FORVM, No. 155-156
Dezember
1966

Gibt es Hundertwasser wirklich?

Auf den Spuren einer Saga

Man kann heutzutage, wie jeder weiß, nicht skeptisch genug sein, denn was wird einem nicht alles erzählt und was muß man nicht alles lesen. Wer glaubt noch an den Wert sogenannter Informationen? Über manche Persönlichkeit der Zeitgeschichte werden wir zu Tode informiert — am Ende sind sie unwirklich geworden wie ein Phantom, und man muß große Zweifel hegen, ob es sie auch wirklich gibt. Gibt es einen Barbarossa im Kyffhäuser, einen Fliegenden Holländer, einen Ewigen Juden? Sollten so seltsame Erscheinungen, wie der Herzog von Windsor, Salvador Dali, Sarah Churchill, Greta Garbo, Charles de Gaulle, alle nur als Beispiel genommen, tatsächlich existieren? Könnte es nicht gut sein, daß wir, die angeblich so Nüchternen im angeblich so technischen Zeitalter, uns eingesponnen haben in ein Netz von lauter Sagas, kollektiv erfunden wie jene Haus- und Volksmärchen, die zum archetypischen Grundstock unserer Vorstellungswelt gehören?

Wenn ich mir überlege, was ich über Friedrich Hundertwasser weiß, so ist das eine ganze Menge. Aber woher weiß ich es? Man hat es mir erzählt, flüsternd oder schenkelschlagend, in Wien, auch habe ich einiges bei Wieland Schmied gelesen, dem Statthalter Wiens an der Leine. Man hat mir Einzelheiten zugetragen, aus denen sich unversehens ein kraus-vertrautes Mosaikbild zusammengesetzt hat, dessen Einzelteile sich mit Worten wie Fakir, Schlangenbeschwörer, Zauberstab, Prophet, Vagabund, Eulenspiegel, Villon, 1001 Nacht, Bohèmien, Arithmetiker der Magie nur sehr roh umreißen lassen. Aber wie mir geht es, anscheinend, fast allen anderen auch, denn diese Worte habe ich sämtlich in Kritiken und monographischen Würdigungen gefunden. Genaueres weiß man anscheinend nicht. Kann man es mir, einem chronischen Norddeutschen, verdenken, wenn sich in mir der Verdacht regte, es könne sich bei Friedrich Hundertwasser um eine Phantasmagorie handeln, die sich die Stadt Wien kollektiv ausgedacht hat?

Die Sachlage ist folgende: Wien hat es seit je verstanden, den Zeitgenossen und Nachfahren die speziellen Bedrückungen, Ängste und Dämonien eines Zeitalters in Dur vorzuspielen, also genau das zu tun, was der angebliche Hundertwasser in seinen Bildern tut, selbstredend ins Optische übersetzt. Schon bei flüchtigem Aufenthalt in jener Stadt wird einem klar: wenn Wien heute in seiner Gesamtheit, wenn quasi der genius loci Wiens Bilder malen könnte, es würden Bilder entstehen, die denen Hundertwassers aufs Haar glichen. Mit anderen Worten: gäbe es Hundertwasser nicht, Wien wäre gezwungen, sich ihn auszudenken. Mit noch anderen Worten: warum sollte Wien ihn sich nicht ausgedacht haben? Phantasie genug ist in der Stadt vorhanden. Alle Indizien deuten darauf hin, daß es Hundertwasser, strenggenommen und vorsichtig gesprochen, nicht geben dürfte, zumindest nicht aus Fleisch und Blut.

„Die Verkündigung der frohen Botschaft“
Fritz Hundertwasser
Mischtechnik, 64 x 75 cm
Besitz Galerie Bärtschinger, Bern

In der Praxis erhärten sich diese Indizien fast bis zur Gewißheit. Man kommt nach Wien, kennt Hundertwassers Bilder, hat auch seine Manifeste in ihrer skurrilen Ernsthaftigkeit mit Beifall und Vergnügen gelesen. Man ist in Venedig, 1962, zur Biennale, immer wieder in den österreichischen Pavillon zurückgekehrt, der dort nicht eben zentral liegt, und nur wer die weitläufigen Kunst-Anlagen am Rio dei Giardini kennt, wird ermessen können, was das bedeutet. Jetzt möchte man ihn, Hundertwasser, Kulminationspunkt zeitgenössischer Kunstvorstellungen und Urheber kilometerlanger Gewaltmärsche, persönlich kennenlernen, doch da versagen selbst die offiziellen Stellen offizieller Gastfreundschaft, die sonst in Wien, wie ich mich überzeugen konnte, niemals versagen. Statt auf Hundertwasser stößt man auf die Hundertwasser-Saga. Sie wird gespeist aus unzähligen Quellen, in allen Ateliers bekommt man sie zugeraunt, Anekdote um Anekdote, Detail um Detail, wobei zunächst keines zum andern passen will, ein buntes Rankenwerk, wie man es sonst nur in manchen Bildern von Klimt findet und, eben, Hundertwasser, eine ständige Spirale inkarnatorischer Sublimesse, eine Dichtung, ein Labyrinth — hinter jeder Ecke vermutet man den Minotaurus, aber es findet sich nur eine neue faszinierende Einzelheit, die das ganze bislang erstellte Mosaik zu zerstören droht. Am Ende wird einem bewußt, wie vermessen es ist, das Unmögliche zu verlangen, eine Saga aus Fleisch und Blut.

„Zwei Biennale Blumen“
Fritz Hundertwasser
Aquarell, 28 x 47 cm
Besitz Siegfried Poppe, Hamburg

Sollte sich Wien Hundertwasser ausgedacht haben, dann genial, wenn auch — gottlob! — nicht perfekt. Einigkeit besteht über sein Geburtsdatum, den 15. Dezember 1928, ferner über seinen Geburtsnamen: Stowasser. Aber schon dann verlieren die diversen Erzähler alle Spuren, die in Zukunft an allen Ecken und Enden der Welt wieder zum Auftauchen gebracht werden. Hundertwasser reist wie weiland Klee, Macke, Molliet nach Tunis, hüllt sich seitdem in einen Burnus und zieht arabische Musik allen anderen Klängen akustischer Art vor. Er lebt vorzugsweise von Mineralwasser, in das er Rosenblätter tunkt, sowie von Endiviensalat und Brunnenkresse. Man schildert ihn als abstinent und omnipotent. Er heuert auf einem estnischen Schiff an, das unter liberischer Flagge fährt. Seine Schuhe schneidet er aus Rindsleder, unförmig, „aber praktisch und warm“, wie Wieland Schmied, sein Haupt-Chronist, versichert. Er hat ein Schloß in der Normandie, La Picaudière, das er mit einem atomsicheren Bunker versieht. Er reist nicht gern, befindet sich aber plötzlich in Japan, von wo er seine Frau mitbringt sowie feine Bambuspinsel, zarter und zerbrechlicher als Eßstäbchen, mit denen er hinfort selbst seine größten Bilder fertigt. Er taucht sogar hin und wieder an Kunstschulen und Akademien auf, an denen er aber, ganz wie Till Eulenspiegel, Eulen und Meerkatzen bäckt. Seinen Anfang kennzeichnen Hunger und Armut; trotzdem verläßt er die Wiener Akademie der bildenden Künste nach drei Monaten, die Pariser École des Beaux-Arts nach einem Tag. Später wird er reich oder doch beinahe reich, läßt sich einen Bart stehen, zu dem er passende Kimonos trägt. Und die Hochschule für Bildende Künste der Freien und Hansestadt Hamburg muß er verlassen, als er, ein Gastdozent, das Gesicht des ehrwürdigen Instituts umzuwandeln trachtet, indem er ein Spiraloid aus seinem Atelier quer durch den ganzen Bau zieht und im Keller Schimmelpilzkulturen züchtet. An seinem Weg blühen Skandal und esoterische Sanftmut, glühende Bekenntnisse und mönchisches Abkapseln in die Arbeit. Er paßt in keinen Rahmen, nicht in den der Wiener Schule neo-surrealen Zuschnitts und schon gar nicht in den des abstrakten Tachismus. Trotzdem profitiert er von beiden, ist neo-surreal und abstrakt. Künftige Forscher werden ihn vermutlich als eine Quintessenz aus vielen gleichzeitigen Lebensläufen der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts definieren, als ein prototypisches Erzeugnis aus Wunsch, Traum und gesellschaftlicher Voraussetzung.

Aber da sind die Bilder. Auch sie, wenn man so will, eine Symbiose aus vielen, freilich nicht den üblichen Ingredienzien. Sie vereinen keineswegs, wie sonst üblich, Dinge, die in der Luft liegen, sondern sie legen Dinge in die Luft. Seit Hundertwasser 1952 die Spirale als ihm gemäße Ausdrucksform entdeckte, windet sie sich zu bunten Ornamenten, die an die Überflüssigkeiten des Jugendstils ebenso erinnern wie an die absolute Notwendigkeit der Architektur. Die Spiralen sind gebaut und verspielt zugleich, exakte Topographien des bewußten Unbewußten. Ihre Bilderbuchfarben haben Märchencharakter, sie verstecken sich mitunter hinter orientalischen Masken, verleugnen aber niemals ihr Herkommen, Wien, Europa. Ihre kindlich-altkluge Naivität stellt zugleich ein Non plus ultra an formaler und farblicher Raffinesse dar, aber das gleiche gilt auch umgekehrt. Russische Zwiebeltürme und gotische Dome finden sich unversehens zum Krikelkrakel transponiert. Menschen figurieren als Ornament, Ornamente werden zur Landkarte, Landkarten gleichen archaischen Erinnerungen, Archaik setzt sich um in zwiespältige Moderne und moderner Zwiespalt sublimiert sich in der Handschrift eines Kindes, das ein großer Künstler ist (oder wiederum umgekehrt). Gleich bleibt nur die Perspektive. Es ist die der Aufsicht, des Vogelflugs, der Zweidimensionalität. Dies vielleicht das Geheimnis der Spiralform. Sie läuft zweidimensional ineinander und verkörpert doch ein architektonisches Prinzip.

„Arkadenhaus und gelber Turm“
Fritz Hundertwasser
Aquarell, 124 x 90cm
Besitz Shinichi Tajiri, Kastel Scheres, Baarlo

Denn Architektur, von vornherein dreidimensional, bedeutet Hundertwasser alles. „Die Architektur unterliegt bei uns derselben Zensur wie die Malerei in der Sowjetunion“, behauptet er, womit er, übers Ziel hinausvisierend, doch mitten hinein ins Schwarze trifft. „Was realisiert ist, sind einzeln dastehende erbärmliche Kompromisse von Linealmenschen mit schlechtem Gewissen.“ Der „totalen Unbewohnbarkeit‘‘ moderner Städteplanung setzt er — in seinem berühmten „Verschimmelungsmanifest“ — das Schöpfertum des Abgenutzten, Unrationellen, Vergammelten entgegen. „Die gerade Linie ist keine schöpferische, sondern eine reproduktive Linie. In ihr wohnt weniger Gott und menschlicher Geist als vielmehr die bequemheitslüsterne, gehirnlose Massenameise. Wenn sich an einer Rasierklinge der Rost festsetzt, wenn eine Wand zu schimmeln beginnt, wenn in der Zimmerecke Moos wächst und die geometrischen Winkel abrundet, so soll man sich doch freuen, daß mit den Mikroben und Schwämmen das Leben in das Haus einzieht und wir Zeugen von architektonischen Veränderungen werden, von denen wir viel zu lernen haben.“

„Wenn ich etwas hasse“, sagt Dali, „dann das Einfache.“ Das haßt Hundertwasser auch, wie er das Geometrische haßt, das Konstruierte, das Unbelebte, das Unbewachsene, Unverkommene. Trotzdem haben seine Bilder Sauberkeit. Seine Mikroben und Schwämme sind wohlgeduscht wie amerikanische Collegestudenten. Seine Vergammelungen, eher geistiger Natur als materieller, scheinen ebenfalls spiralenförmig angeordnet. Bei dem mysteriösen Hundertwasser kreist eines ins andere, und das jeweilige Gegenteil ist auch immer richtig. Ein perfekter Mythos, dessen kleine Fehler ihn nur noch perfekter machen. Welcher einzelne sollte solche Bilder malen, solche Forderungen erheben können?

„Zwei gelbe Hüte und vier Köpfe in der Prärie“
Fritz Hundertwasser
Mischtechnik, 33 x 41 cm
Besitz Karl Flinker, Paris

Ich muß zum Schluß ein ganz belangloses persönliches Erlebnis erzählen.

1964, „documenta III“, Kassel. Beim Eröffnungsempfang gesellt sich plötzlich ein junger Mann in den Kreis mit deutlich wienerischem Akzent, freundlich, zuvorkommend, mit einem beneidenswerten Tailormade bekleidet. Rund fünf Minuten lang wird eines der vernünftigsten Gespräche geführt, denen ich in meinem bisherigen Leben lauschen durfte. Dann verschwindet der Unbekannte im Gedränge.

Die Frage liegt auf der Hand: „Wer war der nette Herr?“

Die Antwort auch: „Den kennst du nicht, aber hör’ mal, das war doch ...“

Es steht 99 gegen 1, aber am Ende verlaufen alle Legenden eher unbemerkt als mit einem Gongschlag, und es kann doch sein, daß es Hundertwasser wirklich gibt.

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