FORVM, No. 176-177
August
1968

Gemeinsames Unglück

Hromádka, 79 Jahre, Professor in Prag, ist protestantischer Theologe von Weltruf; seit der Oktoberrevolution und auch während der Stalinzeit ergebener Freund der Sowjetunion, Präsident der sowjetfreundlichen Christlichen Friedenskonferenz, Gründungsmitglied unseres Internationalen Komitees für den Dialog.

Herrn Cervonenko, Botschafter der UdSSR in Prag

Herr Botschafter!

Im Jahre 1958 wurde ich durch die Verleihung des Leninpreises für internationale Freundschaft und Frieden im Swerdlovsk-Saal des Moskauer Kremls geehrt. Es gibt in unserem Lande wenige Menschen, die dem Volke der Sowjetunion so echt ergeben waren wie ich. Unzähligemal weilte ich — auch mit meiner Frau — auf Einladung sowjetischer Freunde in Ihrem Lande. Ich habe eine lange Reihe von Freunden in der Friedensbewegung und in der russisch-orthodoxen Kirche in der Sowjetunion.

In den letzten Jahren war ich täglich durch das Gefühl beunruhigt, daß das alte Vor-Januar-Regime in unserem Staate die Liebe unseres Volkes zu der Sowjetunion abtötet, daß die Kommunistische Partei ihre Autorität verliert und daß die Struktur unserer sozialistischen Gesellschaft sich infolge der staatsmännischen, ökonomischen und kulturellen Unfähigkeit unserer Partei- und Staatsleitung in Auflösung befindet.

Der im Januar 1968 begonnene Erneuerungsprozeß bedeutete einen gewaltigen Versuch, die Autorität der Kommunistischen Partei zu stärken, die Verantwortung für den Aufbau des Sozialismus in unserem Volke zu erwecken, die Liebe zum sowjetischen Volk zu erneuern und die Sache des Sozialismus zu einer dynamischen Macht im internationalen Leben zu machen.

Es war mir bekannt, daß unser Prozeß in der Sowjetunion nicht richtig verstanden wurde. Auf meinen Reisen im Ausland wurde ich immer wieder gefragt, ob ich nicht eine sowjetische Intervention befürchte. Meine Antwort war aber, daß ich sie für unmöglich halte, da ich die staatsmännische Weisheit der sowjetischen politischen Führer hoch einschätze.

Aus diesem Grunde erlebe ich die Okkupation durch die fünf verbündeten sozialistischen Nachbarn um so schmerzlicher. Mein tiefstes Gefühl ist Enttäuschung, Leid und Scham. Es gibt in meinem Leben keine größere Tragödie als dieses Ereignis. Diesbezüglich bin ich in ähnlicher Weise erschüttert wie Alexander Dubček, der von seinen besten, liebsten Freuden — den sowjetischen Genossen — so tiefe Wunden erlitten hat. Ich befürchte, daß sich in unserem Volke etwas nicht Gutzumachendes abgespielt hat; der Verlust der Liebe und Verehrung für das sowjetische Volk läßt sich für lange Jahrzehnte nicht bewältigen. Der Bund der tschechoslowakisch-sowjetischen Freundschaft wurde zerstört. Es besteht die Gefahr, daß sich die Liebe unseres Volkes in Haß verwandelt und daß unsere nächsten Freunde als unsere Feinde erscheinen.

Die sowjetische Regierung hätte keinen tragischeren Irrtum begehen können. Es ist ein unermeßliches Unglück. Das moralische Gewicht des Sozialismus und Kommunismus wurde auf lange Zeit erschüttert. Nur ein unverzüglicher Abzug der Okkupationsarmeen könnte unser gemeinsames Unglück wenigstens teilweise mäßigen.

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