FORVM, No. 249/250
September
1974

Kulissenstadt

Werden die Wohltäter erschossen?

Am Westrand von Wien, in Hadersdorf-Weidlingau, wurde vor kurzem ein Erziehungsheim für Kinder und Jugendliche eröffnet, das sich von herkömmlichen Heimen unterscheidet: die „Stadt des Kindes“; laut Prospekt ein „pädagogisches Experiment ohne Vorbild“.

Dieses ehrgeizige Projekt wurde von der früheren Wiener Stadträtin für Wohlfahrtswesen, Maria Jacobi, initiiert, von Architekt Anton Schweighofer entworfen, von der gemeindeeigenen Wohnbaugesellschaft Gesiba auf einem Areal von 48.000 qm um 194 Millionen Schilling gebaut und von der Stadt Wien finanziert. Das Heim bietet 200 Kindern im Alter von drei bis 15 Jahren Platz; angeschlossen ist ein Lehrlingsheim („Internat“) für 30 Mädchen und 30 Burschen zwischen 15 und 18 Jahren.

Stadt des Kindes: Hauptstraße

Von fern wirkt die „Stadt des Kindes“, als wollte sie auf und davon fliegen — ein großer Vogel, die schrägen Schwingen aus Glas an den Steinleib gepreßt, nur darauf wartend, bis der Wind der Geschichte umschlägt: ein Wolkenkükensheim. In seinem Inneren jedoch bleibt alles hübsch auf dem Teppich.

Was die Gemeinde Wien anderswo versäumte, wurde in der „Stadt des Kindes“ doppelt und dreifach nachgeholt; im Gegensatz zur verzweifelten Monotonie der Großfeldsiedlung etwa entstand hier ein adrettes Schmuckkästlein, eingebettet in Wiesen und Wald, das vor ausgeklügelten architektonischen Details nahezu platzt. — Es ist übrigens kein Zufall, daß diese Kinderstadt ausgerechnet so weit draußen im Wienerwald liegt: auf ihrem Areal war zuvor das berüchtigte Lager Auhof, ein Durchzugslager für Flüchtlinge, später eine Art Slum — es wurde aufgelöst, die Baracken wurden niedergerissen. Mit scheelen Blicken sollen die Anrainer den Neubau verfolgt haben.

Die „Stadt des Kindes“ ist eigentlich keine richtige Stadt, vielmehr ein kunstvoll und raumsparend ineinander verschachtelter Gebäudekomplex, in dem eine Unmenge von Einrichtungen Platz findet. Um eine Mittelachse, sozusagen die Hauptstraße, die viermal von Querbauten unterbrochen wird, lagern sich auf der einen Seite die Familienhäuser, auf der anderen Seite die Jugendhäuser und „Freizeiteinrichtungen“: im „Spiel- & Sport-Zentrum“ gibt es ein großes Schwimmbad, eine Turnhalle, Räume für Billard und Tischtennis, eine Sauna; auf der Hauptstraße befinden sich ein Laden, Friseur, Arzt, Büffet; die Kirche ließ man im Dorf. Auf den Wiesen davor, gegen den Wald zu, erstrecken sich weitere Sportanlagen: Fußballplatz, Minigolf, Leichtathletik, Tennisplatz.

In dieses progressiv-bürgerliche Disneyland kommen aber nicht die verwöhnten Sprößlinge elitärer Eltern, sondern Kinder aus den „untersten Unterschichten“, wie ein Erzieher es formuliert, die von Fürsorge und Jugendamt eingewiesen werden. Leichte Fälle zwar, die keine Sonderbehandlung brauchen, und für Langzeitunterbringung bestimmt, um sie „ohne erzwungenen Gehorsam ... zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft“ heranzuziehen (laut Prospekt).

Wie sieht nun dieses „ausgereifteste Modell eines modernen pädagogischen Konzeptes“ (Maria Jacobi) aus?

Die „Stadt des Kindes“ hat fünf Familienhäuser, in jedem Haus leben zwei Familien; eine Familie oder Gruppe umfaßt zehn Kinder, Buben und Mädchen im Alter von drei bis 15 Jahren, sie werden von einer Erzieherin und einem Erzieher betreut, die einander abwechseln. Ihre Arbeitszeit beträgt 52 bis 59 Stunden pro Woche, als Aushilfe und Vertretung fungiert ein „Springer“. Die Betreuer haben ein eigenes Zimmer neben denen der Kinder, dort schlafen sie auch. Einmal pro Woche findet eine große Konferenz statt, mit „Fallbesprechungen“ und „Supervision“: therapeutischen Kontrollgesprächen, einer Art Gruppentherapie für die Erzieher. Jedes halbe Jahr sendet der Betreuer einen Führungsbericht an das Jugendamt; es steht ihm frei, ein Entwicklungsbuch über die Kinder seiner Gruppe zu führen.

Wie in einem Familienhaushalt verfügen die Erzieher über ein monatliches Budget von 8.000 Schilling, davon werden die Mahlzeiten, Kleidung, alle Anschaffungen bezahlt, übrigens auch die Gebühren für die Benützung der Sportanlagen (Tischtennis, Schwimmbad usw.), die aus pädagogischen Erwägungen nicht gratis sind. Die Kinder kriegen auch ein kleines Taschengeld: die Kleinen 20 Schilling, die Größeren 30 Schilling im Monat — damit werden sie freilich keine großen Sprünge machen! Sie sollen lernen, „sich das Geld einzuteilen“.

Anders als im gängigen Familienmodell hat jede Gruppe auch eine eigene „Wirtschaftshelferin“, und die großen Mahlzeiten, Mittag- und Abendessen, werden aus der Zentralküche fertig in die Wohnungen geliefert, bloß das Frühstück bereiten die Betreuer in der Küche selber zu.

Jede Wohnung ist in zwei übereinanderliegende Etagen gegliedert, die durch eine Treppe verbunden sind, und hat zwei Terrassen; in einem Familienhaus teilen sich jeweils zwei Gruppen einen Hobbyraum.

Familie Numero zehn in Haus drei gilt als „Versuchsgruppe“: hier fehlt der Mann im Haus — zwei Frauen betreuen die Kinder („die am besten erzogenen von der ganzen Stadt!“). Während die Kinder der übrigen Gruppen mit ihren Erziehern per du sind und sie bei ihren Vornamen anreden, läßt sich Betreuerin Anita mit „Tante“ titulieren.

Tante Anita führt richtig Haushalt; sie ist gerade beim Bügeln, im Nebenraum rotiert die Waschmaschine. Frau Anita kalkuliert genau, sie näht den Mädchen die Kleider selbst — sie hat einmal Schneiderin gelernt —, den Stoff dazu beschafft sie sich im Ausverkauf; sie backt den Kindern einen Strudel zum Frühstück, das reicht länger und kommt billiger als das Geld für die Semmeln. Von den Monatsbudgets konnte sie bereits einiges auf die Seite legen: das Ersparte soll für einen Italienurlaub mit den Kindern langen, denn die möchten so gern das Meer sehen.

Ihre Gruppe ist seit März dieses Jahres hier, sie besteht aus sechs Geschwistern, nochmals zwei Geschwistern und zwei Einzelkindern, davon ist eines ein schwieriger Fall, ein Heimkind von Babybeinen an. (In einer Gruppe werden nur höchstens zwei schwere Fälle aufgenommen.) Ihr Liebling ist die 11jährige Elfi O., die zu den sechs Geschwistern gehört, ein begabtes Kind, stolz zeigt Tante Anita einige Zeichnungen: „gar nichts abgepaust“! Von Elfi stammt auch die melancholische Prinzessin an der Zeichenwand im Hobbyraum. Ob Elfi später einmal auf die Akademie gehen kann?

Elfi O., 11 Jahre: Prinzessin (Ölkreide auf Wand)

In den Zimmerchen — die größeren Kinder haben ein eigenes Zimmer, die kleineren wohnen zu zweit — herrscht peinliche, geradezu neurotische Ordnung. Früher hing in den Klassenzimmern oft ein Spruch an der Wand:

Ordnung und Reinlichkeit
bilden die Grundlage
der Kultur

Das war den Kindern unverständlich, tagelang brüteten sie, was das eine mit dem andern zu tun und das Ganze zu bedeuten hätte. Die Kinder kamen zu dem Schluß: Ordnung und Reinlichkeit sind so zusarnmengeklebte Pappendeckel, sie bilden einen Fußbodenbelag; was drüberlatscht, ist Kultur.

Diese Kultur ist auch in der „Stadt des Kindes“ dicke da, zusammengefaßt im unvermeidlichen „Zentrum“.
KINO THEATER MUSIK BALLETT ZEICHNEN MALEN KERAMIK FOTOGRAFIE.

An „Freizeiteinrichtungen“ gehört dazu noch eine Diskothek. Im Kinderzoo stehen zwei Aquarien, ein paar Käfige und Schachteln mit Nagetieren: Meerschweinchen, Goldhamster und weiße Mäuse. Die Bücherei ist noch leer.

Spricht man mit den Erziehern, so erfährt man kaum Negatives, nichts von den unvermeidlichen Konflikten innerhalb der Gruppe; es gibt offensichtlich eine stereotype Anzahl herziger Anekdoten, bunte Abziehbildchen des pädagogischen Werkeltags. Doch kursieren auch Schauermärchen, etwa von jenen Kindern, die aus einem aufgelassenen katholischen Klosterheim vorzeitig in die „Stadt des Kindes“ kamen: sie wollten nur in der Unterwäsche baden. Gewisse verborgene Heimpraktiken und düstere Erziehungsmethoden kamen da zutage. Eine Sensation waren vor allem die mit Eßbarem gefüllten und dennoch unversperrten Kühlschränke: in den Nächten wurden sie von den Kindern geplündert; erst nach und nach merkten sie, daß sie sich auch ohne Raubzüge sattessen konnten. Auch die starken Affekte und Ausbrüche von Aggression werfen weder auf die Kinder noch auf die neue und ungewohnte Freizügigkeit ein schlechtes Licht, wie manche meinen, sondern einzig und allein auf die Heime, aus denen sie kamen. Anna Freud hat in ihrem Buch „Heimatlose Kinder“ in ähnlicher Situation ähnliches beschrieben.

Wie Architekt Anton Schweighofer erzählt, kam es unmittelbar nach der Ankunft der Kinder in der „Stadt“ zu einer unwahrscheinlichen, geradezu rauschhaften Phase der Kreativität, im Sprachlichen ebenso wie im Bildnerischen. Gierig sollen sich die Kinder auf alle bereitliegenden Materialien gestürzt haben; haufenweise seien Zeichnungen und Malereien entstanden. So kurz die Geschichte der „Stadt des Kindes“ erst ist, so viel wurde bereits versäumt. Diesen ersten Ausbruch und Befreiungsversuch der Kinder hat niemand festgehalten, die sprachlichen Exzesse sind verpufft, die Zeichnungen verloren. Dabei ist doch das Um und Auf der Pädagogik und umsomehr des experimentellen Erziehens die Chronik, der Chronist. Man denke nur an A. Makarenkos pädagogisches Poem „Der Weg ins Leben“: seine „Schilderung der individuellen und kollektiven Einwirkung und Gegenwirkung, der Spannungen, Konflikte und Lösungen auf jeweils höherer Stufe“ (A. M.) — ein dynamischer, dramatischer Vorgang!

Um der sozialen Isolation, der crux der herkömmlichen Heime, zu entgehen, ist die „Stadt des Kindes“ von keinen Mauern umgeben (außer jenen unsichtbaren und dafür umso wirksameren zwischen den Klassen). Auf einer Steintafel beim Eingang heißt es mit gewohntem Pathos: „Zum 50jährigen Bestehen der Republik Österreich beschloß der Wiener Gemeinderat die Errichtung der Stadt des Kindes. Mit ihrem Freizeit-Zentrum dient sie Kindern und Jugendlichen nicht nur als Heim, sondern auch als Ort sozialer Begegnung und geistiger Verständigung ...“

Die Integration der Heimkinder soll in erster Linie über das „Freizeit-Zentrum“ und die Sportanlagen vor sich gehen — Theatersaal und Schwimmbad. Alle Kinderstadtbewohner besuchen die öffentlichen Schulen der Umgebung, sie können Freunde von draußen ins Heim einladen, und die Eltern müssen sich nicht an fixe Besuchszeiten halten. Der Wegfall der Mauern macht angeblich alles möglich. Doch als ein Mädchen aus dem Heim von einem Lehrling aus dem Ort besucht wurde, verdächtigte man sie unerlaubter Liebesbeziehungen; ein Erzieher soll Vorschub geleistet, ein anderer ihn vor den Anwürfen verteidigt haben. Die Sache wurde nie ganz geklärt, die beiden Erzieher und fünf Sympathisanten wurden jedenfalls fristlos und ohne Angabe von Gründen entlassen, zwei weitere gingen freiwillig. „Freundschaften mit den Stadtbewohnern sollen gefördert werden, um Isolation zu vermeiden ...“ — heißt es im Prospekt.

Ein typisches Beispiel dafür ist der famose Ballettunterricht in der „Stadt des Kindes“. Das Ballettgehopse der Mädchen hat reinen gesellschaftlichen Prestigecharakter und ist ein bürgerlicher Fetisch wie das Klavierspielen. Natürlich meldeten sich zu diesem Unterricht fast nur Kinder aus den Villen der Umgebung. Auch mit der Infrastruktur hapert es: der Laden an der Hauptstraße der Kinderstadt, der auch für alle Auswärtigen gedacht war, verkommt — die Leute decken sich lieber aus den nahegelegenen billigeren Supermärkten am Stadtrand ein.

Architekten sind keine Dialektiker. Große schräge Glasdächer sind gewiß nützlich — sie machen die Wohnung hell, man kann in den Himmel schauen, doch ebenso wird man vom Himmel auch bewacht. Die vielen kreisrunden Löcher, die Ein-, Aus- und Durchblicke in der „Stadt des Kindes“ sind gewiß vorhanden, um vergessen zu machen, daß es Mauern gibt: man guckt hindurch, gleichzeitig kann man aber auch von überall gesehen werden. Ein Architekt müßte wissen, daß die Dinge sich in ihr Gegenteil verkehren können, sich gegen den Erbauer oder gegen den Benützer wenden. Während einer Führung durch die Stadt des Kindes gerät die Gruppe in einen Hobbyraum, in dem es fürchterlich stinkt. Architekt Schweighofer hält sich die Nase zu, stürzt zum Fenster, reißt es weit auf. Wie schade, daß hier keiner mehr zeichnet und malt! Nun trocknen da drin die angepinkelten Matratzen.

Bei Ernst Bloch, in den „Spuren“, findet sich die Geschichte eines Millionärs, der einem jungen Arbeiter für ein Jahr lang ein ebenso luxuriöses Leben ermöglicht, wie er selbst es führt — unter einer Bedingung: der Arbeiter, ein Bergmann, muß danach wieder zurück in seine Kohlengrube. Er tut es, reißt aus, macht seinen vermeintlichen Wohltäter ausfindig und erschießt ihn.

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