auf eine Isolierzelle zu beschränken, sondern aus ihr herauszutreten und ihre Arbeitsergebnisse sowie die Methoden zu deren Erlangung unmittelbar selbst vor Lernende zu bringen. Die Berührung namentlich mit der heranreifenden Jugend, die Kenntnis von dem, was ihr als Ideal vorschwebt, der geistige und gefühlsmäßige Zusammenhang mit ihrem Überschwang, mit ihrer noch so töricht-irrenden Frische, ist für jeden Forscher unentbehrlich, wenn er zu sich selbst und zu seiner Lebensarbeit dadurch Distanz gewinnen soll, daß er diese sich in denjenigen widerspiegeln sieht, die künftighin, was er begonnen, weiterführen sollen. Indem er andere bildet und erzieht, gelangt er erst zu rechtem Verständnis dessen, was ihm als Forscher sich gestaltet hat, kontrolliert, korrigiert und erzieht er sich selbst.

Forschung und Lehre dürfen also nicht absolut getrennt, ihre Verbindung darf nicht schlechthin abgebrochen werden. Was aber gefordert werden darf, ist allgemein: daß die Forschung nicht durch ein Übermaß von Lehre um ihr Recht, um ihre wesenseigene Auswirkung gebracht werde.

Wohl soll der Forscher, meines Ermessens regelmäßig, aus der Lehre hervorgehen und sich eine Zeitlang in ihr bewährt haben. Nie aber sollte er in ihr untergehen müssen, niemals dürfte es dazu kommen, daß Forscherpersönlichkeiten von ihr konsumiert werden; und hervorragender, durch Leistung bewährter Forscherbegabung sollte sogar der heute notwendige Umweg über die Lehrprofessur als Bedingung unabhängiger Forschungsarbeit überhaupt erspart bleiben können. Das Mittel hierzu wäre die — nicht wie bisher vereinzelte, sondern häufigere und häufige — Schaffung von Forschungsinstituten.

Gegenwärtig ist es nur erst wenigen gegönnt, an solchen zu wirken und sich wissenschaftlich auszuleben. Als eine um so größere Gunst des Schicksals empfinde ich es denn auch, daß ich — nach 30jähriger Tätigkeit in Wien — an einer der größten Universitäten auf deutschem Boden, der es wahrlich an Lehr-, Prüfungs- und Verwaltungslasten nicht gefehlt hat, an die Spitze einer ausschließlich Forschungszwecken gewidmeten Anstalt treten darf.

Kein Untergang im Lehren

Das Institut für Sozialforschung will eine Forschungsanstalt sein: Ihr Leiter soll jedoch — im Sinne meiner bisherigen grundsätzlichen Darlegungen — nicht ganz der Lehre entzogen sein oder sich ihr entziehen dürfen. Dies kommt darin zum Ausdruck, daß der Institutsdirektor zugleich auch hauptamtlich Professor an der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät unserer Universität ist und daß ihm so nicht nur das Recht zur Lehre gegeben, sondern auch die Pflicht zu ihr auferlegt erscheint: eine wohltätige Pflicht und ein als Freude empfundenes Recht.

Es gibt Pessimisten, die angesichts des Verblassens und Verschwindens von so vielem, woran sie gewöhnt sind, was ihnen bequem ist und Vorteil gebracht hat, woran ihr Herz hängt, entsetzt staunend inmitten der Trümmer stehen, welche der Umgestaltungsprozeß zeitigt. Sie sehen in ihnen nicht allein die Trümmer ihrer Welt, sondern der Welt überhaupt.

Was sie erblicken, scheint ihnen das Absterben nicht von etwas, das mit historischer Bedingtheit entstanden war, sich entfaltet hat, ausgereift ist und nun eben deshalb vergehen muß, sondern Tod und Verderben an sich. Aus ihren Reihen kommen z.B. jene, die gegenwärtig vom Untergange der abendländischen Kultur faseln und so zahlreiche Nachbeter finden. Sie „verstehen ihre Zeit nicht mehr“. In der Tat, ihnen mangelt das Verständnis für das Wesen des Lebens — aber wenn man auf den Grund sieht, auch der Wille zu ihm. Sie können daher keine Lehrer und Wegweiser sein, wie sie doch so gerne möchten.

Sicher ist jedenfalls, daß wer nicht an das Leben glaubt, um so rascher, und rascher als sonst unvermeidlich wäre, dem Tode und dem Grabe verfällt. Zum Leben der Individuen und erst recht der Kollektivitäten sowie in ihnen ist auch Wollen nötig, gehört die Überzeugtheit von der eigenen Lebensfähigkeit und davon, daß das Leben nicht unvermittelt und fortsetzungslos abbricht, daß an das durch sein eigenes Sichausleben Überwundene stets Neues sich anknüpft.

Im Gegensatz zu den Pessimisten gibt es denn auch Optimisten. Sie glauben weder an den Untergang der abendländischen Kultur oder der Kulturwelt überhaupt, noch ängstigen sie sich und andere vor ihm. Sie sehen den Strom der Zeit und des Lebens ewig fließen. Sie verstärken ihre Überzeugung durch Wünschen und Hoffen. Gestützt auf die geschichtliche Erfahrung, sehen sie anstelle einer zerfallenden Kulturform eine andere höhergeartete heraufziehen. Sie sind der Zuversicht: Magnus ab integro saeculorum nascitur ordo, neue Ordnung entringt sich aus der Fülle der Zeiten. Und sie fördern ihrerseits bewußt die Selbstüberwindung des Überlebten um des Werdenden willen und um es zu schnellerem Reifen zu bringen.

Viele, deren Zahl und Gewicht ständig zunimmt, glauben, wünschen und hoffen nicht nur, sondern sind wissenschaftlich fest überzeugt, daß die entstehende neue Ordnung die sozialistische sein wird, daß wir uns mitten im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus befinden und diesem mit wachsender Schnelligkeit zutreiben.

Wie ich wohl als bekannt voraussetzen darf, huldige auch ich dieser Anschauung. Auch ich gehöre zu den Gegnern der geschichtlich überkommenen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Rechtsordnung und zu den Anhängern des Marxismus.

Vor einem Menschenalter habe ich gegen den Haupttragpfeiler des wissenschaftlichen Sozialismus, die materialistische Geschichtsauffassung, noch Vorbehalte machen zu sollen geglaubt. Belehrt durch die seitherige Entwicklung, habe ich sie jedoch aufgegeben.

Es ist daher nur selbstverständlich, daß ich, sobald ich an wissenschaftliche Aufgaben meines Fachgebietes herantrete, dies tue, ausgerüstet mit der marxistischen Forschungsmethode. Sie soll auch im Institut für Sozialforschung, soweit dessen Arbeiten unmittelbar durch mich selbst oder unter meiner Leitung erfolgen werden, zur Anwendung gelangen.

Ich brauche wohl nicht erst zu betonen, daß, wenn ich hier von Marxismus spreche, ich ihn nicht parteipolitisch, sondern in rein wissenschaftlichem Sinne aufgefaßt wissen will: zur Bezeichnung eines in sich geschlossenen ökonomischen Systems, einer bestimmten Weltanschauung und einer fest umrissenen Forschungsmethode.

Zunächst sei konstatiert, daß die — übrigens auch schon vor Marx und Engels vielfach vertretene, aber freilich von diesen beiden erst prägnant ausgebildete und zu einem sichersten Tragpfeiler ihrer Lehre gemachte — materialistische Geschichtsauffassung ein philosophisches System, eine Metaphysik weder ist noch sein will und daß sie insbesondere mit dem Materialismus nichts zu tun hat. Man pflegt sie allerdings nur zu oft mit diesem zu verwechseln oder zusammenzuwerfen. Jedoch bloß aus Unwissenheit, aus Unklarheit, wider besseres Wissen, um ein als bequem und durchschlagend erachtetes Argument zur Bekämpfung des Marxismus zu gewinnen.

Aber der philosophische und der historische Materialismus haben begrifflich nichts miteinander zu tun. Lange schon, und jüngst erst wieder treffend von Max Adler, ist aufgezeigt worden, daß die materialistische Geschichtsauffassung weder darauf ausgeht, ewige Kategorien zu ergrübeln oder das Ding an sich zu erfassen, noch das Verhältnis zwischen Geistes- und Außenwelt zu ergründen beabsichtigt. Ihr Objekt sind nicht Abstrakta, sondern die gegebene konkrete Welt in ihrem Werden und Wandel. Sie geht von Tatsachen aus und nicht von Postulaten. Sie ist nicht statischer, sondern dynamischer Natur.

Eine Tatsache und nicht ein Postulat auch sind ihr die Gesellschaft und der vergesellschaftete Mensch, eine Tatsache und nicht ein Postulat die Entwicklung der kapitalistischen Welt über sich selbst hinaus zum Sozialismus hin. Kurzum, das wirkliche soziale Geschehen, das gesellschaftliche Leben in seiner unaufhörlichen, stets erneuten Umwälzung ist Gegenstand ihrer Betrachtung und die letzten erfaßbaren Ursachen dieses Umwälzungsprozesses, die Gesetze, nach denen er abläuft, sind Gegenstand ihres Forschens.

Sie findet hierbei, daß unter dem treibenden Druck der materiellen Interessen, die sich systematisch im Wirtschaftsleben betätigen, und ihres Aufeinanderprallens, der Bildung also von Interessengegensätzen und in menschlicher Verkörperung von Interessentengruppen, der sozialen Klassen, ein regelmäßiges Fortschreiten von minder Vollkommenem zu Vollkommenerem sich vollzieht.

Und wie unter dem Gesichtspunkt der materialistischen Geschichtsauffassung sämtliche Lebensäußerungen der Gesellschaft sich als Reflexe des Wirtschaftslebens in dessen jeweiliger Gestaltung darstellen, wie danach in letzter Instanz „die Produktionsweise des materiellen Lebens den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß bestimmt“, so erscheint auch alle nicht mehr urzuständige Geschichte Folge von Klassenkämpfen.

Man sieht, die materialistische Geschichtsauffassung ist eine Theorie organischer Entwicklung; ihre Forschungsmethode ist eminent induktiv; ihre Resultate beanspruchen keine Geltung in Zeit und Raum schlechthin, sondern nur relative, jeweils geschichtlich bedingte Bedeutung. Sie will denn auch zwar das wirtschaftliche Entwicklungsgesetz der Privateigentums und speziell der kapitalistischen Epoche erforschen, in der wir uns befinden, aber sie will weder, noch kann sie darüber hinausgehen.

Demgemäß glaubt sie sich zwar fähig, den Sozialismus als das Ziel der menschlichen Entwicklung unter den konkreten historischen Verhältnissen zu erkennen und aufzuzeigen — aber auch nicht mehr. Wie sich die sozialistische Zukunftsgesellschaft im einzelnen gestalten und wie sie funktionieren wird, welche neuen treibenden Kräfte in ihr hervortreten und welche Bewegungsgesetze ihre Entwicklung beherrschen werden, das fällt methodisch aus dem Bereich marxistischer Forschung und Darstellung, da diese sonst vom Boden der Realität weg in Prophezeiungen und utopistische Phantastereien sich verlieren müßte.

Die Einwände gegen den historischen Materialismus sind mir wohlbekannt. Sie beruhen m.E. zum Teil darauf, daß die Erforschung der Vergangenheit und Gegenwart noch nicht weit und tief genug geschürft hat — wie sich ja auch nicht wegleugnen läßt, daß die marxistische Entwicklungstheorie eben deshalb noch lange nicht alles restlos zu erklären vermag. Zu einem anderen, sehr beträchtlichen Teil aber entspringen sie einfach der Scheu vor den Konsequenzen, denen niemand sich zu entziehen vermag, der einmal die materialistische Geschichtsauffassung sich zu eigen gemacht hat.

Daher denn die dogmatische Gebundenheit der Theologie, deren Charakter sie als wissenschaftliche Disziplin von vornherein ausschließt, weil an das zu Beweisende selbst sich kein Zweifel, keine Kritik heranwagen darf.

Marxismus ist Revisionismus

Jener Vorwurf dogmatischer Gebundenheit trifft aber gerade den Marxismus nicht, da er, anders auch als die klassische Nationalökonomie, nicht „ewige“ Gesetze annimmt, sondern vom Gegebenen, dem jeweils Gegebenen, daher stets Veränderlichen, ausgeht und innerlich notwendig früher gewonnene Resultate parallel zu den Änderungen der Wirklichkeit immer wieder revidieren und richtigstellen muß.

Daß das Institut sich der Tagespolitik schlechthin fernhalten wird, habe ich bereits betont. Wenn es etwa durch seine Arbeit Einfluß üben sollte, so wird dieser in Art und Maß kein anderer sein, als solchen wissenschaftliche Tätigkeit überhaupt zu üben vermag: dadurch, daß ihre Ergebnisse auf die öffentliche Meinung Eindruck machen.

Für die Ausbildung von Persönlichkeiten, die ihrerseits nicht im Mandarinat, sondern in der Forschung ihr letztes Ziel sehen, kommen nur Forschungsinstitute in Betracht. Nur in solchen, mit ihrer beschränkten Teilnehmerzahl, kann der Forscher-Lehrer seine höchste akademische Aufgabe erfüllen. Allerdings obwaltet auch in ihnen eine Gefahr. Das Streben nach Bildung von „Schulen“, der übermächtige Fortpflanzungstrieb im Verein mit dem Wunsch, die geistigen Kinder nach seinem Antlitz gebildet und das eigene Wesen sich in ihnen widerspiegeln zu sehen, bringt sich auch im Verhältnis gerade zwischen Lehrer und Schüler zur Geltung. Nur zu oft verkürzt, um sich eine Gefolgschaft zu schaffen, der „Scholarch“ das Persönlichkeitsrecht des Schülers und läßt dieser sich seinerseits solche Vergewaltigung um äußerer Förderung willen gefallen.

Vermittlung einer Arbeitsmethode und Aufzwingung von Resultaten sind zweierlei und himmelweit voneinander verschieden. Nur jene scheint mir des Lehrers würdig. Ich selbst habe immer die Heranbildung selbständiger Menschen der von Nachbetern vorgezogen. Das beweisen auch alle Publikationen, die ich je geleitet habe: sowohl meine „Studien zur Sozial-, Wirtschafts— und Verwaltungsgeschichte“ wie das „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“ und die „Beihefte“ zu ihm oder die „Hauptwerke des Sozialismus und der Sozialpolitik“. Man wird in ihnen genug Arbeiten finden, die, wenngleich auf meine Anregung und unter meiner Leitung entstanden, dennoch inhaltlich und in ihren Folgerungen durchaus nicht in meinem Sinne ausgefallen sind.

So, das gelobe ich, werde ich es auch in Zukunft halten. Freilich wird das Institut sich und den ihm eingegliederten jungen Forschern Aufgaben nur in seinem programmatischen Rahmen stellen — würde es ja sonst aufhören zu sein, was es sein will — und als Lösungsmethode wird die marxistische gelehrt werden. Im übrigen aber wird das Institut eine Stätte sein, an welcher der junge Forscher oder wer sonst die Hilfsmittel des Institutes benützt und Anregung durch dessen Leiter sucht, seine Individualität frei entfalten mag, um zu werden, was er werden kann, und nicht Abklatsch eines anderen.

Daß ich für meine Person sie für allein geeignet halte, das soziale Geschehen in Vergangenheit und Gegenwart sowie das Werden der Zukunft verstehen zu lehren, habe ich bereits nachdrücklich betont; und nicht minder, daß ich wie bisher in meiner Lehr- und Forscherarbeit mich auch weiterhin von ihr leiten lassen werde. War der Marxismus als ökonomisches und soziologisches System bisher — in starkem Gegensatz zu anderen Ländern — an den deutschen Hochschulen stiefmütterlichst behandelt, ja praktisch höchstens widerwillig geduldet, so wird er im neuen Forschungsinstitut fortan ebenso eine Heimat haben wie sonst an den Universitäten die theoretischen und volkswirtschaftspolitischen Lehrmeinungen des Liberalismus, der historischen Schule, des Staatssozialismus.

Ich spüre es: Sie stutzen. In der Tat, enthält nicht mein Bekenntnis das Zugeständnis dogmatischer Gebundenheit? Bedeutet es nicht eine Verleugnung jener Voraussetzungslosigkeit, die immer und überall für wissenschaftliche Forschung (und Lehre) gefordert wurde?

Nun wohl, wissenschaftliche Voraussetzungslosigkeit in dem Sinne, in dem man gewöhnlich von ihr spricht, d.h. persönliche und sachliche Losgelöstheit von der Umwelt, in der sich die wissenschaftliche Arbeit vollzieht, und von dem ebenfalls durch das Milieu bestimmten Werdegang des wissenschaftlichen Arbeiters selbst, ist eine leere Phrase.

Ich meinerseits habe sie nie ernst genommen.

Wie sollte man auch je einen Weg, welcher immer es sei, anders denn von einem gewissen Ausgangspunkte antreten, und wird sich wohl jemand auf einen Weg machen, ohne irgendeine Vorstellung darüber, wohin er führt, wohin er führen soll? Diese Fragen stellen, heißt auch schon sie verneinen. Ausgangs- und Zielpunkt sind jedem, was immer er sinnvoll unternehmen mag, gegeben. Fehlte eine Vorstellung hierüber, so wäre es, wie wenn man ohne Steuer, ohne Kompaß, ohne Ruder auf dem weiten nebelverhüllten Meer umhertriebe, dauernd umhertreiben wollte.

Doch der Kompaß fehlt keinem. Niemand ist in seinem Wollen und Handeln von ober- und unterbewußten Vorstellungen frei, die jenes und dieses bestimmen. Niemand kann, niemand soll von ihnen frei sein. Jeder wird durch seine Weltanschauung geleitet. Und wer würde sich nicht gegen die Behauptung verwahren: er sei von jeder Weltanschauung frei oder besser: weltanschauungsbar, also recht eigentlich ein Automat, irgendwie von außen her in Bewegung gesetzt, Zielen zutaumelnd, die nicht er sich gestellt, deren er sich nicht bewußt sei, ja die er dann als Ziele auch gar nicht wahrzunehmen und zu beurteilen vermöge, an deren Erreichung er innerlich ebensowenig interessiert sei, wie daran, auf welche Art er sich ihnen zubewegt?

Ideologie unter Kontrolle

Man braucht sich derartiges nur vorzustellen, um es als widersinnig, als widernatürlich zu empfinden. Das gilt ganz allgemein, besonders aber von Wissenschaftlern. Gerade sie sind nur dann imstande, ihre Aufgaben fruchtbar zu erfüllen, wenn sie diesen leidenschaftlich hingegeben sind. Woher sollte aber solche Hingabe ihren Antrieb erhalten, wenn nicht von seiten der Weltanschauung her?

Das alles will, richtig verstanden und auf die kürzeste Formel gebracht, eigentlich nur besagen, daß alle wissenschaftliche Arbeit in ihrer Zielstrebigkeit der Deduktion nicht zu entraten vermag. Keineswegs jedoch auch, daß diese zur unabstreifbaren Fessel soll werden dürfen. Vielmehr gewinnt die Forderung nach „freier Wissenschaft“ hier erst ihren Sinn. Hier erst hat die „Voraussetzungslosigkeit““ zu beginnen. Sie soll sich äußern in unablässiger Selbstkontrolle, in nie erlahmender, stets immer wieder aufzunehmender Prüfung, ob nicht etwa bei der Wahl von Ausgangspunkt und Ziel sowie des Weges zwischen beiden und der Art, wie dieser beschritten wird, d.h. der Arbeitsmethode, Fehler unterlaufen seien.

Das einzige Mittel hierzu ist die Induktion. Erschüttert sie ursprüngliche Annahmen, so müssen diese berichtigt werden. Festhalten an überkommenen oder liebgewordenen Anschauungen, auch wenn sich diese mit dem zeitlich und räumlich erfaßbaren Erfahrungsmaterial als unvereinbar herausstellen, Verzicht also auf eigenes Urteil, Scheu vor Zweifel und schwächliches Suchen nach Rechtfertigung dessen, was a priori als feststehend gegolten, ist im Widerspruch mit dem Wesen der Wissenschaft und schließt jeden Fortschritt derselben aus.

[*Neuausgabe durch die Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1965 ff.

[*Neuausgabe durch die Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1965 ff.

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