MOZ, Nummer 42
Juni
1989

Hinrichtung eines Poeten

Der kolumbianische Guerillaführer Afranio Parra wurde im vergangenen April von der Nationalpolizei seines Landes entführt und ermordet, nachdem er auf Anordnung des Oberkommandierenden der „Bewegung 19.April“, Carlos Pizarro, nach Jahrzehnten aus dem Untergrund in die Öffentlichkeit zurückkehrte. Afranio Parra, nicht nur Guerillero der ersten Stunde und unermüdlicher Aktivist in Volksbewegungen, war in seinem engen Umkreis auch als Autor von Kurzgeschichten und als Maler geschätzt.

Am Abend des 6. April wurde in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotà Afranio Parra, Mitglied der nationalen Leitung der „Bewegung 19. April“ (M 19), zusammen mit zwei weiteren Aktivisten dieser Guerillaorganisation von Angehörigen der Nationalpolizei entführt. Einen Tag später wurden die drei auf einer Müllhalde etwas außerhalb der Stadt tot aufgefunden. Ihre Körper wiesen noch die Spuren der in der kurzen Haftzeit erlittenen Mißhandlungen auf. Wenige Tage darauf übergab der Generalinspektor der Nationalpolizei drei Polizisten einem Richter und schloß sie aus der Polizei aus, um die Verantwortung seiner Institution an der Ermordung der M 19-Mitglieder abzuwälzen. Es war nämlich sofort bekanntgegeben worden, daß einige Polizisten die drei Männer festgenommen hatten, und so war eine Schuldzuweisung an anonyme Todesschwadronen oder an „interne Auseinandersetzungen innerhalb der Guerillabewegungen“, wie die offiziellen Stellen oft solche Vorfälle interpretieren, nicht möglich.

Afranio Parra war in einigen Provinzen Südkolumbiens — in Tolima, Huila, Valle und Cauca — bereits zu einer legendären Figur geworden. Parra, vor etwa 45 Jahren im Dorf Libano im Departement Tolima geboren, trat schon als Jugendlicher in die Guerilla ein, in der Zeit des Bürgerkrieges, in dem eine immer stärker werdende Aufstandsbewegung die mit Unterstützung der Liberalen und der Konservativen Partei an die Macht gekommene Militärdiktatur des Generals Rojas Pinilla bedrohte. Gleich nach der Gründung der M 19 im Jahre 1974 wirkte er in der Führung der Bewegung mit, trat jedoch nie groß an die Öffentlichkeit, da er die Arbeit an der Basis, in den Elendsvierteln der Großstädte und am Land, vorzog. Im Blickpunkt der nationalen Öffentlichkeit zu stehen, war dem bescheidenen Guerillaführer fremd und zuwider. Ende der 70er Jahre eingesperrt, kam Parra 1982 durch die Amnestie des neuen Präsidenten Belisario Betancur wieder frei. Seinen Aufenthalt im Gefängnis hatte er unter anderem genützt, um das Malen zu lernen.

Die Erzählungen von Afranio Parra kursieren bis heute nur in kopierter, loser Form. Wir veröffentlichen im folgenden die Geschichte, wie der kleine Afranio erstmals für die Guerilla Kurierdienste leistete.

Afranio Parra

Reise in die Stadt

Wir gingen schnell. Die Sonne heizte erbarmungslos auf uns nieder. Mein Mund war ganz trocken, und meiner Mutter ging es sicher auch nicht besser, doch sie schwieg. Schweigend gab sie das Tempo vor, während ich ab und zu einen Fluch gegen die heißen Steine ausstieß, die mir die Füße verbrannten. „Sei still, mein Kind, sei ein Mann und geh weiter. Sie sind uns dicht auf den Fersen, und wer weiß, welche Leute das sind.“

„Es sind vier, und sie sind bewaffnet, Mama.“

„Ja, und sie wollen uns offensichtlich einholen, doch da werden sie sich täuschen, denn mir kommt nur mein eigenes Keuchen nach.“

Nach mehreren Stunden erreichten wir schwitzend, doch zufrieden, die Unbekannten hinter uns gelassen zu haben, die Gaststätte am Rio Recio, dort, wo der Fluß aus gigantischen Felsgebilden heraustritt. Wir nahmen das erste Auto, das in die Stadt fuhr.

Ich war noch nie in einem Auto gefahren. Schwindel überfiel mich. Ich wäre tausendmal lieber auf meinem weißen Pferd Tocolo gesessen, das so gut galoppieren kann. Mit all den Kurven und der Geschwindigkeit fühlte ich mich total benebelt. Unterdessen fragte ich mich, wie wohl die Stadt sein würde. Der Schwindel verging mir aber, als ich mich an meinen Vater erinnerte, den wir mit meinem Onkel, meinem Opa Rodolfo und einigen anderen Leuten zurückgelassen hatten. Ob sie die wohl auch umbringen werden? Werden sie sie töten? Nein, sagte ich mir, die werden schon wissen, wie sie ihnen entkommen. Sie wissen ja, daß sie den Häusern und den Menschen fernbleiben müssen. Oder würde ihnen dasselbe passieren wie meinem Großvater Ebaristo und meinen Onkeln Ovidio und Martiliano und so vielen anderen? Nur die Haine mit den Steinnußpalmen, mit den Akajou- und den Guaduabäumen werden sie retten. Nur in den Kaffeepflanzungen mit den strohgedeckten Hütten werden sie ein Versteck finden. In wilden Gebirgsbächen werden sie ihren Durst stillen müssen, und der erschreckte Flug der Ringeltauben wird ihnen eine nahende Gefahr anzeigen. Das wütende Bellen der Hunde wird ihnen sagen, woher die Feinde kommen. Zum Glück haben sie Rohzucker und Tabak mit sich. Heute früh werden sie vor Kälte erstarrt aufgewacht sein, so viel hat es letzte Nacht geregnet. Doch das macht nichts. Sie haben keine Angst vor dem Regen, der die Kaffeefelder ergrünen läßt.

Im Stadtteil Aguablanca, Cali

Wir trafen bei Anbruch der Nacht in der Stadt ein. Diese geraden Straßen, die so anders sind als unsere überraschungsreichen Wege im Gebirge, gefielen mir nicht. Viele Menschen waren auf den Strassen, doch wir waren allein. Niemand grüßte uns. Der Lärm der Autos war überhaupt nicht zu vergleichen mit dem Gesang der Vögel, und das Hupen der grossen Fahrzeuge war ganz anders als das anmutige Wiehern eines Pferdes.

Wir gingen an einer Kirche vorbei. Die zwei Türen schienen vom Himmel herunterzuhängen, so hoch waren sie. Die Glocken läuteten und erinnerten mich an die hellen und reizvollen Ausrufe von Miriam, meiner schönen Kusine, meiner allerschönsten lieben Kusine, und an unsere glücklichen Spiele an heißen Tagen, in unserem Versteck unter den Goldkelchbüschen. Auf Grund der Familienbande war Miriam eigentlich meine Tante, doch ich betrachtete sie lieber als meine Kusine.

Die Pension, in der wir übernachteten, war ganz aus Holz, so wie unser Haus am Land. Der Hunger pfauchte in meinem Magen wie eine schlechtgelaunte Katze. Zum Glück war das Essen ausgezeichnet. In der Straße hörten wir, wie eine Stimme schrie: „Einer wird umgebracht und zehn kommen auf die Welt.“ Dona Helena, die Besitzerin des Hotels, eine sehr dicke und liebenswürdige Frau, führte uns durch einige velassene und schlecht beleuchtete Straßen zu einem kleinen, außerhalb der Stadt gelegenen Haus. Es war schon spät in der Nacht. Eine alte Frau mit langen, weißen Zöpfen empfing uns. Sie hieß uns unverzüglich Platz nehmen und wechselte einige Worte mit Dona Helena. Dann ging sie weg und kam bald in Begleitung eines schmalen, mittelgroßen Mannes mit einem dichten Schnurrbart zurück. Er trug einen Poncho und einen breitrandigen Sombrero.

Der Mann begrüßte uns und fragte mit freundlichem Gesicht meine Mutter: „Wie geht’s den Leuten?“

„Bis gestern abend ging’s ihnen gut. Hector, mein Bruder, ist der Polizei entwischt, als sie ihn nach Santa Isabel überstellen wollten, und seitdem wissen wir nichts mehr von ihm. Die zweite schlechte Nachricht ist, daß sie Salvador umgebracht haben, den Gehilfen von Don Pacho, als er gerade in seinem Haus die Kaffeebohnen zum Trocknen ausgelegt hat. Jeder geht jetzt ins Gebirge (d.h. zur Guerilla, Anm.d.Ü.), doch wir haben nicht genug Munition. Es gibt keine Munition, und deshalb haben sie mich hierher geschickt, denn wir wissen, daß ihr uns helfen könnt. Stimmt’s?“

„Ja, wir haben ein gutes Pulver und ein gutes Kaliber aufgetrieben, doch mit Waffen sind wir knapp daran.“

„Das macht nichts! Mit den Gewehren, die wir haben, werden wir uns mehr Waffen besorgen.“

„Nun, dann laß uns einen Ort zur Übergabe festlegen. Welcher Tag ist heute?“

„Montag“, sagte meine Mama, und Dona Helena nickte zustimmend mit dem Kopf.

„Nun, dann müssen sie uns am Freitag und am Samstag an einem vereinbarten Ort erwarten. Sie“ — der Mann zeigte auf meine Mutter — „müssen mit dem Kommissär mitgehen, mit Florencio, dem Maultiertreiber. Er ist ein Mann unseres Vertrauens.“

„Ja, er ist ein guter Freund von uns.“

„Und wer wird die Nachricht überbringen, daß sie die Munition erwarten?“

„Das Kind.“ Meine Mama tätschelte mir bei diesen Worten die Schulter.

„Das Kind?“

„Ja. Er ist sehr vernünftig. Von gutem Baum gutes Holz.“

„Und wo soll die Übergabe stattfinden?“

„Am Aurora-Berg, der ist nicht zu verfehlen.“

Am Dienstag brach ich auf. Bevor ich in den Bus einstieg, streichelte meine Mama mein Gesicht und sagte mir leise: „Mein Kind, vergiß kein einziges Wort und laß dich auf dem Weg von niemandem ablenken.“

Ich trug neue Sandalen, die ich in der Art der Maultiertreiber festgebunden hatte. Bei der Rückfahrt wurde mir nicht mehr schwindelig, im Gegenteil, ich verspürte den brennenden Wunsch, den Duft des Ginstergestrüpps einzuatmen.

Afranio Parra,
Mitglied der Nationalen Leitung der „Bewegung 19. April“, 12. Juli 1983.
Übersetzung: Werner Hörtner
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