FORVM, No. 229
Februar
1973

Für 2. Revolution im Ostblock

II. Teil des NF-Gespräches
voriger Teil: Diese Partei ruinierte den Sozialismus
Das Ziel revolutionärer Marxisten in einer Übergangsgesellschaft müßte es sein, die moderne Form der Arbeitermacht zu entdecken, das Gegenstück zu den russischen Sowjets während und nach der Revolution von 1917. Glauben Sie, daß dies einer der Inhalte des Prager Frühlings war, oder war dieser nur ein Versuch, dem bürokratischen Sozialismus ein menschliches Antlitz zu geben?

Ich denke, wir haben schon über die Frage gesprochen, ob der Prager Frühling Liberalisierung oder Demokratisierung bedeutete (I. Gespräch: NF Jänner 1973), und ich habe gesagt, daß die Tendenz zur Demokratisierung ging. Die Formel „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ wurde geprägt, um klarzustellen, daß das Ziel eine sozialistische Gesellschaft anderer Art war als jene, die in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern errichtet worden ist. Doch ist es richtig, daß es Schwierigkeiten gab mit marxistischen Grundbegriffen, die für die meisten Menschen ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben. „Sowjetmacht“ zum Beispiel ist heute gleichbedeutend mit Macht der Sowjetunion, Symbol einer Großmacht mit einem spezifischen wirtschaftlichen, sozialen und politischen System, das von manchen Kommunisten als Modell angesehen wird.

Auch in der Sowjetunion hat es offenbar die Sowjetmacht nicht lange gegeben. Hat sie nicht schon vor Stalin aufgehört?

Ja, sie hat nur für eine kurze Zeit nach der Revolution bestanden. Das wird gewöhnlich mit der ausländischen Intervention und dem Bürgerkrieg erklärt. Sicherlich hat auch das eine Rolle gespielt. Aber die wahre Tragödie der Sowjetunion war, daß gewisse Maßnahmen, die wahrscheinlich vorübergehend notwendig waren, nachher als spezifisch sozialistisch betrachtet wurden. Ich meine vor allem die Unterdrückung der innerparteilichen Opposition — das Fraktions- und Diskussionsverbot, das in der Partei halbmilitärische Zustände herstellte, was nur in Kriegszeiten zu rechtfertigen ist.

Vielleicht wenden wir uns nun der Frage der Außenpolitik während des Prager Frühlings zu. Viele Linke waren darüber beunruhigt und hatten den Eindruck, daß die tschechoslowakische Außenpolitik auf eine Annäherung an den Westen hinsteuerte und weniger Gewicht auf den Kampf gegen den Imperialismus legte. Hat es damals überhaupt eine grundsätzliche Diskussion über das Wesen einer sozialistischen Außenpolitik gegeben? Schließlich wurde im Prager Frühling eine ganze Reihe von Problemen im Zusammenhang mit dem Stalinismus erörtert. Es wurde vieles veröffentlicht, was vorher verboten gewesen war. Ist die Diskussion über den Stalinismus auf die Theorie des „Sozialismus in einem Land“ zurückgegangen und hat sie sich mit der Außenpolitik im Sinn einer Rückkehr zum proletarischen Internationalismus befaßt?

Hier handelt es sich um zwei Probleme. Erstens um das ideologische: das Problem, die tiefen Wurzeln des Stalinismus aufzudecken. Darüber hat es viele Diskussionen gegeben, wurden viele Artikel geschrieben. Außerdem bekamen wir Texte zu lesen, die bis dahin verboten gewesen waren; so übersetzten die „Literarní Listy“ Isaac Deutscher, und sogar Texte von Trotzki und Bucharin wurden veröffentlicht, sowie Artikel über die Moskauer Prozesse. Aber die Parteiführung riet davon ab, weil es zu Schwierigkeiten mit der Sowjetunion führte, während man doch damals alles vermeiden wollte, was die Beziehungen verschlechtern konnte. Man darf nie vergessen, wie linke Kritiker es manchmal tun, daß die ganze Entwicklung des Prager Frühlings unter russischem Druck vor sich gegangen ist. Außerdem war Moskau nicht nur in der Lage, wirtschaftlichen, militärischen und politischen Druck auszuüben, sondern hatte auch seine Fünfte Kolonne in der Tschechoslowakei, im Sicherheits-, Armee- und Staatsapparat. Der ständige russische Druck erklärt sicherlich, warum gewisse Dinge langsamer gingen, als viele es gern gesehen hätten — auf die Dauer aber hätte man sie kaum verhindern können.

Das zweite Problem betrifft die Außenpolitik. Dieser Bereich wurde vom neuen Kurs faktisch am wenigsten betroffen. Das mag paradox erscheinen, da die Russen ja damals die Invasion hauptsächlich mit den Avancen begründeten, die die Tschechoslowakei den Vereinigten Staaten, Westdeutschland und anderen gemacht haben soll. Tatsächlich bildete die Tschechoslowakei 1968 einen totalen Gegensatz etwa zu Rumänien, wo die Innenpolitik im wesentlichen stalinistisch geblieben ist, während es sich in der Außenpolitik gewisse Freiheiten erlaubt und selbständige Initiative entwickelt. In der Tschechoslowakei war 1968 das Gegenteil der Fall. Es gab Erneuerung in der Innenpolitik, nicht aber in der Außenpolitik, und die Tschechoslowakei meinte es völlig ehrlich mit der Versicherung, daß sie im wesentlichen die Politik der Sowjetunion unterstütze.

Das Neue in der Außenpolitik war natürlich, daß sie nicht länger ein Monopol der Partei und des Außenministeriums war. Die Menschen konnten ihre Meinung dazu sagen, was ihnen früher nicht erlaubt gewesen war, und die Öffentlichkeit begann die Außenpolitik zu beeinflussen.

So zum Beispiel in der Frage der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Israel. In den arabischen Ländern wird manchmal behauptet, die Tschechoslowakei habe eine Annäherung an Israel gesucht. Das stimmt nicht. Die Tschechoslowakei unterstützte weiterhin die arabischen Länder und fuhr fort, ihnen Waffen zu liefern. Neu war, daß manche Leute, insbesondere unter der Intelligenz, Zweifel über die einseitige Nahostpolitik äußerten. Sie sagten, man sollte überprüfen, ob diese Politik wirklich fortschrittlich sei; ob die arabischen Länder tatsächlich, wie man uns sagte, sozialistisch oder nicht vielmehr nationalistisch seien; ob es richtig gewesen sei, die Beziehungen zu Israel abzubrechen, während wir die diplomatischen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten trotz dem Vietnam-Krieg aufrechterhielten.

Ich war damals Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses der Nationalversammlung, und ich verteidigte in vielen Sitzungen die Politik der Partei in dieser Frage. Zugleich erkannte ich, daß jene Kritiker ganz logisch dachten, wenn sie fragten, warum wir die Beziehungen zu den USA nicht abgebrochen hätten, als diese begannen, Nordvietnam zu bombardieren. Das war ja ein viel krasserer Fall imperialistischer Aggression, als im Nahen Osten. Auch saßen — und sitzen — viele Kommunisten in den arabischen Ländern im Gefängnis.

Was Westdeutschland betrifft, verlangten wir nur die Annullierung des Münchner Abkommens. Scheel wurde nach Prag eingeladen, und ich empfing ihn in meiner Eigenschaft als Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses. Die Sowjetunion tadelte diesen Besuch und nannte Scheel einen „Kriegshetzer“, aber bloß ein Jahr später fuhr der „Kriegshetzer“ zu einem Freundschaftsbesuch nach Moskau.

Um die Frage der Außenpolitik abzuschließen: An der grundlegenden Orientierung hatte sich nichts geändert. Manche Leute waren jedoch der Meinung, die Außenpolitik sollte selbständiger sein, die Tschechoslowakei sollte nicht nur wiederholen, was die Sowjetunion sagt.

Kommen wir nun zum sowjetischen Einmarsch. Was war ihrer Ansicht nach der entscheidende Grund für die russische Intervention?

Ich denke, es war die Angst der Sowjetbürokratie, das tschechoslowakische Experiment könnte trotz allen Schwierigkeiten Erfolg haben und eine sozialistische Gesellschaft anderer Art hervorbringen. Dies hätte auf die benachbarten osteuropäischen Staaten eine mächtige Anziehung ausgeübt und die sowjetische Hegemonie bedroht.

Ich denke nicht, daß die Russen auch nur einen Augenblick wirklich an eine drohende westdeutsche Invasion der Tschechoslowakei geglaubt haben. Und ich glaube auch nicht, daß sie ernstlich von der Gefahr einer Konterrevolution überzeugt waren. Sie kannten die Lage und wußten, daß die Rechtskräfte viel zu schwach waren, um sich auch nur auf der Straße zu zeigen. Außerdem hat es im März und im April, als die Partei wirklich unter Druck stand, keine Intervention gegeben. Damals hatte die Partei die Initiative verloren. Es gab starken Druck von unten, aber die Partei hatte kein Programm, bevor Ende April das Aktionsprogramm beschlossen wurde. Die „Gruppe der Progressiven“ hatte sich noch nicht formiert. Es gab eine Informationsexplosion und fast völlige Meinungsfreiheit; die Kommunistische Partei war unter Beschuß und war in der Defensive. In dieser Situation gab es keine russische Intervention zur Verhinderung einer Konterrevolution.

Mit der Veröffentlichung des Aktionsprogramms und den Maßnahmen, die bewiesen, daß das Programm ernst gemeint war — ich denke an das Rehabilitierungsgesetz, den Plan zur Bildung von Arbeiterräten, den Entwurf eines neuen Parteistatuts usw. —, gewann die Partei die Initiative zurück. Dank dem Druck von außen wurde die Partei sogar zu einer wahren nationalen Kraft, die von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wurde.

Als im Juni beschlossen wurde, einen Parteitag einzuberufen, war bereits klar, daß dieser Parteitag die Position der Dubčekschen Führung stärken würde Die Gefahr einer Spaltung der Partei bestand nicht, weil die konservative Gruppe ganz klein und völlig isoliert war. Es bestand kein Zweifel, daß der Parteitag der Partei mehr Kraft zur Ausführung ihrer Politik geben würde. Gerade dies, meine ich, fürchteten die Russen. Sie sahen, daß das neue Zentralkomitee, unter dem neuen Parteistatut, schwerer zu kontrollieren sein würde als das alte — das noch immer jenes aus Novotnýs Zeiten war. Ich glaube, das Datum für die Invasion wurde endgültig festgesetzt, als die Russen erkannten, daß das Datum des Parteitags nicht geändert werden konnte. Als die beiden Politbüros in Čierna zusammentrafen, drängte Breschnjew vor allem auf die Verschiebung des Parteitags, der für den 9. September 1968 einberufen worden war, und auf gewisse personelle Veränderungen noch vor dem Parteitag.

Man muß betonen, daß die tschechoslowakische Partei ihren neuen Kurs nicht als Vorbild für andere Länder hinzustellen suchte. Im Gegenteil. Manche Intellektuelle verkündeten lauthals, die Augen der ganzen Welt seien auf die Tschechoslowakei gerichtet, aber die Partei war darauf bedacht, die Vorstellung, sie wolle ein Modell aufstellen, zu zerstreuen. Der Sowjetunion jedoch war es klar, daß das tschechoslowakische Experiment, wenn es Erfolg hätte, unvermeidlich Rückwirkungen in den anderen sozialistischen Ländern haben würde. Es war kein Zufall, daß Gomulka, Ulbricht und der ukrainische Parteisekretär Schelest, also die Führer von drei an die Tschechoslowakei grenzenden Ländern, die eifrigsten Befürworter einer Intervention waren.

Wer in der Sowjetunion drängte sonst noch darauf? Meinen Sie, daß das Armeekommando dafür war?

Schwer zu sagen. Ich denke, es wurde mehr als politische denn als militärische Notwendigkeit angesehen. Aber die Armee war sicherlich für die Intervention. Sowjetische Offiziere, mit denen ich nach der Intervention gesprochen habe, sagten, Stalins größter Fehler — abgesehen davon, daß er den deutschen Überfall im Jahre 1941 nicht hatte verhindern können — sei es gewesen, 1945 die osteuropäischen Staaten nicht der Sowjetunion einverleibt zu haben. Aber ganz unabhängig davon, was die russischen Militärs denken mögen, betrachtet die sowjetische Führung sicherlich die Präsenz der Sowjetarmee als die einzige wirkliche Garantie für ihre politische Kontrolle über die anderen sozialistischen Länder. Die Tschechoslowakei war eines der wenigen Länder ohne sowjetische Besatzung. Novotný selbst hat gesagt, er sei mehrmals aufgefordert worden, sowjetische Militärstützpunkte in der Tschechoslowakei zu akzeptieren, doch habe er stets abgelehnt.

Der Prager Frühling lieferte einen Vorwand, sowjetische Truppen in die Tschechoslowakei zu bringen, und ich bin überzeugt, die Russen würden es auch in Rumänien und Jugoslawien versuchen, wenn sie eine Möglichkeit dazu hätten. Die Parteibürokratie hält tatsächlich die Armee für das beste Mittel, um die osteuropäischen Länder unter Kontrolle zu halten; und solange es in der Tschechoslowakei keine sowjetischen Truppen gab, war ihnen nicht wohl.

Nebenbei, es ist interessant, aus dem Piller-Bericht zu erfahren, daß diese Frage schon 1949 aufgeworfen worden war, als Rákosi und Bierut an Stalin und Gottwald schrieben, um ihre Sorge über die Entwicklung in der Tschechoslowakei auszudrücken. Sie wiesen darauf hin, daß in der tschechoslowakischen Partei bislang keine imperialistischen Agenten entlarvt worden seien, und behaupteten, die Tschechoslowakei sei das schwächste Kettenglied, weil es dort keine sowjetischen Truppen gebe.

Wie beurteilen Sie die sowjetische Reaktion auf die Entwicklung in der Tschechoslowakei?

Ich wußte ein wenig, wie die Russen dachten, aber nur auf Grund meiner persönlichen Kontakte in der Sowjetunion. Mein Fall ist nicht typisch, die sowjetische Haltung wurde in unserem Zentralkomitee nicht realistisch diskutiert. Beim Dresdener Treffen im März 1968 übten die anderen Mitglieder des Warschauer Pakts zum ersten Mal heftige Kritik an der tschechoslowakischen Entwicklung. Die Presse im Westen veröffentlichte einiges darüber. Als Dubček aus Dresden zurückgekehrt war, rief er die Verantwortlichen für Radio, Fernsehen und Presse zu sich. Er berichtete uns, man habe über Wirtschaftsbeziehungen sowie über Pläne für Entwicklung und Kooperation gesprochen, erwähnte jedoch nicht den sowjetischen Druck. Ich fragte ihn, ob die westlichen Presseberichte, wonach die Tschechoslowakei in Dresden kritisiert worden sei, stimmten. Er verneinte. Später, nach dem Einmarsch, wurde Dubček von anderen Mitgliedern der tschechoslowakischen Delegation in Dresden kritisiert, die ihm vorwarfen, die Kritik Ulbrichts, Gomulkas und anderer vor uns verheimlicht zu haben. Dubček erwiderte, es sei richtig, daß er es vor uns verschwiegen habe, doch sei dies auf einmütigen Beschluß der tschechoslowakischen Delegation geschehen. Novotný gehörte noch dem Parteipräsidium an, und man wollte die Kräfte, die er repräsentierte, nicht ermutigen; außerdem war Dubček damals ehrlich überzeugt, die Enthüllung des sowjetischen Drucks würde eine antisowjetische Stimmung erzeugen, und das wollte er vermeiden. Deshalb bemühte er sich, die diesbezüglichen Gerüchte zu widerlegen.

Selbst in jenen Parteikreisen, wo man sich der wirklichen Lage etwas besser bewußt war, dachte man nicht an militärische Intervention, sondern eher an wirtschaftlichen Druck oder eine Art Blockade. Dubček selber und viele andere, darunter auch ich, waren überzeugt, wenn Stalin es nicht gewagt hatte, Jugoslawien zu okkupieren, würde auch Breschnjew nicht daran denken, etwas Ähnliches mit der Tschechoslowakei zu tun. Schließlich war Stalin damals militärisch sehr stark gewesen und hatte viel größere Autorität in der kommunistischen Weltbewegung genossen als die heutigen Sowjetführer.

Wir glaubten, nach dem XX. Parteitag und den Ungarn-Ereignissen wäre eine brutale militärische Intervention nicht mehr möglich. Dubček persönlich war überzeugt, die Sowjetunion würde vielleicht allen möglichen Druck ausüben, aber nicht bis zur direkten Intervention gehen.

Es gab jedoch Leute wie General Prchlík, den Leiter der Verteidigungs- und Sicherheitssektion im Zentralkomitee, die der Führung Pläne für den Fall einer sowjetischen Invasion unterbreiten wollten; Armee- und Sicherheitskräfte hatten entdeckt, daß das Ziel der sowjetischen Manöver auf tschechoslowakischem Boden im Juni und Juli 1948 gewesen war, Positionen einzunehmen, von denen aus sie unser Verbindungssystem kontrollieren konnten. Sie hatten Pläne von diesem System angefertigt, Untergrundkabel verlegt und die Position aller Post- und Telephonzentralen festgestellt, einschließlich jener, die nur von staatlichen Stellen verwendet wurden. Das war den Sicherheitskräften bekannt, wenngleich die Berichte widersprüchlich waren, da manche Sicherheitsoffiziere insgeheim in sowjetischen Diensten standen.

Diese Leute verrieten auch General Prchlíks Notstandsplan der sowjetischen Botschaft. Dies führte sofort zu einer sowjetischen Reaktion. Die sowjetische Seite fragte, wie ein Mann, der einer solchen Provokation fähig sei, an leitender Stelle in den Streitkräften stehen und dem Zentralkomitee angehören könne. Es gab eine offizielle sowjetische Note gegen Prchlík, wobei zum Vorwand diente, daß er in einer Pressekonferenz einige Reformen des Warschauer Paktes vorgeschlagen hatte — sehr geringfügige Reformen, die später, 1970, durchgeführt wurden. Dubček entschloß sich, Prchlík zu opfern, und entließ ihn von seinem Posten. Ich meine, das war ein entscheidender Augenblick. Von da an wußte die Sowjetunion, daß die Tschechoslowakei sich im Fall einer militärischen Intervention nicht wehren würde. Prchlík wurde als Symbol unseres vollen Vertrauens zur Sowjetunion geopfert.

Man wird noch jahrelang darüber diskutieren, ob irgendetwas hätte getan werden können, um die sowjetische Intervention abzuwenden. Manche Leute behaupten, man hätte sie vermeiden können, wenn die Tschechloslowakei sich gefügiger gezeigt hätte. Ich glaube das nicht. Die Erfahrungen Jugoslawiens und Rumäniens beweisen, daß die einzige Möglichkeit, die Sowjetunion abzuschrecken, darin bestanden hätte, ihren Führern klarzumachen, daß wir zwar bereit seien, die Diskussion fortzusetzen, und ein loyales Mitglied des Warschauer Pakts zu bleiben wünschten, daß aber die Tschechoslowakei jedem Versuch einer militärischen Lösung Widerstand leisten und Volk und Armee mobilisieren würde. Daß dies nicht geschah, zeigt das Fehlen einer klaren Einstellung zur Demokratisierung, worüber wir schon gesprochen haben.

Unsere Führer schreckten davor zurück, die Massen zu mobilisieren und dem Land eine klare Orientierung zu geben, das Volk zu bewaffnen und zu erklären, daß wir uns von Drohungen nicht einschüchtern ließen. Ich bin überzeugt: hätte Dubček einen solchen Kurs eingeschlagen, würde die Sowjetunion nicht gewagt haben, einzumarschieren. Sie hätte natürlich auf andere Weise Druck ausgeübt, wäre aber nicht so weit gegangen. Manche Leute sagten, jede Erwähnung von Widerstand hätte die Sowjetunion nur zum Äußersten gereizt, und Moskau sei entschlossen gewesen, gegebenenfalls Prag zu bombardieren. Wenn jedoch die sowjetischen Vertreter mit dergleichen drohten, so war dies nur psychologische Erpressung. Sie wollten schließlich nicht ihr eigenes Vietnam schaffen — es ist nicht so einfach für sie, die Massakrierung von Tausenden Menschen in Mitteleuropa ins Auge zu fassen. Der Kurs, den die tschechoslowakischen Führer einschlugen, war nicht geeignet, die Invasion abzuwenden. Er bewies einen ernsten Mangel an revolutionärem Geist.

Wurde im Präsidium die Möglichkeit bewaffneten Widerstandes erörtert?

Nein, überhaupt nicht. Die Diskussion drehte sich darum, ob man die Invasion verurteilen solle. Den größten Streit gab es um einen Satz, der besagte, die Invasion stelle eine Verletzung des Völkerrechts und der Normen der Beziehungen zwischen sozialistischen Staaten dar. Ich glaube, die Schwäche der Führung zeigte sich darin, daß sie zwar die Invasion verurteilte, doch ohne an das Volk zu appellieren und ihm zu sagen, was zu tun sei. Ich war in jener Nacht im Haus des Zentralkomitees. Man sagte, es sei alles verloren; der Flughafen war besetzt, von allen Seiten rückten Tanks an, und Truppen vom Flughafen begannen bereits, das Haus des Zentralkomitees zu umzingeln. Die Möglichkeit, bewaffneten Widerstand zu leisten, war schon verspielt. Zwar waren in der Armee einige dafür, zu kämpfen, und ein paar Generale wurden deshalb abgesetzt. Doch es war nichts mehr zu machen. Da der Präsident, als Oberbefehlshaber der Streitkräfte, befohlen hatte, keinen Widerstand zu leisten, mußten die Offiziere gehorchen. Die Zeit, an bewaffneten Widerstand zu denken, wäre früher gewesen.

Nun war es nur noch möglich, den Okkupanten politischen Widerstand entgegenzusetzen, den sie nicht ignorieren konnten, und eine politische Lösung zu ihren Bedingungen zu verweigern. In diesem Augenblick hätte die Parteiführung die Massen mobilisieren, den Parteitag zusammenrufen und anderen Formen der Aktion, wie Generalstreik, erwägen müssen. Statt dessen erklärten die führenden Funktionäre nur, sie seien gegen die Okkupation, und taten nichts, als im Haus des Zentralkomitees zu warten, bis sowjetische Truppen sie gefangennahmen. Bis sechs oder sieben Uhr morgens hätten sie das Gebäude noch durch einen geheimen Ausgang, von dem die Russen nichts wußten, verlassen können.

Wir wollten, daß Dubček gehe, sich in die ČKD-Werke im 9. Prager Gemeindebezirk begebe und von dort aus den politischen Widerstand organisiere. Aber Dubček meinte, die Führer der Partei und des Landes müßten auf ihren Posten bleiben und ihre Pflicht tun, wie ein Kapitän auf der Kommandobrücke seines sinkenden Schiffes. Dubček ist ein sehr anständiger Mensch, er wollte sich für die anderen opfern. Dubček dachte legalistisch; ein revolutionärer Führer hätte ganz anders gehandelt, er wäre in die Betriebe gegangen und hätte die Arbeiter mobilisiert.

Daß dies richtig gewesen wäre, bewiesen die folgenden Ereignisse. Auf Initiative der Prager Stadtparteileitung wurde der geplante Parteitag zu einer außerordentlichen Sitzung zusammengerufen. Alle Delegierten waren natürlich schon vor der Invasion gewählt worden. Der Parteitag trat am 23. August in einem Prager Arbeiterbezirk zusammen, und die Okkupationstruppen konnten nichts dagegen tun. Die Russen wollten in diesen Bezirk keine Panzer schicken und nicht auf die Arbeiter schießen lassen. Doch obwohl die Einberufung des Parteitags ein großer Erfolg war, gab es immer noch keine klare Entscheidung über den Widerstand. Mehr als 1200 Delegierte nahmen an dem Parteitag teil, der für die Okkupanten völlig unerwartet kam. Auf dem Parteitag gab es eine lange Diskussion darüber, ob man einen Generalstreik oder nur einen einstündigen Streik ausrufen sollte. Es ist interessant, daß viele sich scheuten, den Generalstreik auszurufen, mit der Begründung, dies sei die äußerste Waffe der Arbeiter, und die sollte nicht leichtfertig angewandt werden. Schließlich entschied sich der Parteitag für die Ausrufung eines einstündigen Generalstreiks. Er wurde im ganzen Land durchgeführt und war ein voller Erfolg, hatte aber natürlich keine solche Wirkung wie ein richtiger, unbefristeter Generalstreik.

Anderseits befand sich die Sowjetarmee in einem politischen Vakuum. Der Versuch, eine sogenannte Arbeiter- und Bauernregierung unter einem Kollaboranten einzusetzen, scheiterte an der allgemeinen Empörung der Massen, und weil der Parteitag klar bewiesen hatte, daß die Partei in ihrer überwältigenden Mehrheit gegen die Invasion war. Zu diesem Zeitpunkt wagte es kein potentieller Kollaborant, die traurige Aufgabe auf sich zu nehmen und die Okkupation gutzuheißen.

Sobald die sowjetischen Machthaber erkannten, daß es für ein Kollaborantenregime keine Grundlage gab, luden sie Präsident Svoboda nach Moskau ein. Als dies bekannt wurde, waren wir gerade auf dem Parteitag in Prag 9. Vom Parteitag aus suchten wir Svoboda zu überreden, nicht nach Moskau zu fliegen. Er befand sich immer noch in seiner offiziellen Residenz auf der Prager Burg, und wir sprachen mit ihm telephonisch. Es war uns klar, daß die Russen sich in Schwierigkeiten befanden, weil sie niemanden hatten, mit dessen Hilfe sie das Land hätten politisch unter Kontrolle bringen können.

Inzwischen waren Dubček und andere Spitzenfunktionäre entführt worden; man hatte sie per Flugzeug in die Ukraine gebracht, wo sie auf einem Militärflugplatz gefangengehalten wurden. Wäre es den Okkupanten gelungen, eine Sogenannte „Revolutionsregierung“ einzusetzen, dann wären Dubček und die anderen als Konterrevolutionäre erschossen worden. Da jedoch dieser Plan gescheitert war, blieb den sowjetischen Führern nichts anderes übrig, als nach fünf Tagen die Gefangenen nach Moskau zu bringen. Sie brauchten jemanden, mit dem sie verhandeln konnten und der bereit war, die Okkupation zu akzeptieren. Die Festigkeit des Widerstands in der Tschechoslowakei zwang sie, mit eben den Menschen, die sie hatten vernichten wollen, zu verhandeln. Es gelang uns nicht, Präsident Svoboda von der Moskaureise abzubringen, obwohl wir ihm klarzumachen suchten, daß nicht wir uns in Schwierigkeiten befanden, sondern die Okkupanten: Die Sowjetunion wurde von der ganzen Welt verurteilt, auch von großen Teilen der kommunistischen Weltbewegung und der internationalen Arbeiterbewegung. Sie hatte die Tschechoslowakei zwar besetzt, aber nicht unter Kontrolle gebracht.

Die Okkupationstruppen waren in einer peinlichen Lage; es fehlte ihnen an wichtigem Nachschub, einschließlich Lebensmittel. Der einfache Sowjetsoldat war verwirrt und demoralisiert. Auf Schritt und Tritt wurde er gefragt, warum er ein sozialistisches Bruderland besetzt habe, und er wußte keine Antwort. Eine Anzahl sowjetischer Soldaten beging damals Selbstmord.

Eine imposante Massenreaktion auf die Okkupation hatte sich entwickelt. Doch obwohl die Parteimitglieder dabei sehr aktiv waren, fanden wir es doch schwer, vollen politischen Nutzen daraus zu ziehen. Die Führer, denen die Massen vertrauten, waren von ihnen abgeschnitten und wußten nicht, was in der Tschechoslowakei vorging. Wäre Dubček auf dem Parteitag in den ČKD-Werken dabei gewesen und wäre ein unbefristeter Generalstreik ausgerufen worden, hätte die Lage ganz anders ausgesehen. Ich will nicht behaupten, die sowjetischen Truppen wären sogleich wieder abgezogen, aber das Kräfteverhältnis wäre ein anderes gewesen.

Natürlich gehören alle diese Probleme der Vergangenheit an, aber sie sind auch Probleme der allgemeinen revolutionären Strategie. Die Lehre aus den tschechoslowakischen Ereignissen ist, daß im Grunde ohne die Aktion der Massen nichts erreicht werden kann.

In den Tagen nach dem Einmarsch hat es eine Explosion des Volkswiderstandes gegeben. In welchem Maße war er von der Partei organisiert?

Die Aktivsten in der Organisierung des Widerstands waren Parteimitglieder, aber wir hatten keinerlei Weisungen. Zum Beispiel richteten wir sehr schnell eine Anzahl von Radiosendern und Zeitungen im Untergrund ein. Sie waren imstande, über die wahren Umstände der Okkupation, über die Schwierigkeiten der Okkupanten, über das weltweite Echo der Ereignisse zu berichten und unseren Menschen eine Orientierung zu geben. Aber all das wurde von denen, die beim Rundfunk, beim Fernsehen und in anderen Medien arbeiteten, auf eigene Faust organisiert. Sie fanden Unterstützung in jedem Wohnviertel, in der Armee und in der Staatsverwaltung. Natürlich gab es Agenten der Okkupationsmächte, vor allem unter den alten Mitgliedern des Staatssicherheitsdienstes, doch konnten wir sie sehr bald neutralisieren. Ihre Autonummern wurden im Rundfunk bekanntgegeben, und sie konnten kaum etwas machen. Redakteure nahmen die Dinge selbst in die Hand und sorgten dafür, daß ihre Zeitungen herauskamen. Daß der Parteitag so klar gegen die Invasion Stellung genommen und die Verantwortung für den Widerstand übernommen hatte, gab ihm große moralische Autorität und sicherte ihm die Unterstützung der Bevölkerung.

Die Okkupanten hatten eine riesige militärische Macht konzentriert, doch solange wir eine feste Front gegen sie bildeten, waren sie politisch machtlos. Gewiß, sie hätten eine Menge Menschen umbringen können, aber das hätte ihnen nicht die gewünschte Beherrschung der Lage eingebracht. Zugleich glaube ich, der Widerstand hätte sich in Kürze besser koordiniert und die vorhandenen Kräfte hätten sich organisiert. Statt dessen wurde dieser Phase des Volkswiderstands mit der Unterzeichnung des Moskauer Protokolls durch die tschechoslowakischen und die sowjetischen Führer ein Ende gesetzt. Das war der Anfang vom Ende für die tschechoslowakische Kommunistische Partei.

Die Menschen waren zum Widerstand bereit, sie wollten sich in jeder Form gegen die Okkupation zur Wehr setzen. Die führenden Funktionäre unserer Partei waren in Moskau von dieser Entwicklung abgeschnitten. Doch selbst wenn sie sich für geschlagen hielten, hätten sie besser getan, das Protokoll nicht zu unterschreiben. Es wäre besser gewesen, sie wären Symbole des neuen Kurses geblieben, der unter günstigeren Umständen sich wieder hätte durchsetzen können, als dieses politische Todesurteil zu unterzeichnen. Dubček und die anderen, die unterschrieben, wurden von den Russen dazu verwendet, das Volk still zu halten und ihnen zu helfen, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Natürlich standen sie unter unerträglichem Druck, aber der Kurs, den sie einschlugen, führte ebenso sicher zu ihrem Untergang. Damals brauchten die Russen sie, weil das Volk ihnen noch vertraute. Alle, die der Kollaboration verdächtig erschienen, waren völlig diskreditiert. Das Moskauer Protokoll gab den Kollaboranten Zeit, sich unter Dubčeks Schutz zu etablieren und ihn bald zu verdrängen.

Anfangs war Dubčeks Prestige so groß, daß fast jedermann bereit war, das, was er getan hatte, zu akzeptieren. Am 31. August, einen Tag nach Dubčeks Rückkehr aus Moskau, trat das Zentralkomitee zusammen. Es war das alte Zentralkomitee, erweitert um achtzig Delegierte des Parteitags. Eine der Bedingungen im Moskauer Abkommen war, daß der Parteitag für ungültig erklärt wurde. Indem er das alte Zentralkomitee erweiterte, versuchte Dubček diese Bedingung mit einem Kompromiß zu umgehen. Auf der Tagung sprach sich nur einer gegen das Moskauer Abkommen aus: Šabata. Andere mögen gezweifelt haben, ob es richtig gewesen sei, das Protokoll zu unterschreiben, aber sie vertrauten Dubček. Schließlich wollte er das Beste für unser Volk, und sie dachten, sie dürften es ihm nicht noch schwerer machen. Als daher jener junge Genosse aus Mähren sagte, wir müßten das Moskauer Abkommen zerreißen, wollten die anderen darüber nicht diskutieren.

Zusammenfassend kann man sagen, daß im Laufe der ganzen Entwicklung Fehler gemacht wurden. Der erste war, daß die Führung nicht alles gegen eine mögliche Invasion mobilisierte, noch bevor diese stattfand, um der Sowjetunion klarzumachen, daß es kein Spaziergang sein würde. Der zweite Fehler bestand darin, daß die Führung im Haus des Zentralkomitees wartete, statt in die Betriebe zu gehen und den Widerstand zu organisieren. Der dritte Fehler war die Unterzeichnung des Moskauer Abkommens.

Was ist aus der Kommunistischen Partei jetzt, mehr als vierJahre später, geworden, und welche Rolle wird sie in Zukunft spielen?

Nun ich würde sagen, die Normalisierung hat aus ihr eine ganz andere Partei gemacht. 500.000 der aktivsten Mitglieder wurden ausgeschlossen oder sind ausgetreten. Man ist zur alten stalinistischen Struktur und den alten administrativen Methoden zurückgekehrt. Es ist kein Zufall, daß man wieder Gottwald verherrlicht, der seine alten Freunde verhaften und hinrichten ließ. Die tschechoslowakische Partei ist heute in Wirklichkeit eine Filiale der sowjetischen. Natürlich hat es noch stalinistische Überreste in unserer Partei gegeben. Man kann nicht sagen, daß die jetzige Entwicklung vom Himmel gefallen ist. 1968 gab es Elemente einer Parteispaltung. Aber damals wollte die neue Mehrheit ein neues Statut einführen, das es der Minderheit erlaubt hätte, auf ihren Positionen zu verharren und für sie zu kämpfen. Die Stalinisten waren in der Minderheit, aber wir wollten sie nicht ausschließen; wir wollten sie für ihre Vorstellungen kämpfen lassen, aber mit geistigen Argumenten.

Welche Folgen wird die Wandlung der Partei für die Zukunft haben?

Die Folge wird sein — und das gilt nicht nur für die Tschechoslowakei —, daß grundlegende Änderungen nicht von der Partei ausgehen werden. Seit der Niederlage des Prager Frühlings hat die Partei sich so entwickelt, daß eine sozialistische Erneuerung nicht von innerhalb dieser neostalinistischen Partei kommen kann. Das heißt durchaus nicht, daß alle, die ihr angehören, abzuschreiben sind, aber jene, die die Dinge ändern möchten, sind in der Minderheit und passiv. Meiner Meinung nach muß der Anstoß zur Erneuerung des Sozialismus von Gruppen außerhalb der Kommunistischen Partei kommen. In ganz Osteuropa sind die kommunistischen Parteien zu eng mit der herrschenden Ordnung verbunden, ihre Struktur ist zu starr, ihre Bürokratie zu mächtig, als daß eine Erneuerung von innen her möglich wäre. Die Sowjetunion hat aus der Tschechoslowakei ihre Lehren gezogen und ist wachsamer als zuvor.

Ich denke, im Kampf gegen die Bürokratie muß man die folgende Taktik anwenden: Die Massen müssen Druck ausüben, durch Gruppen außerhalb der Partei, auch durch kleine revolutionäre Gruppen, durch junge Menschen, Studenten und so weiter. Die Parteibürokratie muß zu Konzessionen gezwungen werden, aber man muß klarstellen, daß diese Konzessionen nicht das Endziel des Kampfes sind. Man darf der Bürokratie keine Zeit lassen, sich zu konsolidieren. Man muß sie zu weiteren Konzessionen zwingen, indem man die Menschen für allgemein wünschenswerte Ziele mobilisiert, was dann die Bürokratie zwingen wird, noch weiter zurückzuweichen.

Natürlich müssen wir zugleich versuchen, in der Partei, in den Gewerkschaften und in anderen offiziellen Organisationen Verbündete zu finden. Innerhalb der Bürokratie bildet sich stets eine Opposition, weil sie nicht imstande ist, die vor ihr stehenden Probleme zu lösen. Selbst wenn sie weiß, wie ein Problem zu lösen wäre, kann sie die Lösung nicht realisieren, weil die Massen, von denen alle Lösungen abhängen, sie nicht unterstützen. Überhaupt sind diese Parteien weitgehend von den Massen isoliert. Das heißt, wir müssen versuchen, den Druck der Massen außerhalb der Partei mit der Ermutigung der inneren Opposition zu verbinden.

Um diesen Prozeß herbeizuführen, ist es vor allem notwendig, ein Bündnis zwischen der Arbeiterklasse und der Intelligenz zustandezubringen. In der Tschechoslowakei haben wir gesehen, wie wichtig es ist, ein Programm zu haben, das die Interessen der Arbeiterklasse ausdrückt. Anderseits haben die polnischen Ereignisse vom Dezember 1970 gezeigt, daß die Arbeiter stark genug sind, die Bürokratie zu erschüttern — da aber kein von der Intelligenz formuliertes Programm vorhanden war, wurden keine politischen Forderungen erhoben. Die unmittelbaren Forderungen, Preise und ähnliches betreffend, wurden erfüllt, am politischen System aber hat sich nichts geändert. Wenn die Arbeiter und die Intellektuellen voneinander isoliert sind, ist es immer schlecht.

Wie schätzen Sie die Bedeutung von Liberalisierungstendenzen innerhalb der herrschenden Bürokratie ein?

Die revolutionären Sozialisten und die Liberalisierer haben ganz verschiedene Ziele. Doch das heißt nicht, daß der Weg zu einer antibürokratischen Revolution in diesen Ländern nicht über eine Art Liberalisierung führen kann. Eine solche Liberalisierung böte den Arbeitern, den Jungen und den Intellektuellen zumindest die Chance, sich zu organisieren. In einer Periode der Liberalisierung könnten sie sich selbst finden, ihre Ziele formulieren, bevor es zur Konfrontation kommt. Sonst besteht die Gefahr, daß eine spontane Explosion — beispielsweise ein Zusammenstoß zwischen Arbeitern und Polizei — zu Blutvergießen führt, aber zu keinem politischen Wandel. Ja, eine solche Explosion kann sogar von reaktionären, konterrevolutionären Kräften ausgenützt werden.

Das ist ein kompliziertes Problem, weil das politische Bewußtsein der Massen durch die bürokratische Herrschaft sehr geschwächt und verwirrt worden ist. Ich meine, die Menschen müssen erst in einem freieren Klima ihre Ideen präzisieren können, wenn sie eine wirkliche Revolution in der Revolution machen wollen.

Was verstehen Sie unter der Revolution, die in der Tschechoslowakei und in anderen Ländern notwendig ist?

Die Länder, die sich sozialistisch nennen, sind in Wahrheit Übergangsgesellschaften — eine Art Staatssozialismus, beherrscht von einer Bürokratie, die nicht unter Kontrolle der Arbeiter steht. Der Weg der Revolution in diesen Ländern ist ein anderer als der in einem kapitalistischen Land. In gewisser Hinsicht ist die Position der herrschenden Schicht schwächer, weil sie nicht in die Produktionsstruktur eingebaut ist; es gibt keine Bourgeoisie mehr, und die Schlüsselindustrien sind bereits verstaatlicht. Das Problem besteht darin, die Bürokratie zu schlagen und die bürokratischen Strukturen zu zerschlagen. Ich möchte dies eine Revolution in der Revolution nennen. Die Bürokratie ist keine Gesellschaftsklasse im strengen Wortsinn, sie ist nicht in soziale Beziehungen integriert wie die Bourgeoisie in einer kapitalistischen Gesellschaft. Sie ist eine privilegierte Elite, die ihre gesellschaftliche Schwäche durch Konzentration politischer Macht kompensiert. Sie hat internationale Verbindungen mit ihresgleichen in anderen Ländern. Sie kann nur von einer echten revolutionären Bewegung — das heißt, von den Massen — besiegt werden.

Eine solche Bewegung ist etwas ganz anderes als der Versuch, das bürokratische System akzeptabler und humaner zu machen. Ein solcher Prozeß ist seit Dezember 1970 in Polen in Gang, und man kann sehen, daß es sich um keine wirkliche Bewegung zum Sozialismus hin handelt. Ich weiß nicht genau, ob die chinesische Kulturrevolution eine echte Massenbewegung war, aber ich erwarte keine ähnliche Bewegung in Osteuropa. Ich glaube nicht, daß ein Spitzenfunktionär hier die Massen gegen die Bürokratie aufrufen wird. Die Erneuerungsbewegung muß von unten ausgehen.

Außerdem glaube ich nicht, daß sie Erfolg haben kann, wenn sie auf ein einziges Land in Osteuropa beschränkt ist. Sowohl die tschechoslowakischen Ereignisse von 1968 als auch die ungarischen von 1956 zeigen, daß jede Bewegung, die isoliert, im Rahmen eines einzigen Staates bleibt, von der Sowjetarmee unterdrückt werden kann. Das erscheint mir als ein zwingender Grund für eine Art internationaler Zusammenarbeit zwischen den Völkern Osteuropas, da eine gleichzeitige Bewegung in zwei oder drei Länder der Sowjetunion gegenüber in einer weit stärkeren Position wäre. Auch die Spannung zwischen der Sowjetunion und China könnte dazu beitragen, die sowjetische Führung den Bewegungen in Osteuropa gegenüber zu schwächen.

Was die Vorbereitung dieser neuen Revolution betrifft, haben wir uns in jüngster Zeit gefragt, ob die Zukunft noch dem System der politischen Parteien gehört. Meine Freunde in der Tschechoslowakei sind zu dem Ergebnis gelangt, daß die alte Konzeption der revolutionären Partei unserer Situation nicht mehr entspricht. Lenins Theorie der Partei hat eine historische Rolle gespielt, doch sind wir der Meinung, daß für uns die Bewegung eine besser geeignete Organisationsform ist. Eine solche Bewegung würde eine gemeinsame ideologische Plattform haben, nicht aber die starre Struktur einer Partei. Ich bin überzeugt, daß die Triebkraft der Erneuerung des Sozialismus in unseren Ländern wahrhaft demokratische Massenorganisationen sein werden: Gewerkschaften, Arbeiterräte, örtliche Räte und andere Formen direkter Demokratie.

Aber es ist doch kein Widerspruch zwischen Arbeiterräten und Sowjets, als Organisationsformen des revolutionären Staates, auf der einen und revolutionären Parteien, die innerhalb dieser Institutionen agieren, auf der anderen Seite? Im Westen haben wir mit amorphen, dezentralisierten Bewegungen unsere Erfahrungen gemacht, und sie haben sich zumeist als undemokratisch und unwirksam erwiesen. Im Kontext eines Sowjets oder Arbeiterrates könnten politische Parteien dafür sorgen, daß politische Zielsetzungen und Programme klar formuliert werden; das würde bedeuten, daß solche Körperschaften sich nicht an Persönlichkeiten, sondern an der Politik orientieren. In diesem Sinn bilden politische Parteien doch sicherlich eine Ergänzung zu Institutionen der Volksmacht?

Nun, ich glaube, eine Bewegung könnte ebensogut ein politisches Programm entwickeln. Wissen Sie, es fragt sich nur, was man unter einer traditionellen politischen Partei versteht. Ich stimme ihnen zu, daß kein Widerspruch besteht zwischen demokratisch organisierten Parteien und Sowjets oder Arbeiterräten. Aber ich dachte vor allem an die bestehenden sozialistischen Länder und die bestehenden kommunistischen Parteien, die die gesamte Politik in stalinistischer Manier monopolisieren. Ich weiß, daß die Menschen in der Tschechoslowakei dieses System nie freiwillig akzeptieren werden. Alle diese Parteien sind mehr oder minder in der gleichen Weise organisiert und alle beanspruchen die Rolle der führenden Kraft in allen staatlichen Institutionen und Massen-Organisationen.

Eine demokratisch organisierte Partei würde ganz anders arbeiten und könnte nicht erwarten, automatisch als führende Kraft der Gesellschaft anerkannt zu werden; wenn sie auf eine solche Rolle Anspruch erhöbe, müßte sie sie erringen, indem sie das Vertrauen des Volkes gewänne. Sie müssen bedenken, daß die Revolutionäre in unseren Ländern es nicht mit einer kapitalistischen Sozialstruktur zu tun haben. In unserer Gesellschaft gibt es keine antagonistischen Klassen. Das heißt, wenn wir mehrere Parteien und Bewegungen hätten, würden diese nicht verschiedenen Klassenstandpunkten entsprechen; sie würden alle im Rahmen des Sozialismus arbeiten, aber verschiedene Auffassungen vom Aufbau des Sozialismus repräsentieren.

Zugleich dürften sie nicht so starr organisiert sein wie die traditionellen kommunistischen Parteien. Natürlich sind das nur meine persönlichen Vorstellungen, und wir müssen über diese Fragen noch gründlich diskutieren. Im Augenblick ist die Opposition nicht in Form einer politischen Partei organisiert, und das wäre vielleicht auch nicht zweckmäßig, wenn die Form einer Bewegung den Menschen mehr Vertrauen einflößt.

Es ist bemerkenswert, daß es heute in fast jedem osteuropäischen Land eine Opposition gibt. Sogar in der Sowjetunion gibt es, zum ersten Mal seit den zwanziger Jahren, Untergrundzeitungen und den Kern einer offenen Opposition. Glauben Sie, daß es zwischen der neuen Opposition, die jetzt auftaucht, und den oppositionellen Strömungen in den zwanziger und dreißiger Jahren Parallelen gibt?

Die Situation hat sich völlig geändert, also gibt es natürlich große Uhnterschiede. Die Sowjetunion nimmt heute in der Welt eine ganz andere Stellung ein, und die Gesellschaft als ganzes ist viel mehr entwickelt. Vielleicht gibt es gewisse Ähnlichkeiten.

Erstens richtete sich damals die Opposition gegen dasselbe System wie heute, gegen das stalinistische System — doch dieses befand sich damals in seiner Kindheit, heute steht es im Greisenalter. Der Unterschied ist schon deutlich erkennbar. Die Bürokratie ist nicht mehr so effektiv wie einst. Sie hat keine so klare Vorstellung davon, was sie will, sie vermag die selbstgestellten Aufgaben nicht zu erfüllen und ist einfach außerstande, alle ihre Gegner auszumerzen.

Die zweite Ähnlichkeit besteht darin, daß unsere Generation wieder das Gefühl zurückgewonnen hat, daß die Lage geändert werden kann. Die alten Revolutionäre, die alten Bolschewiki, hatten dieses Gefühl, weil sie bereits eine Revolution gemacht hatten. Das gab ihnen den Mut, für das, woran sie glaubten, zu kämpfen, trotz der Brutalität der Bürokratie. Heute empfinden wir wieder, daß eine Änderung möglich und notwendig ist und daß wir dazu beitragen können. Doch unsere Revolution liegt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft.

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