FORVM, No. 307/308
Juli
1979

Industrie bringt Elend

Entwicklungspolitik am Beispiel Mexiko

Der Verfasser hat zwei Entwicklungshilfeeinsätze, einen in Mexiko und einen in Obervolta, hinter sich. Das erste Land zählt zu den sogenannten Schwellenländern, also jenen Ländern, die scheinbar gar nicht mehr unterentwickelt sind, das zweite laut UN-Statistik zu den drei ärmsten Ländern der Welt. Die überraschendste Erfahrung dabei war, daß in Mexiko bei weitem mehr echtes Elend zu beobachten ist als in Obervolta. Warum das so ist, soll im folgenden Artikel untersucht werden.

Die Alten und die Hunde:
Nachhut des neuen Kolonialismus

Armes Mexiko, reiches Obervolta

Im vergangenen Jahr wurde die Weltöffentlichkeit mit der verwirrenden Nachricht konfrontiert, daß Mexico City „möglicherweise, wahrscheinlich“ die größte Stadt der Welt geworden sei. Diese Unsicherheit versteht man erst, wenn man die Stadt aus der Nähe gesehen hat. Der weitaus größte Teil besteht aus endlosen Elendsquartieren ohne Infrastruktur, Häuser aus Karton und Abfällen, in Straßen ohne Pflaster, ohne Kanalisation, teilweise ohne Wasser und manchmal auch ohne elektrischen Strom.

Die Bevölkerung dieser wilden Siedlungen, die rund zur Hälfte aus Analphabeten besteht, ist bei Befragungen kaum in der Lage anzugeben, wie viele Kinder sie haben, was auch dadurch erschwert wird, daß viele Männer mehrere Frauen (an verschiedenen Orten) und logischerweise (wenn auch nicht zugegebenermaßen) viele Frauen mehrere Männer haben. Bedenkt man noch, daß es keinerlei Meldepflicht gibt, wird man verstehen, wie schwierig es ist, eine halbwegs verläßliche Bevölkerungsstatistik abzuschätzen.

Die Entwicklung Mexikos ist gekennzeichnet durch einen besonders großen Technologie- und Kapitaltransfer seitens der USA. In der Liste der US-amerikanischen Auslandsinvestitionen liegt Mexiko hinter Kanada und Großbritannien an dritter Stelle. Von allen Entwicklungsländern ist es damit das am meisten „begünstigte“ Land, und man kann am Beispiel Mexikos anschaulich demonstrieren, was anderen Entwicklungsländern droht, sollten sie im Rahmen der Neuordnung der Weltwirtschaft ähnlich „begünstigt“ werden wie Mexiko.

Der Bauer hinterm Pfluge schritt:
Traditionelle Landwirtschaft in Mexiko

Gott ist weit, die USA sind nah

Dieser Kapitalstrom hat aber viel weniger entwicklungspolitische Gründe als ganz handfeste geographische und politische Ursachen, wie ein mexikanisches Sprichwort es ausdrückt: „Das Dilemma Mexikos ist, daß Gott so weit weg ist und die USA so nahe!“ Die USA wollen an ihrer Südgrenze Ruhe haben. Daher ist man gewillt, die sozialen Probleme nicht einfach durch Diktatoren unterdrücken zu lassen, sondern man versucht, diese Probleme nach amerikanischem Vorbild durch Wirtschaftswachstum zu beseitigen. Um so mehr, als eine diktatorische Politik nicht unbedeutende Profite abwirft.

Die Argumente für eine Entwicklungspolitik sind bekannt:

  • Neue Industrieanlagen sollen mehr Arbeitsplätze schaffen.
  • Verbesserung des Technologieniveaus soll die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt stärken.
  • Mehr Produktivität soll einen größeren Konsum erlauben.

Dennoch kann man heute feststellen, daß genau die gegenteiligen Wirkungen eingetreten sind. Die Arbeitslosenraten klettern exponentiell. Heute gibt es schon rund 10 Millionen Arbeitslose in Mexiko und schätzungsweise ebenso viele, die aus Arbeitsmangel in die USA emigriert sind. Die Handelsbilanz Mexikos wird immer defizitärer (abgesehen vom Erdöl). Nur drei Prozent der von multinationalen Tochterfirmen in Mexiko hergestellten Produkte werden exportiert.

Der Konsum breiter Volksschichten wird trotz wachsendem Bruttonationalprodukt immer geringer. Während bei einer Umfrage in Sta. Cecilia, einem Slumviertel von Guadalajara, der zweitgrößten Stadt Mexikos, vor sechs Jahren festgestellt wurde, daß die durchschnittliche Familie mit acht Personen einmal pro Woche 0,25 bis 0,50 Kilogramm Fleisch konsumierte, ergab eine ähnliche Umfrage am gleichen Ort vor einem halben Jahr, daß Fleisch „fast überhaupt nicht mehr“ auf den Tisch komme, da die Einkommen seit der letzten Umfrage kaum gestiegen seien, die Lebenshaltungskosten aber mehr als das Doppelte betragen.

Eine exakte Analyse der Gründe für diesen Fehlschlag ist kaum möglich, da die mexikanische Regierung seit einigen Jahren gewisse Daten über die finanziellen Auslandsverflechtungen geheimhält. Eine Reihe von praktischen Beispielen kann aber einen Ansatz zum Verständnis des Phänomens geben.

Maschine frißt Mensch- und Tierkraft:
Einzug der Technik in Mexicos Landbau

Immer mehr tote Kinder

Da ist einmal das Argument mit der Schaffung von Arbeitsplätzen. Überall werden Fabriken gebaut, leider aber vor allem in den Ballungszentren, die ohnehin schon an Umweltverschmutzung ersticken, weil die diesbezüglichen Kontrollen wesentlich sanfter gehandhabt werden als bei uns. Man will ja Investoren anlocken. Als vor zwei Jahren ein Arzt in Tula, wo die größte Zementindustrie Mexikos steht, die Firma Cementos Tolteca anzeigte, weil in den letzten Jahren mindestens 50 seiner Patienten an Silikose, einer Folge des dauernden Einatmens von Zementstaub, verstorben waren, wurde die Firma verurteilt — zu der „abschreckenden“ Geldstrafe von 10.000 Schilling!

Trotz dieses „guten Investitionsklimas“ entstehen aber bei weitem noch nicht genug Fabriken. Denn auf je zwei neu geschaffene Arbeitsplätze entfallen drei junge Leute, die gerade ins arbeitsfähige Alter kommen. Denn über allen Problemen Mexikos steht der enorme Bevölkerungszuwachs, der an die vier Prozent pro Jahr betragen dürfte.

Für diesen Zuwachs gibt es zwei gängige Erklärungen. Die eine besagt, es liege daran, daß die Kirche den Leuten die Empfängnisverhütung verbiete, die andere meint, die moderne Medizin sei schuld, weil sie die Kindersterblichkeit so drastisch gesenkt habe. Beide Hypothesen sind falsch. Das erkennt man, wenn man die Bevölkerungsstatistiken von zwei Bundesländern mit extrem verschiedener Wirtschaftsstruktur miteinander vergleicht. Und zwar betrachten wir das Land Mexiko — das ist das Bundesland rund um die Hauptstadt mit der größten Industriedichte — und das Bundesland Quintana Roo an der Ostspitze Yukatans, wo noch die traditionelle Plantagenwirtschaft herrscht.

Das Land Mexiko hat mit 11 Prozent Säuglingssterblichkeit den Rekord unter allen Bundesländern, und sie nimmt trotz der besten medizinischen Versorgung zu. Im Land Quintana Roo war dagegen in den Jahren von 1960 bis 1970, also in der Periode des ersten Einsetzens der Modernisierung, ein Absinken der ohnehin niedrigen Säuglingssterblichkeit von 5,2 auf 2,7 Prozent zu beobachten. Gleichzeitig stieg aber die Geburtenrate von 3,2 Prozent auf 6,3 Prozent, bei einer ungefähren konstanten Sterberate von 0,5 Prozent. Da nicht anzunehmen ist, daß die Kirche und sonstige Traditionen von 1960 bis 1970 strenger geworden sind, muß diese Zunahme auf die steigende Verelendung der Landbevölkerung zurückgeführt werden, in Übereinstimmung mit der Beobachtung des Klubs von Rom, wonach unabhängig von Nation und Kultur ein weltweiter Zusammenhang zwischen Elend und Geburtenrate besteht: Je ärmer, desto mehr Kinder.

Das neue Dorf:
betrunkenes Paar am Sonntagmorgen

Pepsi Cola knackt ein Dorf

Wie kommt es aber, daß das Elend auf dem Lande trotz Modernisierung zunimmt? Dafür gibt es leider eine Reihe von Argumenten, die zeigen, daß das Elend nicht trotz, sondern gerade wegen der Modernisierung zunimmt. Wie sich das abspielt, kann man sich etwa so vorstellen.

Denken wir uns ein traditionelles kleines mexikanisches Dorf, wie es leider heute kaum mehr welche gibt. Es liegt irgendwo ohne Straße drei Tagemärsche hinter den Bergen und sieht aus wie eine Kopie eines spanischen Dorfes aus dem 16. Jahrhundert, mit putzigen weißen Häusern mit roten Ziegeldächern und engen Straßen aus Kopfsteinpflaster. Die Bewohner sind großteils selbstversorgende Bauern, einige davon mit etwas mehr Grund (aber noch lange keine Großgrundbesitzer), haben Landarbeiter angestellt. Es gibt auch ein paar Handwerker im Dorf, das im Prinzip eine autonome Einheit ist. Der Gesundheits- und Ernährungszustand der Bevölkerung ist zufriedenstellend. Natürlich gibt es soziale Ungerechtigkeit, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was nun kommt:

Da die industriellen Ballungszentren mit Lebensmitteln versorgt werden müssen, baut die Zentralregierung die ländliche Infrastruktur aus. Um Lebensmittel vom Land in die Stadt zu bringen, braucht man Straßen. Im Sinne der „angepaßten Technologie“ baut die Regierung einen „camino de mano de obra“ (einen „handgemachten Weg“) in unser Dorf. Seine Bewohner bekommen für diese Arbeit eine für ihre Verhältnisse sehr hohe Bezahlung. Das dauert zwei bis drei Jahre lang. Die ersten Güter, die über die neue Straße in unser Dorf kommen, sind Pepsi Cola und Bier, beides in Dosen. Bald verschwindet das schöne Kopfsteinpflaster unter einer Schicht von verbeulten Aluminiumdosen, über denen noch an jedem Wochenende die Betrunkenen liegen. Die größeren Bauern haben Traktoren angeschafft und die Landarbeiter entlassen. Auch die Kleinbauern haben nach drei Jahren des leicht verdienten Geldes wenig Lust, in ihren mittlerweile verkommenen Wirtschaften weiterzuarbeiten. Man verpachtet oder verkauft sie also an den größeren Nachbarn. Aber auch von diesem Geld kann man kaum leben.

Die Handwerker haben andere Probleme. Während es früher nur alle paar Monate einen Markttag im Dorf gab, kommen nun laufend Wanderhändler mit Lieferwagen, die ihre Produkte anbieten: in erster Linie moderne Kleidung und Hausrat, meist viel teurer und qualitativ minderwertiger als die traditionellen handwerklichen Produkte. Aber sie können sie trotzdem absetzen. Denn erstens hat alles Moderne eine magische Anziehungskraft, und der Kauf von Industriewaren verschafft Prestige, und zweitens werden diese Dinge eben täglich angeboten, während der Handwerker nicht Zeit hat, sich täglich auf den Markt zu setzen. Andererseits haben die Wanderhändler kein Interesse, beim Handwerker einzukaufen, da er nicht die nötigen Stückzahlen liefern kann, um einen ganzen Lieferwagen zu füllen. Es ergibt sich der für klassische Ökonomen „unmögliche Fall“, daß jemand, obwohl er etwas besser und billiger herstellt, trotzdem nicht zum Zug kommt.

Zu diesen ökonomischen Zwängen kommen dann noch die kulturellen: Radio und Fernsehen mit US-amerikanischer Musik und ebensolchen Fernsehserien, wo man lernt, wie ein „zivilisierter Mensch“ zu leben hat. Und schließlich gibt’s ja jetzt auch eine Schule, mit einem Lehrer, den man von der Stadt wegen seiner notorischen Trunksucht strafweise aufs Land geschickt hat, und der, wenn er dreimal in der Woche auf eigenen Beinen stehen kann, Unterricht hält und dann natürlich nur die Segnungen des ihm verbotenen Stadtlebens preist.

Da wundert es wohl niemanden, daß vor allem die jungen Leute in die Stadt abwandern. Zwar zeigt die Statistik, daß es ihnen dort im Durchschnitt noch schlechter geht, aber davon erfährt im Dorf niemand etwas, denn keiner der Gescheiterten würde (als „Versager“) in sein Dorf zurückkehren. Zu Besuch — im dicken Auto — kommen nur die, die es „zu etwas gebracht haben“, womit der Sog in die Stadt noch verstärkt wird. Das Dorf entvölkert sich langsam.

Die neue Straße war von Anfang an sehr schlecht, aber nun beginnt sie zu verfallen. Die Versorgung der modernisierten Landwirtschaft mit Kunstdünger und Maschinenersatzteilen funktioniert oft nicht ausreichend, da die Anbauzeit natürlich in die Regenzeit fällt, wo Erdstraßen ohnehin besonders schlecht sind. Das ist allerdings nur einer der Gründe, warum Mexiko, früher ein Agrarstaat, heute weniger Lebensmittel produziert als vor dem Krieg und Agrarprodukte einführen muß.

Weitere Faktoren sind die Bodenerosion, da der ausgelaugte Boden den aggressiven Methoden der modernen Landwirtschaft nicht standhält, und nicht zuletzt die Korruption, typisches Merkmal einer von den USA und den Multinationalen unterstützten Führungsschicht. Der Ausleseprozeß funktioniert so, daß nur der Korrupteste an die Macht kommt.

Traditionelles Mestizendorf Patzcuaro/Michoacán

Drei Viertel leben in den Slums

Wir sind davon ausgegangen, daß moderne Industrie gebaut wird, um Arbeitsplätze zu schaffen. Dann haben wir gezeigt, daß die Bevölkerung schneller wächst als die Zahl der Arbeitsplätze. Dann haben wir gesehen, daß das rasche Bevölkerungswachstum eine Folge der zunehmenden Verelendung ist, und letztere ist wiederum eine Folge der Modernisierung und Industrialisierung. Es ist ein echter Teufelskreis.

Daß die Industrialisierung das Elend fördert, ist vielleicht noch nicht deutlich genug gezeigt worden. Beobachten wir nun, was der Landbevölkerung passiert, wenn sie in die Städte abwandert. Die meisten gehen natürlich in die Hauptstadt. Dort leben heute schon rund 14 Millionen Menschen. Die Bevölkerung der urbanisierten Teile verdoppelt sich alle zehn Jahre, die der Slums alle fünf Jahre. Im Jahre 1952 waren erst 14 Prozent von Mexiko City Elendsquartiere. Im Jahre 1966 waren es schon 46 Prozent, und heute dürften es schon 75 Prozent sein. Ein dicht verbautes Gebiet mit über 100 Kilometer Durchmesser!

Die Lebensbedingungen der Bevölkerung sind katastrophal. Jeder Dritte hat kein Wasser, weder im Haus noch irgendwo in der Nähe. Früher war das nicht ganz so schlimm, aber in der Zwischenzeit hat die Zahl der Hausanschlüsse in den bürgerlichen Wohnvierteln zugenommen, während die Zahl der öffentlichen Zapfstellen in den Slums gesunken ist. Drei Viertel der Häuser sind nicht an das öffentliche Kanalnetz angeschlossen. Strom gibt es in vielen Vierteln nur, wenn man ihn stiehlt, was allerdings relativ leicht ist, da alle Stromleitungen über Masten geführt werden. Viele Häuser sind nur aus Teerpappe und alten Brettern. Das sei nur ein Provisorium, wie die Bewohner dem Besucher immer wieder versichern, nur dauert dieses Provisorium bei vielen schon über zehn Jahre. Baumaterial ist rar. Denn da man nicht das Geld hat, das ganze Material auf einmal zu kaufen, langt es halt jede Woche nur für 100 Ziegel, die man dann am Sonntag aufschichtet. Dafür muß man aber dann das Dreifache zahlen wie im Großhandel. In Hütten mit einem Grundriß von fünf mal fünf Meter drängen sich Familien mit oft 10 bis 15 Kindern. Der ganze Raum ist praktisch ein großes Bett.

Die hygienischen Verhältnisse sind so trostlos, daß die Kinder — laut Aussage des staatlichen Gesundheitsdienstes — während der ersten zwei Lebensjahre rund 100 (!) Infektionskrankheiten überstehen müssen (eine Krankheit pro Woche). Beachtet man dann noch die niedrige Abwehrbereitschaft des Körpers bei Unterernährung, so wundert einen die steigende Säuglingssterblichkeit nicht mehr. Da können auch noch soviel Ärzte nicht helfen!

Bis 1965 schien es tatsächlich so, als gelänge es auch in Mexiko, die Kindersterblichkeit so zu senken wie in den Industrieländern. Der Einsatz von moderner Medizin, vor allem in den noch traditionellen Gebieten, wirkte sich sehr positiv aus. Aber 1965 kam die Wende. Die wachsende Industrialisierung bewirkte eine Verelendung, die jede Präventivmedizin illusorisch werden ließ. Ein Viertel aller Mexikaner sterben an Grippe und Lungenentzündung. Wer das nicht versteht, der lege sich einmal eine Regenzeit lang in eine Hütte aus Teerpappe, wo innen das Wasser knöchelhoch steht, bei Nachttemperaturen um fünf Grad Celsius.

Fast ebenso viele sterben an Durchfallerkrankungen, eine Folge davon, daß viele Menschen auf dem Müllabladeplatz ihre Lebensmittel zusammensuchen müssen. Die dritthäufigste Todesursache ist Gewalt, was ein bezeichnendes Licht auf das Zusammenleben in den Slums wirft.

Denn der Staat baut wohl prachtvolle Industrieparks, um Investoren anzulocken, aber für genügend Wohnungen reicht dann das Geld meist nicht mehr. Überhaupt findet nur jeder vierte, der in die Stadt kommt, tatsächlich Arbeit. Irgendwelche soziale Unterstützungen gibt es aber nicht.

Elendsquartier am Stadtrand von Gualdalajara

Wie die Multis abräumen

Soviel zu den Arbeitsplätzen. Ein weiteres Argument für die moderne industrie ist die Exportfähigkeit. Da Mexiko bis vor nicht allzu langer Zeit kaum Güter des „gehobenen Bedarfs“ selbst herstellte, dafür aber der Import dieser Dinge aus dem nördlichen Nachbarland sehr leicht war, kam man bald in arge Schwierigkeiten mit der Handelsbilanz. Um die Kauflust der reichen Mexikaner zu bremsen, verhängte man hohe Einfuhrzölle, die bei manchen Produkten wie Autos über 200 Prozent erreichten. Gleichzeitig umschmeichelte man die Multis, doch in Mexiko Niederlassungen zu gründen. Diese ließen sich das nicht zweimal sagen, denn die hohen Einfuhrzölle versprachen Sicherheit vor Konkurrenz. Nun kann man in Mexiko wesentlich teurer produzieren als anderswo und braucht trotzdem den Weltmarkt nicht zu fürchten. Der mexikanische Ökonom Wionczek errechnete, daß die durchschnittliche ausländische Tochterfirma in Mexiko rund 25 Prozent vom investierten Kapital als jährlichen Gewinn einstreift, und das, obwohl wegen der hohen Preise die Nachfrage so gering ist, daß nur 60 Prozent der installierten Kapazität der Fabriken ausgelastet ist.

Aber der hohe Preis ist nicht der einzige Grund für den mangelnden Export. Die Muttergesellschaften sind natürlich nicht daran interessiert, daß ihnen eine Tochtergesellschaft auf dem Weltmarkt Konkurrenz macht. Und das kann verhindert werden, selbst wenn die Aktien der Tochtergesellschaft zu 51 Prozent in den Händen von Mexikanern sind. Denn die Muttergesellschaft verkauft der Tochtergesellschaft ja alle Maschinen für die Produktion sowie Patente und Lizenzen und nicht zuletzt die Markennamen. Für diese Dinge werden so hohe Preise verrechnet, daß die Tochtergesellschaft kaum mehr Gewinne zu verzeichnen hat, und dann natürlich auch kaum Steuern zahlen muß. Nebenbei wird auf diese Weise auch kaum ein Gewinn an die mexikanischen Mitbesitzer ausgeschüttet. Lizenzen werden nur dann erteilt, wenn sich die Tochtergesellschaft verpflichtet, nichts zu exportieren.

Diese Gebräuche sind es, die zum Protest der Entwicklungsländer geführt haben, zur Forderung nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung. Es war ja auch der mexikanische Expräsident Echeverria, laut Wall Street Journal einer der zehn reichsten Männer der Welt, der mit seiner „Charta von der Rechten und Pflichten der Nationen“ die ganze Sache ins Rollen brachte. Natürlich wird ein mexikanischer Unternehmer von den Praktiken der Multis geschädigt. Aber von der neuen Weltwirtschaftsordnung erwartet er, daß sich ja nichts an der Art der Industrialisierung und des „Fortschritts“ ändert, sondern sie soll nur garantieren, daß an Stelle der Multis die Unternehmer der Dritten Welt fett werden.

Den Völkern der Dritten Welt die neue Weltwirtschaftsordnung kaum etwas nützen. Denn mit weiterer Industrialisierung und Technologietransfer ist dem Teufelskreis von Schaffung von Arbeitsplätzen und dadurch bedingter Bevölkerungsexplosion nicht beizukommen, um so weniger, als die neuen Technologien der Industrieländer immer weniger Arbeitsplätze schaffen. Das hat inzwischen auch schon die mexikanische Regierung erfaßt, die nach den schmerzlichen Erfahrungen der Vergangenheit nun wieder mehr auf die Förderung des bodenständigen Handwerks in den Dörfern setzt. Es bleibt abzuwarten, ob die übrigen Länder der Dritten Welt aus diesem Beispiel etwas lernen oder ob sie erst durch eigenen Schaden klug werden müssen.

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