FORVM, No. 395/396
Januar
1987

Im Café Hungaria

Einst traf sich Budapests Café-Intelligenz im schönen Hungaria am großen Ring. Heute parken dutzende Busse vor dem Lokal mit der intimsten K & K Hofzuckerbäcker-Atmosphäre: In den großen Sälen des Lokals werden ausländische Reisegruppen abgespeist. Aber im kleinen Vorraum trifft der Wiener Café-Intimus noch immer auf ein paar alte Bekannte: Journalisten, Soziologen, Schriftsteller und was noch sonst so im Kaffeehaus herumsitzt — obwohl als einzige ausländische Zeitung nur die Volksstimme aus Wien aufliegt.

Diesmal, bei meinem jüngsten Besuch im Hungaria, war es ein ganz besonderer Tag: In Reykjavik saßen sich Reagan und Gorbatschov gegenüber, in Budapest weilten als gefeierte Staatsgäste die Königin von Holland und Wiens Kardinal. Aber all diese ungemein aktuellen Themen beherrschten keineswegs die Gespräche: Alle Gedanken waren beim bevorstehenden 30. Jahrestag des ungarischen Volksaufstandes, wie es die einen nennen, oder der großen Konterrevolution, wie die Altstalinisten gern sagen. „Die Ereignisse des Herbst ’56“ lautet die amtliche Kompromißformulierung.

Da ich auch nicht mehr der Jüngste bin, sind auch meine Gesprächspartner alte 56er: Damals, da waren wir noch jung und fesch, da hatte es einen Petöfi-Klub gegeben, da pendelte man zwischen Wien und Budapest, war zunächst begeistert, hoffnungsvoll und wenige Wochen später, als die Freunde entweder als Flüchtlinge in Wien auftauchten oder in Ungarn im Gefängnis saßen, zu Tode betrübt.

Die nach Wien gekommenen Freunde waren dann nach Kanada, USA oder Schweden weitergereist, einige fuhren nach etlichen Monaten Abwarten nach Budapest, die übrigen kehrten aus Gefängnishaft ungebrochen in ihre Wohnungen zurück — und wurden von Nachbarn und Berufskollegen still oder laut als Helden gefeiert.

Ich erinnere mich an ein Treffen mit den alten Freunden vor etwa 20 Jahren, damals war ich Gast im Soziologischen Institut. Ein Professor referierte über seine Schlußfolgerungen von einer Reise in die Bundesrepublik, ein anderer, wesentlich jünger und nur Assistent, attackierte sein Institutsoberhaupt auf gröblichste Weise: wie man gute Devisen verschwenden könne an einen alten Trottel, der in drei Monaten Deutschland überhaupt nichts sieht? Als mir diese Worte übersetzt wurden, war ich ganz freudig erregt über so viel Hochschuldemokratie, bis ich die Erklärung für die hohe Anti-Autorität des Assistenten bekam: „Weißt du“, flüsterte ein Freund, „der Professor ist im 56er Jahr nur vier Monate gesessen, der Assistent aber drei Jahre. Darum kann er sich so etwas erlauben.“

Ja, so hoch waren die geschlagenen 56er noch vor 20 Jahren im Kurs: zwar besiegt, aber Stolz und Gewissen einer Nation.

Wie sieht das heute aus? „Ich glaube, die einzigen, die sich der Revolution erinnern, sind die Herren von der Staatspolizei“, meinte da einer. Angeblich sind alle möglichen Kräfte mobilisiert und kaserniert, um irgend etwas in den Oktobertagen zu verhindern. Erinnert sich sonst noch wer an die Oktoberkämpfer? Zweifel in der Runde. Ja, es gibt junge Leute, die fragen kommen, manchmal hat man schon interessante Gespräche — aber für die Jugend ist es kaum mehr erlebte Gegenwart, sondern längst versunkene hıstorische Vergangenheit. Kadar, für die alten Oktoberkämpfer noch immer ein „Verräter“ wegen seiner dunklen Rolle im Prozeß gegen den Oktoberhelden und Ministerpräsidenten Imre Nagy, Kadar also hat — so ist man sich einig — die wirtschaftlichen Forderungen des Oktober im Rahmen der Möglichkeiten verwirklicht. Geht es deswegen auch besser? Nicht verwirklicht wurden die politischen Forderungen — aber die sind sehr vielen egal, wenn man nur gut verdienen kann und, vor allem, wenn es Möglichkeiten für Auslandsreisen gibt.

Politisch hat es sogar ein Ventil gegeben: Bei den Wahlen im vergangenen Frühjahr gab es in einigen Wahlkreisen unabhängige Kandidaten, darunter auch Oktoberianer. Die Alten hatten begeistert für sie gestimmt, ihre Kinder haben meist Wahlenthaltung geübt: „Es ändert sich ohnehin nichts.“

Kadar hat viele Ventile geöffnet. Das wichtigste davon ist die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen. Einige Erleichterungen hiefür hat lustigerweise die Revolution von 1956 auch geschaffen: Bei den vielen Freunden in aller Welt, die sich in den 30 Jahren eine Existenz aufgebaut haben, kann man gratis wohnen. Es geht nur darum, bei den kargen ungarischen Gehältern (weniger als ein Drittel der österreichischen, wenn man sie zum offiziellen Kurs umrechnet) genug zu sparen oder daneben zu verdienen, um sich das teure Flugticket kaufen zu können. Genialität und Geschick werden benötigt, um sich neben den offiziell genehmigten jährlichen Urlaubsfahrten irgendwelche Einladungen zu Dienstreisen ın Form von Seminaren, Kongressen oder Vorträgen zu verschaffen. Alle in der Runde sind Künstler in diesem Metier. Ein weiterer Schwerpunkt der Gespräche war daher die knapp vorher erfolgte Abwertung des Forint um acht Prozent, was die jährliche Auslandsreise noch mehr verteuert.

Werden wir auch im nächsten Jahr ins Ausland reisen können? Da auch etliche im Kreise sind, die etwas von Volkswirtschaft verstehen, wird diese Frage immer wieder gestellt. Ungarn sei noch mehr verschuldet als Polen oder Rumänien, hört man. Der Lebensstandard all jener, die kein Zweiteinkommen haben, geht jährlich um drei bis fünf Prozent zurück. Aber wer arrangiert sich nicht ein zweites Einkommen?

Auch unter den Oktoberkämpfern gibt es noch sozialistische Fundamentalisten, die mißbilligend auf das schauen, was sie die „neue Bourgeoisie“ nennen. Nach ihren Angaben sind es meist Leute aus bäuerlichen oder sonstigen primitiven Verhältnissen, denen es gelungen ist, Millionäre zu werden, indem sie ein Wirtshaus, eine Fremdenpension, einen Marktstand ihr eigen nennen. Diese Bourgeoisie lebt besser als ihre österreichischen Cousins: Der Handel hat fast westliches Niveau, das Finanzamt hingegen ist noch unterentwickelt und schlägt nicht so heftig zu wie in Österreich. Es gibt in altösterreichisch-ungarischer Tradition eine Unmenge undurchschaubarer Verordnungen und Dekrete, an die man sich einfach nicht hält.

Die im In- und Ausland bekannten Dissidenten, die Kämpfer für Naturschutz, für „die Rechte der benachteiligten Minderheit der Zigeuner“ und bessere Versorgung der verarmten Pensionisten sind ein relativ kleiner Kreis, den nicht nur die Staatspolizei kennt, sondern auch der interessierte Gast etwa nach dem fünften Besuch. Er entspricht in Größe, Effizienz und Zusammensetzung in etwa einem Plenum der Alternativen Liste Wien. Einer mit mehr Weitblick meint: „Die wirkliche Opposition ist in den Betrieben. Nur ist sie noch still.“

Der Mann mit dem Weitblick, wir können seinen Namen ruhig nennen, ist Andreas Hegedüs, Ministerpräsident im Jahr 1956, dessen Sturz das eigentliche Ziel der Revolution war. Aus seinem Exil in Moskau kehrte er später geläutert zurück — und wurde Vordenker und inoffizielles Oberhaupt der politischen Opposition, dabei gleichzeitig Gesprächspartner der Regierung, wenn sie die Stimmung im Volk ausloten will. Diesmal gehörte er nicht der Gesprächsrunde an, aber aus früheren Treffen mit ihm weiß ich, daß er sehr große Hoffnungen in den neuen Kurs der Sowjetunion und auf die Entspannung setzt. Der Tag meines Besuches ließ alle diese Hoffnungen jubelnd aufleben, am Abend, als das Scheitern von Reykjavik verlautbart wurde, folgte die kalte Dusche.

Unberührt von jeglicher kalten oder warmen Dusche der Weltgeschichte ist bei allen Ungarn, ob Dissident, unpolitisch oder regierungsbegeistert, die Liebe zu Österreich. Einer, der hoch im Regierungsrang steht, verriet mir seine Bewunderung für die Habsburger. Entgeistert schaute er mich an, als ich über das Unrecht zu sprechen anhob, das die Monarchie den Ungarn im Lauf der Jahrhunderte angetan hatte. Das scheint vergessen. Die Vaci-ut, Budapests Kärntner Straße, wurde in kitschigstem Fin de siècle-Stil restauriert. Die Monarchie — das sind halt die guten, alten Zeiten.

Noch vor wenigen Jahren gab es den geflügelten Witz über die neue K & K Doppelmonarchie: Kreisky und Kadar. Daher die besorgten Fragen meiner Gesprächspartner, was seit dem Abgang Kreiskys bei uns alles passiert sei. Man ist gut informiert und weiß Bescheid über VÖEST, Reder-Frischenschlager, Waldheim, Jörgl Haider und den Popularitätsverlust der Sozialisten. Die quälende Sorge lautet: Wird es mit uns so bergab gehen wie mit Österreich, wenn Kadar einmal nicht mehr ist?

Bis dahin glaubt man in Ungarn, so weiterleben zu können in der „fröhlichsten Baracke des sozialistischen Lagers“ — ein geflügeltes Wort. Die Überalterung des Produktionsapparates der Fabriken, das Fehlen innovatorischer Technologien, das miserable Lohnniveau, die vielen Disproportionen in der Volkswirtschaft, die Größe und Gefräßigkeit des politischen und staatlichen Apparates — es fehlt nicht an Anzeichen eines bösen wirtschaftlichen Rückschlags. Bis dieser eintritt, tröstet man sich mit den Reportagen in westlichen, vor allem amerikanischen Zeitungen über Ungarn: Dort erfahren die Budapester, wie gut es ihnen geht. Wenn sie in die qualifizierten Berichte ihrer eigenen Forschungsinstitute hineinschauen oder ihr Haushaltsbudget durchrechnen, dann sieht Ungarn nicht so schön aus.

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