FORVM, No. 176-177
August
1968

Innenpolitik von innen

Denken Sie sich Österreich in eine Menge Republiken und Republikchen aufgelöst, welch ein willkommener Grundbau zur russischen Universalmonarchie!

Franz Palacky, 1848

In der Tschechoslowakei hatte die Invasion kaum begonnen, da begann in Österreich bereits die Liniensuche der Bundesregierung. Doch die richtige Linie konnte nicht gefunden werden — weder am 21. August noch an einem der folgenden Tage. In seinen ersten Rundfunkerklärungen wagte Bundeskanzler Klaus nur Bemerkungen, wonach einem das Schicksal anderer Länder und Völker „nicht gleichgültig“ sein könne. Im Fernsehen war Klaus mit dem sowjetischen Botschafter zu sehen, und — was manche zur Weißglut brachte — während des ganzen Tête-à-tête mit dem Repräsentanten des Moskauer Gewaltregimes trug Klaus ein sonniges Lächeln zur Schau.

Als Reaktion auf Zeitungskritiken und unter dem Einfluß persönlicher Berater, wie Rundfunk-„General“ Bacher und Chefredakteur Dalma, riskierte der Kanzler am nächsten Tag eine weitere Erklärung, in der er die Hoffnung ausdrückte, das tschechoslowakische Volk werde sein Schicksal selbst „frei und unabhängig“ bestimmen können. Das war wieder den vorsichtigen Leuten, die darin eine unnötige, ja gefährliche Fleißaufgabe sahen, zu weitgehend. Es gab dann noch eine Reihe weiterer Erklärungen von Partei- und Regierungsseite, die das Bild der Unsicherheit und Ratlosigkeit komplettierten.

Beide Oppositionsparteien, die es freilich leichter hatten, fanden sofort kräftige Worte der Verurteilung sowjetischer Gewaltpolitik. Von einem Extrem ins andere fiel hingegen die ÖGB-Führung. Als erste Reaktion auf das brutale Vorgehen der Russen hat der ÖGB, der 1,6 Millionen österreichische Arbeiter und Angestellte vertritt, sein „Bedauern“ ausgedrückt. Diese eher bürgerlich-konventionelle Floskel wurde auch von Gewerkschaftern kritisiert.

Daraufhin wurde vom ÖGB zum Zeichen der Sympathie für das tschechoslowakische Volk ein Generalstreik von fünf Minuten Dauer ausgerufen. Auch wurden die Autofahrer ersucht, fünf Minuten anzuhalten, aber vorher brav an den rechten Straßenrand zu fahren, damit Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr, der Polizei und der Rettung nicht behindert würden. Das Pech war nur, daß dieser Akt der Demonstration zu spät kam. Es fehlte der spontane Charakter, und der Sympathiegeneralstreik fiel bereits auf einen Tag, an dem erstmals die Hochspannung abflaute.

Die Kritiker, auch jene im westlichen Ausland, nahmen hauptsächlich die Regierung Klaus aufs Korn. Als Beispiel für Standhaftigkeit in allen Krisenlagen wurde nicht ganz zu unrecht Julius Raab zitiert, der anläßlich der blutigen Intervention der Russen in Ungarn im Jahr 1956 als österreichischer Kanzler die sowjetische Gewaltpolitik schärfstens verurteilte.

Der Vergleich mit 1956 ist aber problematisch. Die Situation dürfte damals für die österreichische Bundesregierung in mancher Hinsicht leichter gewesen sein. An der Spitze des Kabinetts stand mit Julius Raab ein Mann, dem die Russen mehr vertrauten als jedem der heutigen Regierungs- und Oppositionspolitiker. Die Persönlichkeit Julius Raabs war in den Augen der Russen sozusagen die Golddeckung unserer Neutralitätspolitik. Auch war damals Österreich erst seit einem Jahr neutral, heute sind es 13 Jahre, in denen die Ansprüche an unsere Fähigkeit, die Neutralität zu erlernen, gestiegen sein dürften.

Angeblich haben diesmal die Nachrichten über Truppenkonzentrationen in der ČSSR ein bedrohlicheres Bild für Österreich ergeben als im Jahr 1956 beim Ungarnaufstand. Die zahlreichen Grenzverletzungen sowjetischer Flugzeuge waren keineswegs nur „technische Pannen“, sondern systematische Aufklärungsflüge. Österreichs Botschafter in Moskau, der beauftragt war, schärfsten Protest einzulegen, wurde im sowjetischen Außenministerium vorerst nicht empfangen — was am Ballhausplatz die Besorgnis verstärkte.

Auch scheint es den Russen gelungen zu sein, bei inoffiziellen Gesprächen mit österreichischen Politikern mehr psychologischen Druck auszuüben als 1956.

Die österreichische Bevölkerung hat, soweit es bisher zu erkennen war, sehr unterschiedlich auf die ČSSR-Krise und auf das Verhalten der Regierung Klaus reagiert. In Westösterreich, beispielsweise in Salzburg, hörte man allgemein die Meinung, unserem Land drohe keine direkte Gefahr. In Ostösterreich, wo den Menschen die Erinnerung an die Russenzeit noch in den Knochen sitzt, breitete sich die Angst aus, vor allem am 24. und 25. August.

Es gab nirgends Hysterie, aber viele Österreicher waren besorgt, und Regierungspolitiker erhielten Dankschreiben wegen ihrer besonnenen und vorsichtigen Haltung. Scharf im Gegensatz dazu war die Meinung vor allem der jüngeren männlichen Bevölkerung und einiger unabhängiger Blätter, die von der Regierung auch in dieser heiklen Situation von Anfang an mehr Standhaftigkeit forderten.

Am 24./25. August herrschte im Bundeskanzleramt eine Stimmung, die einige Zeit später von einem Funktionär im derben Landserjargon so klassifiziert wurde: „Panik war’s keine, aber einigen Leuten ist ganz schön die Muffe gegangen.“ Allerdings war die Regierung Klaus durch die ČSSR-Krise nicht ganz überrascht worden. Schon Wochen vorher wurden im Bereich des Innenministeriums und des Verteidigungsressorts organisatorische Maßnahmen vorbereitet. Aber ebenso war man sich im klaren darüber, daß unser Land, falls es zum Äußersten käme, mit keinerlei Unterstützung von irgendeiner Seite zu rechnen hätte. Ein hoher Beamter sagte: „1968 erinnert mich weniger an 1956 als an 1938.“

An jenem Wochenende schienen Klaus und andere Regierungsmitglieder mit der Möglichkeit einer Teilbesetzung Österreichs durch die Russen zu rechnen. Im kleinsten Kreis diskutierte man die Verlegung der Bundesregierung nach dem Westen. Nationalbankpräsident Schmitz wurde wegen des Goldschatzes konsultiert. Nach Abflauen der Krise wurde abgestritten, daß man die nicht nur aus Verfassungsgründen schwierige Frage einer Verlegung des Regierungssitzes von Wien nach Linz oder ins Ausseerland ernstlich diskutiert hätte. Es sei nur um die Frage gegangen, ob es zweckmäßig sei, alle Regierungsmitglieder in Wien zu konzentrieren. Einhellig sei man der Meinung gewesen, daß Vizekanzler Withalm, der bei der ersten Ministerratssitzung nach Ausbruch der ČSSR-Krise dabeigewesen war, wieder in seinen Urlaubsort im Mariazeller Gebiet zurückfahren soll. „Auch für die ČSSR-Regierung war es von Vorteil, daß nicht alle Minister in Prag weilten.“

Seit dem Jahr 1945 wurde eine vernünftige Politik in Österreich hauptsächlich durch ausländischen Druck begünstigt. Auch diesmal gibt es heilsame Auswirkungen, die freilich bald nachlassen können. Die Regierung Klaus hat nun gute Chancen, nicht nur das Budget in Ordnung zu bringen, sondern der Bevölkerung ganz allgemein plausibel zu machen, wie sehr Gemeinschaftsaufgaben heute vordringlich sind (Landesverteidigung, Sanierung der verstaatlichten Industrie).

Regierung und Opposition fanden rasch eine gemeinsame Basis nationaler Solidarität. SPÖ und FPÖ gaben sich wirklich große Mühe, ihren Unmut über manche Pannen der Regierung zu unterdrücken. Manche Sozialisten meinen zwar, Parteivorsitzender Dr. Kreisky sollte etwas härter reagieren und auch öffentlich seine Meinung über das Verhalten der Regierung Klaus deutlich äußern. Aber Kreisky vermied es bisher, eine öffentliche Kontroverse auszulösen. In bürgerlichen Kreisen rühmt man das als wahre staatspolitische Gesinnung.

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