FORVM, No. 119
November
1963

Gibt es Werktreue in der Musik?

Über die Unterschiede von Interpretation und Wiedergabe

Es herrscht heute eine gewisse Scheu, Grundfragen musikalischer Wiedergabe zu erörtern. Dabei zieht man sich behaglich auf das Argument zurück, derlei sei dem Geschmack überlassen — als ob ein Kunstwerk kein objektiver Tatbestand und seine Darstellung nicht an ihm meßbar wäre. Man hält sich an „Auffassungen“, wobei offen bleibt, was eigentlich „aufgefaßt“ wird. Nur danach wird gefragt, was der Interpret aus der ihm anvertrauten Musik macht, nicht aber, was mit ihr selbst geschieht. Sie bleibt zumeist auf der Strecke, aber ihr Schicksal interessiert nur die wenigsten.

Schuld daran mag zum Teil die Übersättigung des Musikbetriebes mit den approbierten Standardwerken sein. Der Konzertabonnent, der jahraus jahrein seine „Fünfte Beethoven“ und „Sechste Tschaikowsky“ konsumiert, möchte es sich freilich nicht eingestehen, daß er deren ein wenig überdrüssig ist; täte er es, so könnte er vielleicht die Neugier nach vielem, was ihm vorenthalten wird — sei es zeitgenössische Musik oder auch nur eine der zahlreichen Haydn-Symphonien, die ihm genauso unbekannt sind wie den Dirigenten —, nicht länger im Zaum halten. Als Kompensation verlangt er aber, seine „Fünfte“ jedesmal auf eine andere Art zu hören: daher auch der Zwang für fast jeden Musiker, der Karriere machen will, eine persönliche Note in seine Wiedergabe hineinzutragen, um nur nicht in den Verdacht zu geraten, es mangle ihm an individueller Sicht und er habe nichts weiter getan, als schlicht Beethoven aufgeführt.

Dabei weiß der Hörer nicht, daß er ein wenig betrogen wird. Die Verschiedenartigkeit dieser „subjektiven“, „eigenwilligen“ Auffassungen berührt im Grunde nur die Oberfläche; sie sind sich in ihrer „Eigenwilligkeit“ letztlich in hohem Maße ähnlich, sobald man die Relation zum dargestellten Werk untersucht. Der emsige Besucher von Konzerten wird vermeinen, die Vierte Symphonie von Brahms gut zu kennen; was er aber kennt, ist nicht die Vierte Symphonie von Brahms, sondern eine Dirigentenversion. Gewiß, der eine nimmt sie elegisch, der zweite pastoral, der dritte besinnlich, der vierte heroisch — all das wird als bedeutungsgeladenes Kennzeichen einer „Interpretation“ registriert und gewertet. Aber an zahllosen Beispielen ließe sich nachweisen, daß die elegische Auffassung genau auf die gleiche Weise gegen den Geist der Musik verstößt wie die heroische oder die pastorale. Im H-Dur-Teil der Exposition gibt es eine Passage, bei der prinzipiell das Tempo abrupt verlangsamt wird. Irgendein Dirigent hat mit diesem Unfug begonnen, und inzwischen ist er Tradition geworden. Unfug deshalb, weil ohne ersichtlichen Grund eine acht-taktige Phrase zerhackt und damit der Formverlauf unkenntlich gemacht wird. Denn wer die Partitur nicht kennt, ahnt nicht, daß die Streicher, die da unvermittelt einen Adagio-Gesang anstimmen, laut Brahms die von den Holzbläsern begonnene Linie weiterführen sollen.

Shaw sagte einmal, hätte er sich auf die Interpretation und nicht auf das Studiurn der Partituren verlassen, so wäre seine Kenntnis großer Musik höchst ungenügend geblieben. Der Laie ist in einer noch viel mißlicheren Lage. Er kann nicht in den Noten nachlesen, was der Komponist hinterlassen hat; er ist der Willkür jener, die ihm die Musik vermitteln sollen, preisgegeben. Das Unheil — immer vom Laien aus gesehen — dürfte weniger groß sein, wenn einer Shakespeare verunstaltet, sei es ein Regisseur, seien es Flatter oder Rothe, denn jedermann kann die Texte nachlesen und sich selbst ein Bild vom Original machen — oder wenigstens an Hand der Schlegel-Tieck’schen Übertragung. Bei der Musik aber muß, wer keine Noten kennt, dem Interpreten Glauben schenken. Wer ein Ohr für konstruktive Zusammenhänge hat, wird vermutlich bei der zitierten Passage meinen, Brahms habe für einen Augenblick zu komponieren aufgehört und ein wenig Hildach imitiert; keinesfalls könnte dieser Eindruck entstehen, würde die Stelle sinngemäß gespielt werden: die Streicher müßten den Faden von den Holzbläsern übernehmen und nun die Linie in kaum merklichem Crescendo — anstatt des üblichen Decrescendo nach dem scheinbaren Höhepunkt — zu Ende führen.

Zwei weitere Beispiele aus der selben Symphonie mögen den Unterschied zwischen Wiedergabe und Interpretation illustrieren. Jeder Konzertbesucher weiß, daß es im Final-Satz, der Passacaglia, eine längere Adagio-Episode gibt. Er weiß jedoch nicht, daß Brahms hier weder ein Adagio noch eine Episode geschrieben hat, sondern einen strikt dem Gesamtgefüge eingeordneten und mit ihm eine Einheit bildenden Mittelteil. Er weiß es höchstens, wenn er zufällig einmal eine Aufführung unter Toscanini gehört hat, der das Grundtempo des Satzes wahrte und ein genaues Bild dessen vermittelte, was Brahms hier geschaffen hat. Dieser tat ein übriges und schrieb sogar ausdrücklich gleiches Tempo für den Mittelteil vor; aber die schöpferische Tat der Interpreten besteht darin, solche Anweisungen „auszudeuten“, anders gesagt: zu ignorieren. Wenn Toscanini die Anmerkungen des Komponisten befolgte, so nicht aus Buchstabentreue, sondern aus der Einsicht, daß die Anweisung ihren Sinn hat. Einzig bei ihm kommt denn auch plastisch heraus, daß Brahms im gleichen Zeitmaß einen anderen Zeitverlauf geschildert hat: Das Thema der Passacaglia ist acht-taktig; es bleibt in dieser Form auch im Mittelteil erhalten, nur daß die Taktlänge sich verdoppelt. Das bedeutet nichts anderes, als daß Brahms die Verlangsamung auskomponiert hat. Wird diese aber durch den Interpreten noch einmal verlangsamt, so geht in solchem Pleonasmus unter, was Brahms mit genauer Überlegung errichtet hat.

Der Hörer erfährt nicht, was der Komponist getan hat, sondern nur, was er tun wollte; er erfährt etwas von einem ruhigeren Bewegungsverlauf, der aber nicht der Brahms’sche ist; der „Interpret“ bringt nur die Intention des Komponisten zur Kenntnis, nicht aber die — wirklich meisterhafte — Verwirklichung dieser Intention. So erweckt er den Anschein, das Beabsichtigte sei nicht gelungen und er, der Interpret, müsse dafür Sorge tragen, daß der Hörer — durch das simple Mittel eines langsameren Tempos — den gewünschten Eindruck erhält. Toscanini hingegen war offensichtlich zur Feststellung gekommen, daß hier bereits etwas gelungen sei; er betrachtete es nicht als seine Aufgabe, von sich aus etwas hinzuzutun, sondern wollte die Komposition zum Erklingen bringen und ihren Reichtum an Beziehungen und Verflechtungen demonstrieren.

Ein letztes Beispiel, ebenfalls aus dem Mittelteil der Passacaglia: es erscheint da gegen Schluß in den Posaunen eine neue Variation, diesmal in E-Dur. Brahms hat genaue Phrasierungsangaben gemacht: er verlangte ein Portato, also keine Bindungen, sondern kurzes Absetzen der einzelnen Töne. Statt eines Portato hört man allgemein ein Legato, dazu, in nochmals verlangsamtem Tempo, ein dick aufgetragenes Espressivo. Das Resultat ist eine kuriose Mischung aus Choral und Heimatlied, und wenn sensible Hörer diese Stelle als banal bezeichnen, so ist das verständlich; nur hat Brahms etwas völlig anderes komponiert. Es handelt sich in Wirklichkeit weder um einen Choral noch um ein Heimatlied, sondern um eine Sarabande, und Brahms hat diese barocke Tanzform nicht nur sinnvoll in den Rahmen der Passacaglia eingefügt, sondern auch ihre klangliche Gewandung übernommen: mit Vorliebe wurden im 17. Jahrhundert die Tanzsuiten für Bläserensembles eingerichtet, insbesonders für Posaunenterzett mit Cornett als Diskantinstrument. Spielt man diese sechzehn Takte so, wie Brahms sie notiert hat, in flüssigem Tempo, mit Portato, unter genauer Beachtung der Pausen, ohne Tremolo und in leichtem Piano-Ton, dann erhält die Passage ihren Sinn, und wer sie unter Toscanini gehört hat, wird kaum noch von Banalität sprechen können.

Vergleicht man diese Wiedergabe mit den üblichen, etwa der Furtwängler’schen, so wird evident, daß sich hier nicht zwei „Auffassungen“ gegenüberstehen; und wenn ja, dann nicht von der gleichen Sache. Es ist durchaus möglich, daß Furtwängler auf Grund irgendwelcher Überlegungen zu der Ansicht gekommen war, Brahms habe hier beabsichtigt, einen Choral zu schreiben. Daß ihm unter der Hand eine Sarabande daraus wurde, spielt dann keine Rolle mehr; Furtwängler bringt die Passage so zur Darstellung, wie sie möglicherweise ausgesehen hätte, wenn Brahms nicht von seinem ursprünglichen Plan abgegangen wäre. Toscaninis Aufführungen hingegen basieren auf der Voraussetzung, daß Brahms tat, was er tun wollte, und daß die resultierende Komposition einem gezielten Wunsch entspricht.

Ist es wirklich eine vermessene Forderung an die Interpreten, daß die Anweisungen der Komponisten wörtlich genommen werden müssen? Wenn Mahler an einer Übergangsstelle im ersten Satz der „Sechsten“ ausdrücklich „Gleiches Tempo“ vorschreibt, so sei die vorwitzige Hypothese gewagt, daß er sich das gleiche Tempo wünschte. Die meisten Dirigenten deuten diese Worte im Sinne von „Wesentlich langsamer werden“ und handeln danach. (Rosbaud wäre hier als rühmliche Ausnahme zu nennen.) Es ist demnach auch kaum verwunderlich, daß bei den ohnehin seltenen Aufführungen der Dritten Symphonie Mahlers zwar im Eingangssatz durchweg — vielleicht aus einem Mißverständnis des in gewissen Aspekten durchaus rhapsodischen Verlaufs — mit einem Höchstmaß an Unpräzision gespielt wird, genau dort aber, wo diese aus bestimmten Gründen gefordert wird, plötzlich alles stimmt: bei Ziffer 20 verselbständigt sich die Piccolo-Flöte vom übrigen Orchester, sie soll zuerst accelerieren und dann „ohne Rücksicht auf den Takt“, also quasi in einem eigenen Tempo, spielen — ein kühner Vorgriff auf spätere polymetrische Strukturen. Diese Stelle wird jedoch regelmäßig mit äußerster rhythmischer Exaktheit dargebracht, so daß genau das Gegenteil dessen eintritt, was Mahler gewollt hat.

Schon vorher, zuerst wohl bei Berlioz und dann bei Wagner, findet man Klangwirkungen zwar anderer Art, bei denen aber auch ein gewisses Maß an Ungenauigkeit einkalkuliert ist. In der ersten Tenor-Arie aus „Damnation de Faust“ stehen in den Violinen Triolen gegen Vierergruppen, die nicht isoliert gehört werden sollen, sondern als undeutliches Gemisch, als vielfaches Vibrato, in heutiger Terminologie „aleatorische Modulation“ genannt. Für einen analogen Klangeffekt hat Wagner im „Feuerzauber“ des letzten „Walküre“-Aktes ein anderes Verfahren angewendet. Er schrieb eine Figur, die selbst von einem erstklassigen Geigerchor nicht völlig sauber und korrekt ausgeführt werden kann; indem er diesen Unbestimmtheitsfaktor in die Komposition einbezog, gelang es ihm, das Flackern und Flimmern der Lohe wesentlich eindringlicher durch Klangmischungen nachzuzeichnen als mit einem normalen Tremolo. Dies — eins der vielen Beispiele für Wagners außerordentlichen Farbensinn — kommt natürlich bei den heute beliebten, zeremoniell gedehnten Tempi nicht mehr zum Ausdruck; denn in langsamer Bewegung läßt sich jene Figur ohne Mühe in aller Präzision ausführen, und dann wird ausnahmsweise deutlich, was gerade undeutlich sein soll: man hört Sechzehntel, aber keinen Feuerzauber.

Damit ist freilich schon an Probleme gerührt, mit denen sich kaum ein Dirigent auseinandersetzt: was klar hervortreten soll und was nur klangliche Legierung ist, in welchem Maße die Individualität der Instrumente hervorgehoben oder zum Verschwinden gebracht werden soll, wie man „Füllstimmen“ Profil gibt, wie man auch das Nebensächliche noch artikuliert, ohne es zur Hauptsache werden zu lassen, wie die Gesamtwirkung des Klanges in Erscheinung treten kann, ohne daß die Details verschwimmen, und wie man umgekehrt die Details hörbar macht, ohne daß die Klangmischung darunter leidet — all dies sind Dinge, die wahllos dem Zufall preisgegeben werden und die im gegenwärtigen Musikbetrieb, der gerade noch Zeit für kurze Verständigungsproben läßt, gar nicht erst in Betracht gezogen werden können. Der Dirigent soll ja, allgemeinen Ansprüchen zufolge, seine „Auffassung“ kundtun; daß es eigentlich seine Aufgabe wäre, so etwas wie Klangregie zu betreiben, ist längst vergessen.

Wenn überhaupt noch mit dem Begriff der Werktreue operiert wird, dann meist am falschen Ort. Musik des 17. und 18. Jahrhunderts kann mit sklavischem Kleben am Notentext, wie es heute üblich ist, nicht bewältigt werden. Damals existierte tatsächlich noch jene Freiheit, die heutige Interpreten ungerechtfertigt für sich in Anspruch nehmen; sie beruhte nicht auf Konventionen, sondern war der Musik inhärent. Die Rubati, mit denen durchweg die Musik des 19. Jahrhunderts belegt wird, hätten eher Platz in Werken des Barocks, die statt dessen asketisch abgehobelt werden. Die Choräle in den Bach’schen Kantaten und Passionen a cappella singen zu lassen, ist genauso stilwidrig wie die öde Manier der Tonwiederholungen an Phrasenenden, die wohl so notiert sind, in Wirklichkeit aber Vorhaltsbildungen darstellen. Ohne genaue Kenntnis der Ornamentik jener Epoche dürfte es sinnlos sein, an solche Musik überhaupt erst heranzugehen. Der Purismus feiert Triumphe immer dort, wo Nebensächlichkeiten in den Vordergrund gestellt werden können. Bei ganz alter Musik nimmt man Trummscheit, Rankett und Krummhörner zur Hand, bläst in weihevoller Andacht heitere Chansons herunter und glaubt, auf den ewig verstimmten und näselnden Instrumenten irgend etwas von der Kunst jener Zeit zu vermitteln. Dabei war die klangliche Realisierung mit gutem Grund freigelassen, und mit ebenso gutem Grund starben all diese Instrumente sehr bald aus. Nicht wie Josquin Desprez damals aufgeführt wurde, kann heute von irgendwelchem Interesse sein, denn von jedem Stück waren zahlreiche Versionen möglich; hingegen wäre es eine lohnende Aufgabe, seine Musik lebendig zu machen, indem man deren Struktur mit modernen Klangmitteln verdeutlicht.

Wie sehr sich der Purismus genau an falscher Stelle breitmacht, zeigt die Diskussion um das neue Bayreuth. Niemand nimmt Anstoß an den Eigenmächtigkeiten der musikalischen Wiedergabe. Verwandelt sich ein Piano in ein Forte, so gilt das als „Auffassung“, werden musikalische Phrasen erbarmungslos zerhackt, werden anstatt der vorgeschriebenen Tonhöhen seltsame Glissandi von unten her gesungen, so wird das von niemandem beanstandet. Aber wehe, man tastet die Regieanweisungen Wagners an. Hier taucht plötzlich das Schlagwort von der Werktreue mit einer Beharrlichkeit auf, die in anderen Zweigen der Aufführungspraxis weit mehr angebracht wäre. Mit den Partituren kann man nach Belieben verfahren; aber was Wagner mit den unzureichenden Mitteln von 1876 auf die Bühne stellte, das allein ist heilig.

Jeder Darstellungsstil, und das gilt gleichermaßen für Musik wie für die anderen Künste, kann nur mit den allermodernsten Mitteln arbeiten — vorausgesetzt, er will sich in eine lebendige Beziehung zu seinem Objekt stellen. Werktreue wird zum Verrat am Werk, wenn sie historisierend begriffen wird, sie hat ihren Sinn nur aus der Perspektive eines fortgeschrittenen Bewußtseins. Insofern sind Wieland Wagners Inszenierungen tatsächlich die ersten „werkgetreuen“. Sie gehen von der Sache aus und nicht von peripheren Erscheinungen, welche heute einzig zu interessieren scheinen.

Aus der Analogie mit den Problemen des szenischen Darstellungsstils läßt sich noch einiges für unsere Fragestellung ableiten. Wenn das Sprechtheater als Institution trotz allen zugestandnen Mängeln auch heute noch lebendig ist, so einzig deshalb, weil es sich nie der jeweils zeitgenössischen Produktion versperrt hat. Wäre alles, was an wichtigen Dramen seit Hebbel geschrieben wurde, dem normalen Spielplan ferngehalten worden und gelegentlichen „Studio“-Veranstaltungen vorbehalten geblieben, so wäre der Theaterstil vermutlich noch heute von der „Meiningerei“ geprägt. Jede Generation von Autoren revolutioniert nicht nur die Theaterdichtung, sondern auch das Theater selbst; fordern die Stücke Becketts, Ionescos oder Genets einen neuen Darstellungsstil, so kommt dieser auch den „Klassikern“ zugute, denen so das Schicksal erspart bleibt, zu Denkmälern zu erstarren.

Wie es demgegenüber mit der Musikausübung steht, braucht nicht erst in Erinnerung gerufen zu werden. Keine noch so raffinierte Sophistik kann die Tatsache ignorieren, daß Beethoven und Wagner nicht weniger als Shakespeare und Schiller der ständigen Erneuerung bedürfen. Kunstwerke, die wirklich zählen, erweisen ihre „ewig-gültigen“ Werte, um ein ebenso gängiges wie stupides Cliché zu verwenden, genau daran, daß sie sich ewig-gültigen Maßstäben verschließen und statt dessen von Epoche zu Epoche neue und ungeahnte Aspekte eröffnen. Sie müßten jeder Generation in anderem Licht erscheinen; dem Publikum können solche Erfahrungen aber nur durch eine jeweils „moderne“ Interpretation vermittelt werden. Werkgetreu wäre demnach am ehesten eine Wiedergabe zu nennen, die es zehn oder zwanzig Jahre später nicht mehr ist: dies hat nichts mit Modegeschmack zu tun, sondern ausschließlich mit dem jeweiligen Stand der kompositorischen Mittel und den rückwirkenden Erkenntnissen, die sie zutage fördern.

Den Komponisten der Vergangenheit kann man nicht gerecht werden, wenn man die Gegenwart ignoriert. Dann gibt es nichts zu erforschen, nichts zu entdecken; nur noch zu bestätigen, was längst bekannt und deshalb nicht mehr wahr ist. Was einmal kühn gegen Konvention verstieß, erhält so den Anstrich des Braven, Biederen; was immer von neuem seine Aktualität erweisen könnte, wird ins Museum relegiert. Gewiß mag nicht nur im Schauspiel, sondern auch in der Musik der Interpretationsstil einige Wandlungen durchgemacht haben; wurden sie aber dort durch die jeweils neue Produktion geprägt, so fallen sie hier kaum ins Gewicht, weil sie sich abseits der eigentlichen kompositorischen Entwicklung vollzogen. Diese allein aber kann unsere Kenntnis von den Kunstwerken der Vergangenheit erweitern. So bringt die Mehrzahl heutiger Beethoven-Interpretationen keine neuen Ausblicke auf Beethoven, sondern bestenfalls neue Ausblicke auf die Interpreten, wenn nicht deren Eigenheiten ohnehin längst vertraut sind.

Werktreue erweist sich demnach schon an dem Maß, in dem bewußt gegen Hörgewohnheiten musiziert wird; sie richtet sich sowohl gegen die Vorstellung von Musik als Ohrenschmaus wie auch gegen Traditionen der Aufführungspraxis; sie erweitert unsere Kenntnis früherer Kunst, indem sie diese in Bezug zur heutigen setzt und ihre Aktualität demonstriert.

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