„Gerade dieses Volk ...“
Dolores M. Bauer: Israel/Palästina: Wenn aus Opfern Täter werden. Eine Textanalyse.
Das Buch der ehemaligen ORF-Reporterin Dolores M. Bauer: Israel/Palästina: Wenn aus Opfern Täter werden (Edition Va Bene, Wien- Klosterneuburg 2002) stellt sich als subjektiv-persönlicher Beitrag zu einem Frieden und mehr Verständnis im Nahen Osten dar. Es ist — milde gesagt — ein problematisches Buch. Bauers vermeintliche Friedensvision ist durchsetzt von unaufgearbeiteter NS-Schuld, Philo- und Antisemitismus, Ethnozentrismus (hier die Christenheit und das Christentum als dem Mittelpunkt der Welt), Verharmlosungen verschiedener Art, Teildarstellungen, Holocaustrelativierung, rassistischen und kolonialistischen Sujets und Sichtweisen und vor allem klarer Parteinahme für die palästinensische Seite insbesondere der palästinensischen Christen.
Wer sind die „Opfer“ und wer die „Täter“ in Bauers Buch? Bauer identifiziert sich klar mit den PalästinenserInnen und stellt die Juden/Jüdinnen bzw. Israelis als zu TäterInnen mutierte Opfer dar. Immer wieder werden Israelis und die Zahal (israelische Armee) mit den Nazis oder der SS verglichen. Dies geschieht durch Bauers Zitatmethode. Dazu später mehr. Auf S. 14 z.B. sieht sich ein traumatisierter Schoa-überlebender israelischer Offizier in einem Albtraum als SS-Offizier. Einige Zeilen weiter fragt sich Bauer dann, wie „die Enkel und auch schon die Urenkel der Opfer von gestern zu den Tätern von heute geworden sind.“ Selbstbezichtigungen werden in diesem Buch gezielt eingesetzt, denn sie dienen Bauers Sicht der Dinge. So z.B. sagt auf S. 18 ein israelischer Soldat, der im Libanon dienen musste: „Ich war ein guter Nazi.“
Der Vergleich israelischer Militäraktionen gegen palästinensische Zivilisten — so verwerflich sie sind — mit dem Nationalsozialismus und der Schoa ist unanständig, weil historisch revisionistisch. Er suggeriert, dass die Situation der europäischen Juden/Jüdinnen der 30er und 40er Jahre analog zur Situation der PalästinenserInnen der 80er und 90er Jahre (und umgekehrt) zu verstehen sei. Die Nazis planten die Vernichtung der Juden/Jüdinnen. Die Schoa war ein zentrales (wenn nicht das zentrale) Projekt des Nationalsozialismus. Nur wüsteste Feinde des Staates Israels behaupten, dass eine planmäßige Vernichtung der PalästinenserInnen das Ziel israelischer Politik sei. Wie sehr diese Behauptung in strukturellem Antisemitismus verstrickt ist, wird folgend klarer.
Jeder Vergleich mit der Schoa ist unzulässig. Er versucht, die Vernichtung der europäischen Juden/Jüdinnen zu entschärfen und die Gewalt des Nahostkonflikts hochzuspielen. Dies hat zur Folge, dass der/die Vergleichende (hier: Frau Bauer) den Holocaust nicht mehr ernst nehmen muss. Frau Bauer begeht in ihrem Buch eine Relativierung des Holocaust aus dem Motiv der Entschuldung heraus, eine Relativierung in einem revisionistischen Kontext zum Zweck einer Entschuldung der eigenen Person, der Gruppe und Nation, der frau selbst angehört.
Wenn weiters jemand mit Bauers sozio-historischer Disposition diesen Vergleich in deutscher Sprache trifft, erlaubt dies der deutschsprachigen „Beobachterin“ und ihrem Publikum, ihre historische Mitverantwortung an der Schoa zu vergessen und mit einem „Nu, Nu, Nu“ und katholischem Mitleid ihren Kopf herablassend entgegen den Staat Israel und „den Juden“ zu schütteln. Ist es Frau Bauer klar, dass solche Vergleiche (weil Manifestationen des Holocaust-Revisionismus) in Österreich strafbar sind und sich meist nur in rechtsextremen bis neonazistischen Medien befinden?
Bauer schreibt, dass das Land dem palästinensischen Volk heilig ist (S. 117), während sie gleichzeitig den Aufenthalt in und die Einwanderung nach Israel/Palästina durch Juden/Jüdinnen konsequent delegitimiert („wie vieles im Bereich des jüdischen Volkes eher in das Reich der Phantasie gehört“ S. 111). Im gesamten Buch erwähnt Bauer die Schoa und den europäischen Antisemitismus kaum, sodass ein/e LeserIn annehmen könnte, dass Juden/Jüdinnen einfach aus Witz oder Bosheit nach Erez Israel gegangen sind. Da stellt sich die Frage, welche historischen Quellen Bauer verwendet, wenn sie behauptet, „daß das palästinensische Volk seit mehr als 2000 Jahren unter Fremdherrschaft lebte“ (S. 75), und die Falangisten von den Israelis gegründet worden seien (S.83). Das folgende Zitat zeigt Bauers Geschichtsbewusstsein: „In den vierziger Jahren intensivierte sich der Kampf der militanten Siedler gegen die britische Kolonialmacht. Besonders taten sich paramilitärische Untergrundorganisationen ... hervor, die ... auch gegen die Palästinenser vorgingen ... Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mischten auch die USA mehr und mehr in der Palästinafrage mit, was den Zionisten nur recht sein konnte, denn sie wußten die Amerikaner auf ihrer Seite“ (S. 76-77). Die Schoa kommt nicht einmal in einem Nebensatz vor.
Offenbar muss sich Frau Bauer mit der Schoa nicht auseinandersetzen. Das folgende Beispiel auf S. 51 illustriert Bauers Sicht der Dinge wie kein anderes: „Da fragt man sich schon, wie es denn das geben könne, geben dürfe. Gerade in einer Zeit, in der allüberall von Entschädigung für Zwangsarbeit, für von den Nazis beschlagnahmtes Eigentum die Rede ist und mittels Sammelklagen durchgesetzt wird. Natürlich ist es eine Schande, da eine solche Entschädigung so spät und für viele zu spät geleistet wird. Gerade dieses Volk, dem so viel Leid angetan wurde, müßte aber wissen, was es heißt, vertrieben, enteignet zu werden, alles zu verlieren und das in vielen Fällen nicht nur einmal, sondern zwei- und auch dreimal im Leben. Wie soll man das verstehen?“ Bauer spricht also nur von Zwangsarbeit und Arisierung, nicht von Völkermord. Die Restitution wird der Republik Österreich von „diesem Volk“ also aufoktroyiert für Taten, die „die Nazis“ begangen haben. Bauer war auf der Welt, als Juden aus Österreich vertrieben und deportiert und hier ermordet wurden. Dennoch ist, was die Schoa anbelangt, ihr Blick eine tabula rasa. Außerdem zeigt diese Stelle wiederum, wie Frau Bauer mit der Opfer-Täter-Umkehr arbeitet: Juden/Jüdinnen hätten gefälligst aus ihrem Leid lernen sollen, aber haben es wohl zum Trotz nicht getan?
Bauer umgeht damit ihre eigene historische Situation, als eine 1934 in Österreich geborene deutschsprachige Katholikin. Für welches Publikum schreibt Bauer, wenn nicht für ein ebenso wie sie historisch befangenes, schambehaftetes deutschsprachiges Publikum? Bauer sieht sich als neutrale Beobachterin, doch ergreift sie immer wieder Partei für die Seite der PalästinenserInnen und versucht ihre Reportage als ausgewogen darzustellen, indem sie ab und zu beiläufig die Selbstmordattentate kritisiert. Israelis zitiert sie nur als „KronzeugInnen“, wie z.B. Uri Avnery, um zu zeigen, dass Juden/Jüdinnen ja selbst wissen, was sie Böses tun.
Anstelle neutral zu sein, ist Bauers Linie nicht nur voreingenommen, sondern kolonialistisch und von der Methode her eingeschränkt. Als Basis für ihre Aufenthalte in Jerusalem wählt sie stets das Österreichische Hospiz in Ostjerusalem, wo sie mit „Fremdheit“ ja nicht allzu sehr konfrontiert ist, und auch nicht mit jüdischen Menschen. Ihre israelischen und palästinensischen InterviewpartnerInnen sind zu einem Großteil deutschsprachig. Konsequent transkribiert Bauer arabische, hebräische, jiddische und sogar englische Termini falsch („Yaacob“ S. 17, „Gosh Etzion“ S. 52, „Stätl“ S. 111, „Bahata Salam“ S. 146, „Ta’ajush“ S. 147, „Rabbies for Human Rights“ S. 152, „Erez-Shabbat“ S. 162). Zu Zitaten ihrer jüdischen InterviewpartnerInnen weiß Bauer einleitend im Attribut immer auf deren jüdische Herkunft hinzuweisen („meiner lieben Freundin, einer alten aus Riga stammenden Jüdin“ S. 9, „der orientalische Jude“ S. 114, „einer amerikanischen Jüdin“ S. 82 usw.). Weiters versucht sich Bauer als Ethnologin jüdischer Erfahrung, wenn sie Kategorien wie „Diasporajuden„und „Reformrabbiner“ verstreut. Sie verwendet abwechselnd „Rabbiner“ und „Rabbi“, obwohl der letztere Begriff nicht Deutsch ist und eher respektlos klingt.
Sogar PalästinenserInnen werden von Bauers Liebe nach Kategorien nicht verschont. Auf S. 46 meint man, es spricht Leni Riefenstahl, wenn Bauer von einer palästinensischen Künstlerin schreibt „eine auffallend hübsche junge Frau ... schaute auf und ich blickte in große, orientalisch verzauberte Augen in einem schönen ebenmäßigen Gesicht. Das spürbar füllige Haar war unter einem strengen aber geschmackvoll gebundenen Tuch verborgen.“ Weiters nennt Bauer die Autorin und Biologin Sumaya Farhat-Naser aus Bir-Zeit „die Palästinenserin Sumaya Farhat-Naser“ (S. 132) nachdem selbige bereits oft im Buch vorgekommen ist und den LeserInnen bekannt ist.
Immer wieder bringt Bauer Verständnis für palästinensische Gewalt auf (S. 53). Auf S. 107 spricht sie z.B. von einem „fanatischen Selbstmörder“, was die Absicht dessen, dabei Juden/Jüdinnen zu töten, verwischt. Auf S. 23 spricht Bauer sogar von der „derzeit weltweit betriebenen Terroristenhatz.“
Bauers großes Augenmerk gilt der Christenverfolgung. Immer wieder verwendet sie Begriffe wie „christenrein“ (S. 163) und „palästinenserfrei“ (S. 133). Diese sind unschwer als Analogien zum NS-Terminus „judenrein“ erkennbar. In Bauers Buch geht es nicht nur um den Konflikt zwischen Israelis und den PalästinenserInnen, es geht auch um einen suggerierten Konflikt Juden/Jüdinnen gegen ChristInnen, in dem die Juden/Jüdinnen gemäß dem alten Stereotyp die blutlechzenden Bösewichte sind. Bauer zitiert sich selbst, als sie in einem Kabbalat Shabbat Gottesdienst fragte „Darf man denn töten am Shabhat?“ nachdem die Anwesenden vom Tod eines Soldaten und von Hamas-Mitgliedern erfuhren (S. 107). Anderl von Rinn lässt grüßen.
Das Buch ist kohärent ethnozentrisch — das Christentum und die Christenheit sind Bauers Blickmittelpunkt. Dies geht aus ihrer Behauptung hervor, dass Juden/Jüdinnen Jesus als Propheten verehrten (S. 9.) und muslimische Palästinenser denselben als einen Volksgenossen verstünden (S. 34). Manchmal kam es mir beim Lesen so vor, als ginge es darum zu zeigen, dass, würden Juden/Jüdinnen nur endlich ChristInnen werden und von ihrem unzivilisierten Tun ablassen, es endlich Frieden auf Erden — und vor allem im „Heiligen Land“ — gäbe. Ein Friedensabkommen sieht sie vielleicht als Resultat der Parousia (Wiederkehr Jesu).
Dieser Missionswunsch ist nicht einmal versteckt, denn Bauer berichtet auf S. 122 von einer Osterfeier, an der sie im Westjordanland teilnahm. Als die Betenden einander den Friedensgruß geben, schreibt Bauer: „Aus tiefen Herzen sagten wir einander, riefen wir dem Land und seinen Menschen den großen Shalom zu, den echten, den wahren Frieden, der den Menschen dieses Landes verheißen worden war, damals vor 2000 Jahren.“ Warum Shalom und nicht Salam, beten Christen in Bethlehem auf Ivrit? Es ist klar, dass Bauer nicht annimmt, dass sie auch nichtchristliche LeserInnen haben könnte. Sie zitiert das Neue Testament ohne Angabe und nimmt an, dass es dem/der LeserIn bekannt ist. So schreibt sie auf S. 30, dass bei Beit Sahour „der Friede auf Erden verkündet worden ist, wie es im Evangelium zu lesen ist.“ Nur ein Religionswissenschafter oder Theologe weiß, dass sie damit das zweite Kapitel des Lukas meint.
Schlussendlich berichtet Bauer von ihrem Versuch als Friedensbotschafterin, als sie palästinensische ChristInnen nach Österreich zu Vorträgen einlud. Viel mehr jedoch waren das Referate über die „Christen im Heiligen Land“, in denen ÖsterreicherInnen zu Solidarität mit diesen aufgefordert wurden. Viola Raheb, eine der Referentinnen, spricht auf Seite 193 von der „Kreuzigung Bethlehems“, womit alte anti-jüdische Stereotype von der Ermordung Jesu durch die Juden/Jüdinnen aktiviert werden.
Frau Bauer polarisiert mit ihrer Sprache und ihrem Kronen-Zeitung-Stil und teilt die Welt in Gut (Palästinenser/Christen) und Böse (Juden/Israelis). Auf dem Umschlag prangt eine israelische Flagge vor dem Hintergrund eines blutroten Himmels. Die Flagge verdeckt wiederum einen Teil einer palästinensischen. Bei genauerem Betrachten wird deutlich, dass eine weitere israelische durch die palästinensische Flagge hindurchscheint. Man erkennt einen grauen Magen David (Davidstern), der das Schwarz-Rot-Weiss-Grün verfremdet. Was beabsichtigt die edition vaBene (mit dem Motto „der Verlag, der sich was traut“, und in dessen Sortiment sich auch der Titel „Juden: Richter, Rächer, Renegaten“ befindet) mit so einem Bild?
Bauers Buch ist überdies von vielen Tipp- und Grammatikfehlern (z.B. ein Satz ohne Prädikat auf Seite 85 liest sich: „Und dann auch die Särge, immer wieder Särge, und noch immer Tränen, immer noch Schreie.“), eines sich wiederholenden Stils — Bauer verwendet, um israelische Soldaten zu beschreiben, mindesten dreimal „bis an die Zähne bewaffnet“ (z.B. S. 61) — und ihres umgangssprachlichen regionalen Wortschatzes („Fleckerlteppich“ S. 31, „gefrotzelt“ S. 34, „wurlten“ S. 154) geprägt.
Bauer zitiert aus vielen Interviews und auch aus Texten, jedoch fehlt dem Buch ein Quellenverzeichnis. Manchmal zitiert sie sogar ohne Namensangabe der/s Sprechers/in. Dies wiederum ist eine wichtige Methode des Buches; oft gibt Bauer ihre eigene Meinung nicht kund, aber stellt sie durch selektive Zitate nach dem Prinzip „cut and paste“ dar. Die Botschaft ist dann zwischen den Zeilen oder im Zitat versteckt. So z.B. weiß auf S. 31 eine namenlose „amerikanische Theologin“ zu behaupten: „Sehen denn diese Israelis nicht, daß sie mit solchen Schikanen Terroristen direkt produzieren? Ich könnte mir keine bessere Methode vorstellen, Terrorismus zu erzeugen, als wenn ich Menschen belästige und demütige — und das Tag für Tag.“
Es sind Stimmen wie jene Bauers, die in Deutschland und Österreich eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt in jüdischen Gemeinden sabotieren. Denn in diesem bereits historisch antisemitisch besetzten Kontext, in dem es immer wieder zu Ausbrüchen unaufgearbeiteter Judenfeindlichkeit kommt, müssen wir unsere ganze Energie investieren, dem in bestimmter Kritik der Rolle Israels im Nahostkonflikt versteckten Antisemitismus zu entgegnen bzw. ihn zu thematisieren. Das wiederum behindert die Artikulation und Unterstützung von Friedensstrategien (z.B. einer Zweistaatenlösung für Israel und die PalästinenserInnen) innerhalb der deutschsprachigen jüdischen Gemeinden. Frau Bauer blendet völlig aus, dass soziale Gerechtigkeit ein integrales Projekt jüdischer Tradition ist. Organisationen wie Rabbis for Human Rights und Ta’ayush kommen in ihrem Buch ja nur vor, um zu zeigen, dass es auch „gute Juden“ gibt. Wie so oft bestimmen in diesem Land eben Katholen, wer oder wie „a Jud is und wer ned.“
Beim Lesen von Frau Bauers Buch war ich am meisten von ihrer völligen Ignoranz über und fehlendem Respekt für jüdische Religion und Kultur betroffen. Es tut wirklich weh zu sehen, wie Mitmenschen in Österreich jüdische Erfahrung ignorieren und nichts dazu lernen wollen.