FORVM, No. 118
Oktober
1963

Hochschulen am Tiefpunkt

In der Frage der vieldiskutierten Hochschulreform sollte unseres Erachtens auch die Stimme der jungen Hochschullehrer zu Gehör kommen. Möglicherweise könnte sie die richtige mittlere Tonlage treffen zwischen dem allzu sordinierten Baß der Kapazitäten und dem allzu irritierenden Diskant der Studentenvertreter. Wir glauben, daß diese unsere Vermutung durch den nachfolgenden Beitrag bestätigt wird. Dr. Rudolf Strasser, Jahrgang 1923, ist Dozent für Arbeitsrecht an der Universität Wien, einer der Initiatoren der Hochschule für Sozialwissenschaften in Linz, Sekretär der Arbeiterkammer dortselbst, Autor grundlegender Kommentare in seinem Fach und Mitglied von Führungsgremien großer Betriebe (Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke, Donaukraftwerke Jochenstein). Die gesunde Mischung von Theorie und Praxis, die sich in dieser biographischen Notiz spiegelt, erklärt wohl die abgewogene Mischung aus Eigenwilligkeit und Zurückhaltung in Strassers umfassender Problemschau.

Nun ist es auch bei uns Mode geworden, über die Hochschulmisere zu schreiben und zu reden. Dies ist zu begrüßen. Es wäre aber leichtfertig, darin schon eine Reformdiskussion zu sehen. Was wir derzeit in Österreich haben, ist bestenfalls Hochschulpolemik. Gerade das schadet eher der Sache. Die Zukunft unserer hohen Schulen sollte nicht in die Auseinandersetzungen der Tagespolitik gezogen werden. Wer das Elend unserer Universitäten zum parteipolitischen Tageskampf benützt, zeigt nur, wie wenig ihm die Sache wirklich bedeutet, und wird so mitschuldig an allem, was fürderhin geschieht bzw. nicht geschieht.

Das gilt für alle politischen Gruppen: für jene, die behaupten, die bösen Sozialisten mit ihren zu weit gespannten sozialpolitischen Forderungen an den Staatshaushalt hätten den Hochschulen die nötigen Mittel verweigert; für jene, die dem bösen Unterrichtsminister alle Schuld geben wollen; und für jene, die das Hochschulproblem freudigen Herzens dazu benützen, den Regierungsparteien vollkommenes Versagen vorzuwerfen.

Voraussetzung für das zielführende Eingreifen des Staates ist eine sachliche Diskussion des Problems. Dabei sollte — die medizinische Terminologie drängt sich auf — zwischen Diagnose, Anamnese und Therapie unterschieden werden. Politischen Charakter hat nur der letzte Teil der Begutachtung. Bei Feststellung der Mängel und Mißstände und bei Untersuchung der Ursachen, die dazu geführt haben, sollte es gelingen, zu einem übereinstimmenden, objektiven Befund zu kommen.

Aber auch die Frage der zukünftigen Hochschulpolitik scheint mir weitgehend parteipolitisch neutral zu sein, da über die grundsätzliche Frage der Beibehaltung der Universität als Stätte freier Forschung und Lehre kein Streit besteht. Die Mittel, die zu diesem Ziel führen, müßten objektiv feststellbar sein.

Neben der Versuchung, parteipolitisch zu verfahren, lauert die Gefahr der Überschätzung einzelner Teilaspekte, weil gerade dieser oder jener Mißstand im allgemeinen Blickpunkt steht. So sieht der Student vor allem die überfüllten Räume, der Unternehmer oder Behördenchef die sinkende Qualität des akademischen Nachwuchses und der Hochschulprofessor die geringe Besoldung und die Unwürdigkeit der sonstigen Arbeitsbedingungen. Sie haben alle recht, und eine künftige Reform hat alle Mängel ins Auge zu fassen. Die amtliche Hochschulstatistik weist für das Studienjahr 1960/1961 40.815 und für das Studienjahr 1961/1962 45.110 Hörer aus. Im Studienjahr 1962/1963 wurde die Zahl von 48.000 Hörern bereits überschritten. Dies würde erst dann etwas über den Grad der Überfüllung aussagen, wenn man dem die Kapazität der vorhandenen Hochschulen gegenüberstellen könnte. Dabei wäre zwischen der räumlichen und der lehr- bzw. studienmäßigen Aufnahmefähigkeit (Zahl der Lehrer, Assistenten, Ausstattung der Bibliotheken) zu unterscheiden. Verläßliche Angaben darüber fehlen jedoch.

Mitunter wird von einer räumlichen Kapazität für 25.000 Hörer gesprochen. Das würde heißen, daß die Hörsäle um rund hundert Prozent überfüllt sind. Die Überbeanspruchung unserer Professoren und Assistenten ist wahrscheinlich noch viel größer. Das macht die Situation bedrohlich. Das sei vor allem jenen gesagt, die da glauben, das österreichische Hochschulproblem bestehe in ein paar fehlenden Schulgebäuden.

Man darf aber den Überfüllungsgrad auch nicht nur global sehen. Im Rahmen der allgemeinen Überfüllung gibt es noch speziell überfüllte Hochschulen, Fakultäten und grotesk überbelegte Fächer. In allen diesen Fällen wird die durchschnittliche Überfüllung noch bedeutend übertroffen. Aus einer Denkschrift der Studenten an der Wiener Technik geht hervor, daß im Studienjahr 1962/1963 die Vorlesungen „Mathematik I“ von 1090 und „Darstellende Geometrie“ von 850 Hörern belegt wurden.

Pauken statt Lernfreiheit

Für den Studenten bewirken diese Zustände, daß er die Vorlesungen nicht hören kann, die er hören müßte. Soweit dies möglich ist, versucht er, sich das ihm nötig erscheinende Wissen außerhalb der Hochschule zu verschaffen; das sogenannte Paukerwesen erlebt derzeit eine noch nie gekannte Blütezeit. Der Student kann aber auch die Vorlesungen nicht hören, die er hören möchte. Die Aussperrung von Pflichtvorlesungen wie der Ausschluß von freiwillig gewählten Lehrveranstaltungen stößt den Grundsatz der Lernfreiheit um, und damit eine der Säulen der akademischen Freiheit.

Zumindest ebenso heftig wie die Studenten werden die Hochschullehrer von der „Studierhausse“ getroffen. Mündliche Prüfungen und das Korrigieren von Studentenarbeiten legen ihre sonstige Tätigkeit nahezu lahm. Obwohl in der Regel acht Wochenstunden das Maximum an Lehrverpflichtung darstellen, teilen pflichtbewußte Professoren in besonders überfüllten Fächern ihre Übungen und Seminare und lesen auf diese Weise bis zu 12 und 14 Stunden in der Woche. Trotz alledem führen in vielen Fällen die Übungsseminare diesen Namen zu Unrecht. Lernen durch Mitarbeit an der wissenschaftlichen Arbeit des Professors ist nicht möglich. Weder der Lehrer noch der Schüler ziehen heute aus einem wissenschaftlichen Seminar jene Vorteile, die man sich von dieser Art von Lehrveranstaltung gemeinhin erwartet.

Alles das vernichtet den Hochschullehrer in seiner Eigenschaft als Forscher. Im hektischen Betrieb einer überlaufenen Fakultät, bei einer Arbeitswoche von zumindest 45 Stunden Vorlesungen, Übungen, Prüfungen, Fakultätsarbeit, Studentensprechstunden und Mindestvorbereitung für den Unterricht können wirklich bedeutende wissenschaftliche Arbeiten nicht gedeihen. Einmal da ein sorgfältig ausgearbeiteter Vortrag und dort ein Beitrag für eine Festschrift oder für ein Sammelwerk — das ist alles, was sich ein „vollbeschäftigter“ Professor abringen kann, wenn er mit Verantwortungsbewußtsein publiziert.

Der Zeitpunkt, zu dem die Gelehrten unseres Landes völlig aufhören werden, zum Fortschritt der Wissenschaften beizutragen, ist in bedrohliche Nähe gerückt. Die Freiheit der Forschung und Lehre ist zwar rechtlich, aber nicht mehr tatsächlich gesichert — ein eindrucksvolles Beispiel für das Gefälle, das zwischen der Welt der Normen und der des Seins bestehen kann.

Einer der häufigsten Irrtümer in der gegenwärtigen Hochschuldiskussion ist die ausdrücklich vorgetragene oder doch stillschweigend vorausgesetzte Ansicht, es gebe nur Mißstände, die das Massenstudium hervorgebracht hat. Ich halte demgegenüber die Mängel unseres Hochschulwesens, die unbeschadet des Studentenandrangs bestehen, aus mehreren Gründen für schwerer wiegend. Sie werden auch noch da sein, wenn die Überfüllung aus natürlichen Ursachen abflauen wird. Sie haben zum Teil Ursachen, die letztlich in unserem Hochschulwesen, ja zum Teil in unserer Gesellschaftsform liegen. Sie sind, um bei der Analogie zur Pathologie zu bleiben, keine akute Erkrankung, sondern Folge einer chronischen Krise.

Wir haben in Österreich im besonderen Maße das, was man allgemein den sozialen Numerus clausus nennt. Im Studienjahr 1959/1960 (diese Statistik wird nur alle drei Jahre gemacht) hatten von 100 Studenten 32 einen Vater, der selbständig erwerbstätig war, 23 einen, der in gehobener öffentlicher, und 11 einen, der in leitender privater Stellung war. Somit entstammten 66 Prozent der Studenten den sogenannten oberen Gesellschaftsschichten. Das restliche Drittel gliedert sich in sieben Prozent Arbeiterkinder, sieben Prozent Kinder nicht leitender Privatangestellter, zehn Prozent Kinder kleinerer Öffentlicher Beamter, zehn Prozent Sonstige. Diese Aufteilung ist mit einer Ausnahme (Privatangestellte) umgekehrt proportional der sozialen Schichtung unseres Volkes (16 Prozent selbständig Erwerbstätige = 32 Prozent Studenten; 8 Prozent Beamte = 33 Prozent Studenten; 18 Prozent Privatangestellte = 18 Prozent Studenten; 45 Prozent Arbeiter = 7 Prozent Studenten).

Daneben gibt es einen vielzu wenig beachteten territorialen Numerus clausus. Die beiden in bezug auf Bevölkerung und Wirtschaft ungefähr gleichrangigen Bundesländer Steiermark und Oberösterreich liefern den statistischen Beweis: Im Studienjahr 1961/1962 waren aus der mit drei Hochschulen ausgestatteten Steiermark 4.890 Studenten inskribiert, jedoch aus Oberösterreich, das derzeit über keine Hochschule verfügt, lediglich 3.489, also um rund ein Viertel weniger.

Man kann zwar nicht beweisen, wohl aber wahrscheinlich machen, daß die Zahl der Begabungen groß ist, die auf diese Weise der Gesellschaft verlorengehen und auf einen Lebensweg geraten, der ihrem Talent in keiner Weise adäquat ist. Zugleich wird damit deutlich, wieviel Unbegabung die Hörsäle unserer Hochschulen füllt und an den Nerven der prüfenden Professoren zerrt. In dieser Sicht handelt es sich um doppelte Vergeudung: Vergeudung von Studienplätzen an Minder- und Unbegabte; und Vergeudung von Begabten in ihnen nicht entsprechenden gesellschaftlichen Funktionen.

Eine der Ursachen für derlei Zustände — nicht die einzige — ist unser beschämendes Stipendienwesen. Namhafte Institutionen vergeben 200 Schilling pro Monat. Ein Stipendium von 500 Schilling monatlich gilt schon als sehr „anständig“. Erreicht der Betrag die Grenze von 800 Schilling, spricht man stolz von einem „Lebenshaltungs-Stipendium“. Die Zahl der Stellen, an die sich der findige Student wenden kann, ist groß. Da weitaus nicht alle diese Stellen und auch nicht alle Hochschulen Verzeichnisse ihrer Stipendiaten veröffentlichen, können sich die wenigen Kundigen ein schönes Einkommen sichern, während viele Bedürftige das Nötigste entbehren müssen. Daß halbwegs einheitliche Richtlinien für die Vergebung fehlen, versteht sich beinahe von selbst. Bei einer Stelle führt ein Einkommen des Vaters, das 2.000 Schilling überschreitet, bereits zur Ablehnung; von anderen Stellen erhalten Studenten, deren Väter bis zu 4.000 Schilling verdienen, ohne Schwierigkeit ein Stipendium.

Wissen statt Wissenschaft

Gleichfalls nicht (oder nicht nur) mit der Überfüllung zusammenhängend ist der Übelstand des sogenannten Paukerwesens. Studieren ist eine besondere Art des Lernens. Besonders ist sowohl der Gegenstand der Bemühung wie auch die Methode. Durch Teilnahme an der wissenschaftlichen Arbeit des Hochschullehrers soll der Student in eine Reihe von Fachwissenschaften eindringen, er soll ihre Grundlagen, ihre spezifischen Arbeitsmethoden, die wesentlichen Ergebnisse und schließlich die Befähigung zum selbständigen Weiterarbeiten lernen. All das wird nicht erreicht, wenn der Student lediglich die gängigen, gesicherten Ergebnisse im Gewande einer Wissenskunde vermittelt bekommt. Den Zweifel, die kritische Attitüde, die aller Wissenschaft Anfang sind, lernt er überhaupt nicht kennen. Es mag richtig sein, daß dieser Mangel heute kaum auffällt. Das bestätigt aber nur den — in Österreich durchaus angebrachten — Verdacht, daß vielfach Akademiker in Stellungen verwendet werden, für die nichts weiter als ein Fachkundiger nötig wäre.

Natürlich sind an der Gepflogenheit, sich die Prüfungskenntnisse auf möglichst bequeme Weise zu verschaffen, nicht allein und auch nicht in erster Linie die Studenten schuld, und schon gar nicht die Paukerschulen und die dort Unterrichtenden, die ja nur einem vorhandenen Bedürfnis abhelfen. Übrigens sind wahrscheinlich die Auswirkungen in der Praxis nicht ganz so arg, wie sie bei grundsätzlicher Überlegung erscheinen. In den Paukerschulen sind z.B. sehr oft hervorragend tüchtige Juristen tätig, die mit wahrer Hingebung und auf verhältnismäßig hohem Niveau den Jusstudenten das zu geben versuchen, was sie in der Vorlesung zu vermissen glauben. Das Fehlen zweckmäßiger, auf dem letzten Stand befindlicher Studienbücher; die Gewohnheit vieler aus der Praxis kommender Prüfer, eben doch Wissen statt Wissenschaft und Kenntnisse statt Denken zu verlangen; schließlich die Unmöglichkeit, in Übungen und Seminaren mit dem Professor ins Gespräch zu kommen — dies alles verbindet sich mit der Bequemlichkeit des Studenten und führt ihn aus dem Hörsaal und in die Paukerschule.

Auch wenn man von der derzeitigen Überfüllung absieht, sind die Arbeitsbedingungen unserer Hochschullehrer alles andere als würdig und angemessen. Insbesondere mangelt es an dem notwendigen wissenschaftlichen Hilfspersonal. Bitter ist aber auch das Fehlen von administrativen Hilfskräften. Selbstgetippte Briefe, handgeschriebene Manuskripte zeigen deutlich, daß es vielen Professoren an dem gebricht, was jeder Angestellte oder Beamte in halbwegs leitender Stellung hat, nämlich entsprechendes Kanzleipersonal. Daß der Herr Amtsrat von seinen Besuchern nicht direkt überfallen wird und daß er seine Dienstzeit nicht mit dem Tippen seiner Produkte verschwendet, dafür wird in den meisten Ämtern durch Vorzimmer und Sekretärin gesorgt. Bei höchstqualifizierten Wissenschaftlern ist dies nicht erforderlich.

Man vergleicht die Gehälter unserer Professoren meist mit solchen im Ausland. Jedoch wird die Unangemessenheit schon deutlich, wenn man das Einkommen vergleichbarer österreichischer Beamter, Richter oder Industrieangestellter in Betracht zieht. Gewiß, wer Reichtum erwerben will, soll nicht Professor werden. Es müßte aber doch dafür gesorgt sein, daß ein Hochschullehrer sein Leben so führen kann, daß es in der richtigen Relation zu den allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnissen steht.

Die Fakultäten ringen heute hart um die Erhaltung ihres wissenschaftlichen Niveaus. Drei Aderlässe: 1934, 1938, 1945, deren Folgen nur zum geringen Teil wiedergutgemacht werden konnten, haben schweren Schaden angerichtet. Der Austausch von Professoren mit den beiden anderen deutschsprachigen Ländern funktioniert schon viele Jahre nicht mehr; er hat sich in eine ständige Abwanderungsbewegung verwandelt. Es spricht für die hohe ethische Gesinnung der österreichischen Professoren, daß nur in ganz wenigen Fällen die Gehaltsfrage allein für das Weggehen entscheidend war; bessere Institute, mehr Hilfskräfte, ein größerer Wirkungskreis gaben zumeist erst den Ausschlag. Und das Fehlen alles dessen hindert Ausländer, zu uns zu kommen.

Bundesminister Dr. Drimmel hat sehr offene Worte zu dem in Österreich — wie auch in anderen Ländern — seit jeher vorhandenen Protektionssystem gesagt. Ich glaube, er wird mir recht geben, wenn ich feststelle, daß es selbstverständlich auch innerhalb der Fakultäten dergleichen gibt. Daß dies dem Ringen um Niveausicherung oft entgegenwirkt, ist klar; ob es ihm entscheidend entgegenwirkt, ist zweifelhaft. Es handelt sich selten um rein parteipolitische Protektion, eher schon um eine, die auf der menschlichen Beziehung zwischen Lehrer und Schülern beruht. Solcherart hängt sie mit der mangelhaften Nachwuchspflege zusammen.

In der Liste der Studienrichtungen, die man an österreichischen Hochschulen wählen kann, fehlen die Sozialwissenschaften, die Politischen Wissenschaften, aber auch — sieht man von der Universität Innsbruck ab — die Wirtschaftswissenschaften. Einige Studienzweige sind, was die Fächerkombination anlangt, sehr stark veraltet. Das gilt z.B. für die Rechtswissenschaften, aber auch für das staatswissenschaftliche Studium. Einige Fächer müßten eingeschränkt, wenn nicht aufgelassen, andere zu Pflichtfächern erhoben oder erweitert werden. Manche Studienzweige, besonders die naturwissenschaftlichen und die technischen, sind nach dem Urteil erfahrener Fachleute überladen und überzüchtet. Das normale Studium bis zum akademischen Grad (Undergraduate Studies) ist zu lang und daher zu kostspielig. In vielen Fächern, besonders in den Geisteswissenschaften, nimmt die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung unverhältnismäßig großen Raum ein. Hörer der Nationalökonomie oder der Staatslehre werden mitunter überwiegend mit Dogmengeschichte gefüttert. Massenvorlesungen dominieren gegenüber den Übungen und Seminaren, die ihrerseits infolge der Überfüllung den Massenvorlesungen gleichen.

Das vielgepriesene und oft berufene Studium generale ist auch für die wenigen danach strebenden Studenten unerreichbar geworden. Hätte man dafür ein um so tieferes Eindringen in Spezialfächer eingetauscht, so wäre es gut. Das geschah aber nicht. Alles in allem ist die akademische Ausbildung heute über weite Strecken zu einem relativ oberflächlichen Fachstudium geworden, bei dem bestenfalls eine Menge Wissen angehäuft wird.

Zwei wichtige Grundsätze geben der Verfassung unserer Universitäten das Gepräge: die Selbstverwaltung im Rahmen der Fakultät und das Ordinariatsprinzip. Wenn das Professorenkollegium einer Fakultät, wie z.B. der philosophischen an der Universität Wien, 84 Personen (zusammen mit den Dozentenvertretern) umfaßt, dann wird die Fakultät entweder arbeitsunfähig oder sie funktioniert nicht mehr nach der Modellvorstellung einer aristokratischen Republik mit jährlich wechselnden Oberen. Wie sie funktioniert, d.h. wer dann wirklich entscheidet, wäre psycho-soziologischer Untersuchungen wert.

Der einsame Ordinarius

Es gibt wenige Studienzweige, in denen nicht das Teamwork mehrerer Professoren gleichen Faches oder einander ergänzender Fächer gedeihlicher wäre, als der einsame, bestenfalls von höflichen und folgsamen Assistenten umgebene Ordinarius. Irrwege, Fehlentwicklungen, Einseitigkeiten und Überspitzungen würden vermieden. Der einzelne Gelehrte kann heute nicht mehrere Fachwissenschaften zugleich beherrschen; er kann nicht Nationalökonom und Statistiker, Historiker und Erkenntnistheoretiker in einem sein. Was in den Naturwissenschaften längst schon zum Durchbruch gekommen ist und was sich in den empirischen Sozialwissenschaften allmählich anbahnt, wird auch in den Geisteswissenschaften nicht aufzuhalten sein.

Die plötzlich hereingebrochene „Studierhausse“; unser Lohn- und Gehaltsniveau; Geldmangel des Staates; Nachlässigkeit der Unterrichtsverwaltung; falsche Rangordnung der Werte — und noch einiges mehr wurde als Ursache für den unerfreulichen Zustand unserer hohen Schulen genannt. So einfach und allgemein ist jedoch die Frage nicht zu klären. Eine ganze Reihe von konkreten Handlungen, Unterlassungen und Ereignissen dürfte zu dem betrüblichen Ergebnis geführt haben. Ich bezweifle übrigens, ob es der Sache sehr nützlich ist, dies genauer und über jene Erkenntnisse hinaus zu untersuchen, die für eine Kursänderung nötig sind. Die Frage nach der künftigen Verantwortlichkeit ist viel wichtiger als die Suche nach einem Sündenbock. Das kann für gewisse Ziele zweckmäßig sein, aber den Hochschulen wird damit nicht geholfen.

Verantwortlich sind — in nicht immer absichtsvollem Zusammenwirken und etwa in dieser Reihenfolge: Regierung, Parlament, Fakultäten, Unterrichtsverwaltung, Gesamtgesellschaft und einzelne Professoren.

Die Einrede des Notstandes (Überfüllung, Geldmangel) kann nur in sehr beschränktem Umfang zugelassen werden. Um den Mißständen abzuhelfen, die aus der Autoflut entstehen — geben unsere Gebietskörperschaften Milliardenbeträge aus. Wenn gut organisierte Interessengruppen schlicht und einfach mehr aus dem Konjunkturtopf haben wollen und dies entsprechend fordern — dann wird dies erfüllt. Darin äußert sich eine der wesentlichen Schwächen der „verbandsstrukturierten“ Demokratie. Die Studenten, die durch Streiks und Demonstrationen die Hochschulreform erzwingen wollen, sind zwar der Sache auf der Spur, aber ihre Aktionen wirken vorläufig in ihrer Naivität geradezu rührend. Naiv ist die darin sich ausdrückende Meinung, man könne hergehen und das Verhalten handfester wirtschaftlicher Interessenverbände einfach kopieren; im Reich einander bekriegender Interessen ist für die Wissenschaft wenig Platz. Rührend ist an den Studentendemonstrationen die Don-Quichotterie, das heiße Herz, das darin schlägt.

Schon jetzt sei vor Professorenstreiks gewarnt, um ehrwürdige Leute von einem Tun abzuhalten, das ihnen vielleicht zu-, aber nicht ansteht.

Es mag vielleicht einfältig klingen, aber man kann tatsächlich nur auf die Einsicht der verantwortlichen Stellen bauen und das, was not tut, ohne Polemik und Ressentiment immer wieder darlegen. Hülfe das nicht, wäre unser gesellschaftliches Gewissen, das sich schließlich im Verhalten unserer Regierenden manifestieren sollte, so unempfindlich geworden, dann wäre jede Hoffnung vergeblich.

Ich bin nicht dieser pessimistischen Meinung. Träges Reagieren beweist noch keine Unempfindlichkeit und: unwilliges Weghören keine Taubheit. Die Reformen, deren unsere Hochschulen bedürfen, müßten möglichst an allen Punkten gleichzeitig einsetzen: beim Studium; bei der Stellung der Professoren; bei den Studenten; beim Verhältnis von Forschung und Lehre; und bei der Gestaltung der Hochschulen überhaupt.

Im Studienbetrieb sollte in Hinkunft das Verhältnis zwischen der großen Vorlesung und den Übungen zugunsten der Übungen verschoben werden. An die Stelle der Monologe des Professors hätte das Gespräch zwischen Lehrer und Studenten zu treten. Aufgabe des Ordinarius sollte es nicht so sehr sein, im Rahmen einer Vorlesung ein abgeschlossenes Teilgebiet einer Disziplin vorzutragen — ein Vorhaben, das ohnehin fast nie gelingt —, er sollte vielmehr, unter Voraussetzung eines aus Studienbüchern erworbenen Grundwissens, die Studenten zum selbständigen Weiterdenken anregen, auf Zusammenhänge aufmerksam machen und zum Diskutieren bringen. Wo immer es die Natur des Faches erlaubt, sollte er der „Case Method“ den Vorzug gegenüber jeder anderen Art der Stoffbehandlung geben.

Bei Einführungs- und Grundvorlesungen ist zu überlegen, ob man hier nicht von vornherein auf die Lehrfreiheit verzichten sollte. Viele Professoren tun das wahrscheinlich heute ohnehin schon aus eigenem. Was soll schließlich der eben vom Gymnasium gekommene Student damit anfangen, daß ihm z.B. in einer Einführung in die Grundbegriffe der Volkswirtschaftslehre die höchst eigenwillige, weithin umstrittene Lehre seines Professors vorgesetzt wird?

Die künftig vorgesehene Zweiteilung des Studienganges in acht Semester akademischer Berufsausbildung und zwei weitere Semester wissenschaftlicher Ausbildung darf auf keinen Fall mit der Unterscheidung in bloße Wissensvermittlung und wissenschaftliche Ausbildung verwechselt werden. Auch der Student, der eine akademische Berufsausbildung anstrebt, muß wissenschaftlich ausgebildet werden. Was ihm geschenkt wird, ist der Nachweis der Befähigung zu eigenen selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten; keinesfalls dürfen jedoch die ersten acht Semester des Studiums künftig als höherer Fachschulkurs betrachtet werden. Darauf sollte man schon jetzt hinweisen.

Freiheit des Nichtlernens

Es würde sich lohnen, nach wirksamen Methoden Ausschau zu halten, die verhindern, daß Studenten den Grundsatz der Freiheit des Lernens als Freiheit des Nichtlernens interpretieren und die Vorlesungen besuchen, wann und zu welchem Zeitpunkt sie wollen. Wo immer es möglich ist, sollte man versuchen, den Studiengang in Abschnitte mit abschließenden Prüfungen zu zerlegen, um so dem Studenten, aber auch der Fakultät die Kontrolle des Studienfortganges zu ermöglichen.

Der Entwurf für ein Hochschulstudiengesetz scheint mir in viel zu geringem Maße auf schriftliche Prüfungen Wert zu legen. Ich höre das Stöhnen der Professoren, denen derlei jetzt schon zuviel ist, und beeile mich beizufügen, daß eine Vermehrung der schriftlichen Prüfungen nur möglich ist, wenn auch das wissenschaftliche und administrative Hilfspersonal entsprechend vermehrt wird.

Ähnlich wie in den Vorlesungen und Übungen müßte auch bei den Prüfungen die „Case Method“ gepflegt, auf die Fähigkeit zum selbständigen Denken, auf die Intelligenz und weniger auf das Wissen des Kandidaten Wert gelegt werden. In den Naturwissenschaften wäre zu prüfen, ob man nicht bei Dissertationen über begründetes Ansuchen ein Teamwork der Kandidaten zulassen könnte. Wohl nicht sehr entscheidend, aber der Diskussion wert scheint mir der Gedanke, bei Prüfungen nur mehr zwischen „bestanden“ und „nicht bestanden“ zu unterscheiden; eventuell könnte man die Auszeichnung beibehalten.

An der Einführung neuer und der Änderung bestehender Studienrichtungen wird derzeit gearbeitet. Hoffen wir das Beste. Wenn man nur die eingesessenen Ordinarien fragt, wird’s kaum gelingen. Den Fachvertreter wird es nur selten geben, der die Beschränkung seines Gebietes vorschlägt. Wer plädiert für die noch nicht installierte Disziplin?

Die Teilung in „Undergraduate“ und „Postgraduate Studies“ ist angesichts des stark angewachsenen Stoffes eines jeden Studienzweiges dringend geboten. Ob die Teilung in Diplom- und Doktoratstudium, wie sie der Entwurf des Hochschulstudiengesetzes vorsieht, dies bringt, scheint mir zweifelhaft. Die Einführung eines „Postgraduate“-Studiums ist vielleicht weniger eine Frage der Gesetzgebung als ein soziales Problem. Man muß dem hiefür in Frage kommenden jungen Akademiker nicht nur den anständigen Unterhalt sichern, sondern ihn außerdem dazu bewegen, einige Jahre später in die berufliche Karriere einzusteigen und einen Startnachteil auf sich zu nehmen, der materiell kaum abgegolten werden kann. Wahrscheinlich setzt ein breites „Postgraduate“-Studium, das der Wirtschaft, der öffentlichen Verwaltung und den freien Berufen sehr zugute kommen würde, eine Gelassenheit in bezug auf den Berufseintritt voraus, die in größerem Umfang nur in einer sehr wohlhabenden Gesellschaft entstehen kann.

Ich möchte meine Anregungen nicht reihen; sie bilden ein zusammenhängendes Ganzes. Wenn aber einer Sache Priorität zukommen sollte, so der Änderung in der Stellung des Professors. Denn davon hängt letztlich alles ab. Mehr Assistenten; überdies zwei bis drei Schreibkräfte für jede Lehrkanzel; keine Überschreitung der achtstündigen Lehrverpflichtung — das sind die Minimalforderungen. Will man den produktiven Forscher wieder zu Wort kommen lassen, so muß man erheblich mehr tun. Forschungssemester, das sogenannte Sabbat-Jahr: die Freistellung von jeder Vorlesungsverpflichtung in bestimmten Intervallen könnten vielleicht bei manchem Gelehrten die Lust zu Publikationen wieder anfachen, die über kleine Beiträge und Aufsätze hinausgehen.

Statt einzelne Zelebritäten durch Sondergehälter anzulocken, die man als Staatsgeheimnis hüten muß (wie es angeblich in der Bundesrepublik Deutschland geschieht), empfiehlt sich eine großzügige Gehaltsreform. Nur so meidet man die Scylla der Pauperisierung und die Charybdis des Starkults, für den der Wissenschaftsbetrieb prinzipiell anfällig ist. In der heiklen Frage des Kollegiengelds sind wir in Österreich auf dem richtigen Weg. Ein Limit nimmt ihm den Charakter des Ansporns für das Abhalten von Massenvorlesungen. Nötig wäre auch eine großzügige Erhöhung des Plafonds und eine Garantie, wenn ein wichtiges Fach auf Grund seiner Eigenart keinen allzu großen Zulauf haben kann oder wenn es nicht erwünscht ist, daß der Ordinarius große Vorlesungen hält.

Die Gewinnung ausländischer Gelehrter ist keine Frage der Arbeitsbedingungen allein. Jeder Fakultät müßte ein Kontingent von Professorenwohnungen zustehen, das ständig verfügbar ist. Die Wohnung des Professors ist weitgehend auch seine Arbeitsstätte; das dürfte bei Ausstattung und Größe nicht vergessen werden. Sind wir erst der Überfüllung Herr geworden, so sollte alles getan werden, um zwischen dem Lehrer und seinen fortgeschrittenen Studenten auch den geselligen Kontakt zu ermöglichen. Dazu bedarf es nicht nur des guten Willens, sondern handfester materieller Voraussetzungen. Das wirkliche Privatissimum als eine der höchsten Stufen akademischen Lehrens wäre dann wieder möglich.

Erst mit der Verwirklichung aller dieser Maßnahmen verliert der Plan, einfach die Zahl der Lehrstühle zu vervielfachen, jenen irrealen Charakter, den er derzeit hat.

Oberstes, wenn auch wohl nie erreichbares Ziel müßte sein, den Begabten aller Schichten und aller Landesteile das Studium zu ermöglichen und Unbegabte ohne Rücksicht auf Stand und Herkommen womöglich auszuschließen.

Des sozialen Numerus clausus wird man mit einer Stipendienreform allein nicht Herr werden. Dazu bedarf es auch der Einwirkung auf die entscheidungsbefugten Eltern. An ihrer Bereitschaft fehlt es wohl ebenso oft wie an den finanziellen Möglichkeiten. Das ist ein Erziehungsproblem. Den Ausfall des Mitverdieners kann und darf auch das beste Stipendiensystem nicht abgelten. Im übrigen scheint die materielle Studienförderung unterdessen auf dem besten Weg zur Verwirklichung.

Gegen den territorialen Numerus clausus helfen Neugründungen von Hochschulen in den Bundesländern. Hier haben Gesetzgeber und Unterrichtsverwaltung bereits Taten gesetzt durch die Gründung der philosophischen Fakultät in Salzburg und der Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Linz. Der vorgesehene Ausbau zu vollen Universitäten in nicht allzu ferner Zeit wird die Benachteiligung endgültig aus der Welt schaffen.

Geld ist nicht alles

Bei Neugründung von Universitäten wäre allerdings die Frage zu stellen, ob es sinnvoll ist, die altüberkommenen Fakultäten in ihrer bisherigen Zusammensetzung beizubehalten. Im Falle von Salzburg ist dies nicht erwogen worden, bei der Linzer Hochschule ist noch alles offen. Bei genauer Prüfung spricht heute so gut wie nichts mehr für die alte Viergliederung. Fakultäten, die zu groß geworden sind, z.B. die philosophische an der Wiener Universität, sollte man endlich teilen, desgleichen die faktisch längst gespaltenen, z.B. die philosophische in eine geisteswissenschaftliche und eine naturwissenschaftlich-mathematische Richtung; die juridische in Rechtswissenschaften einerseits und Sozial- und Wirtschaftswissenschaften anderseits.

Viele meiner Anregungen setzen Bauten, neue und solche zur Erweiterung voraus; fast alle erfordern viel, viel Geld. Ich habe diese zwei Notwendigkeiten absichtlich nicht jedesmal besonders betont. Viel zu viele Menschen in Österreich glauben, die Hochschulkrise sei ein Finanz- und Bauproblem. Das ist sie sicher auch, doch wäre es ein gefährlicher Trugschluß, zu glauben, mit Geld und Bauten allein sei unser Hochschulwesen zu kurieren. Das sind selbstverständliche Voraussetzungen, ohne die das Reformwerk gewiß nicht gelingen kann, mit denen allein es jedoch ebenso gewiß nicht gelingen wird. Primär bedarf es eines Konzeptes für eine umfassende und nicht bloß partielle Reform. Ohne ein solches sind zusätzliche finanzielle Anstrengungen kaum zu verantworten. Ein solches Reformwerk liegt, wie die Beschaffung der außerordentlichen Mittel, in der Verantwortung der Regierung und des Parlaments; es geht über den Rahmen des Unterrichtsressorts weit hinaus. Obige Gedanken dürfen daher nicht als ein Anschlag auf das Unterrichtsministerium aufgefaßt werden. So abwegig es wäre, diesem allein die Schuld am Entstehen der mißlichen Situation zu geben, so abwegig wäre es auch, die Beseitigung dieser Situation einem Minister abzuverlangen. Selbst Regierung, Parlament und Gesellschaft insgesamt werden schwer genug damit fertig werden.

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