Liebe Leserin, lieber Leser!
Als die Redaktion an einem der ersten wärmeren Frühlingsabenden beschloss, einen Sexualitätsschwerpunkt zu gestalten, sprudelten die Ideen nur so und es waren die Freude und Aufregung spürbar, sich hier auf — für alle Redaktionsmitglieder mehr oder weniger — publizistisches Neuland zu begeben.
Die so entstandenen Artikel sollten auch als Erkundungen gelesen werden, als — durchwegs persönlich gefärbte — Spurensuche in dem vieldimensionalen Raum der Sexualität, wie sie uns im Bereich des Politischen, der kulturellen Produktion, der gesellschaftlichen Hierarchisierungen, der sozialen Beziehungen und der diskursiven Ein- und Ausschlüsse begegnet.
Sexualität — und damit ein wesentlicher Teil von Selbstbestimmung — unter äußerst schwierigen Bedingungen thematisieren Hannah Fröhlich und Elisabeth Löffler. Utta Isop verfolgt die programmatische Forderung nach einem umfassenden — im doppelten Wortsinn — Begriff von Sexualität. Heribert Schiedel und Ljiljana Radonic liefern eine sehr spannende Lektüre von Sexualitätskonzeptionen bei Marcuse und Adorno. Die Artikel von Günter Hefler / Eva Krivanec, von James R. Moser und von Heide Hammer / Gabriele Resl beschäftigen sich mit — sehr unterschiedlichen — Thematisierungen von Sexualität in künstlerisch-kulturellen Produkten und deren Rezeption. Schließlich stellt Lazy S ein jüngst erschienenes Einführungsbuch zu feministischer Theorie von Andrea Trumann vor, das einen spannenden Ein- und Überblick aus kritischer Perspektive bietet. Die Radierungen von Anna Mitterer (siehe unten) ergänzen den Schwerpunkt um eine zusätzliche reflexive Dimension.
Daneben können wir noch mit dem zweiten Teil des Artikels zu Austrofaschismus und portugiesischem Estado Novo aufwarten, die Serie zu Israel wird diesmal — bevor in der nächsten Ausgabe ein Interview mit Benni Morris erscheint — mit einem Artikel zur Generation der sog. „Neuen Historiker“ in Israel von Karl Pfeifer fortgesetzt. Außerdem finden sich auf den letzten Seite dieser Doppelnummer eine Fülle von Rezensionen aktuell erschienener Bücher, so etwa Zeev Sternhells „Faschistische Ideologie“ (rezensiert von Mary Kreutzer), eine Sammelrezension von Thomas Schmidinger zu den vielen Publikationen, die sich mit den Ereignissen des 11. September auseinandersetzen, mehrere „Shorties“ zusammengestellt von Stephan Grigat und ein Sammelband mit dem Titel „Gedächtnis und Geschlecht“.
In diesem Sinne wünschen wir eine anregende Lektüre und danken auch noch allen AbonnentInnen sehr herzlich für die Unterstützung unserer Zeitschrift durch Abo-Beiträge. Denn, um seit langem wieder einmal Bert Zöchling zu zitieren: es gibt keine Öffentlichkeiten — es sei denn, wir bilden sie!
November 2002
Anna Mitterer — Piktogramme — Eine Gefangene ihres Unterleibes
Die Radierungen illustrieren einen von Männerphantasien geprägten Aspekt weiblicher Sexualität. Dem gefühlskalten Piktogramm wird eine emotionelle Illustration entgegengesetzt. Diese kann als Symbol für die allgemeine, sexuelle und kognitive Unterdrückung der bürgerlichen Frau des ausgehenden 19. Jahrhunderts und als Teil der noch immer aktuellen Unterdrückungsgeschichte gesehen werden. Der dargestellten „Hysterikerin“ und späteren Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim (bei Breuer/Freud der Fall Anna O.) werden weder der Kopf noch eine eigene Geschlechtlichkeit zugestanden. Sie steht für all jene Frauen, die Opfer des alten männlichen Vorurteils wurden, dass die Hysterie eine Reflexneurose weiblicher Genitalerkrankungen sei.