Nationale Koalitionen
Die SPÖ/ÖVP-Koalitionsregierung hat sich mit ihrer EU-Kampagne das Grab selbst ausgehoben. Nun übernimmt das offizielle Österreich Haiders Parole „Österreich zuerst“.
Wer, wie die abgetretene österreichische Bundesregierung, vorgibt, an der Einsparung einiger Milliarden gescheitert zu sein, und gleichzeitig zum Vorwurf — die beabsichtigte Währungsunion der EU wird in den nächsten Jahren etwa 150 bis 200 Milliarden Schilling zusätzlich kosten — schweigt, der ist zumindest fahrlässig.
Zehn Monate nach dem formellen EU- Beitritt des Landes kracht es ganz gewaltig im Gebälk des Lügengebäudes. Schon die zweite Budgeterstellung des drittreichsten Unionslandes, die nach Maastricht-Vorgaben erfolgte, scheiterte. Der Richtungsstreit, der zu Neuwahlen zwingt, ist bloß die politische Seite eines Sachzwangs. Die zur Pflicht erhobene Wirtschafts- und Fiskalpolitik der Europäischen Union zwingt — ernstgenommen und den Willen Kerneuropa anzugehören vorausgesetzt — zum Aufdecken der bis dato unter dem Tisch gehaltenen Karten. Der Richtungsstreit entzweit nicht die Koalition, der Richtungsstreit bringt die Wahl zwischen Egoismus und Solidarität auf die Tagesordnung. Der 12. Juni 1994 war kein Stichtag für die Auseinandersetzung um Solidarität und Weltoffenheit. Der 12. Juni führte in die Sackgasse auswegloser Alternativen: Abgestimmt wurde zwischen westeuropäischem Egoismus und nationalistischer Egomanie.
Fortschrittliche EU-Kritik stellte vor der Volksabstimmung die Frage, ob die Wahlberechtigten der egoistischen Abgrenzung ihre Stimme geben oder ob ein Zeichen gegen alltägliche Gewalt und das Marktgeschrei der Populisten gesetzt wird, deren Europaprogramme als nationale Urtöne durch die Lande schallen?
Mit vereinten Kräften stemmte sich die Bundesregierung gegen den Schildlausbefall durch Freiheitliche. Von der weltoffenen Alternative zum nationalistischen oder supernationalistischen Europa war schon nicht mehr die Rede.
EU-Lügengebäude
Der staatliche Kraftakt wurde um den Preis eines vielschichtigen Lügengebäudes erkauft. Die Preise für Verbrauchsgüter würden rapide sinken, die Arbeitslosigkeit abnehmen, jeder Österreicher könne sich über ein monatliches Zusatzeinkommen von 1000,— öS freuen, der grenzüberschreitende Verkehr würde erleichtert, einem Militärpakt träte Österreich selbstverständlich nicht bei, die Neutraliät würde beibehalten, niemand denkte an den Weiterbau an der „Festung Europa“, Österreichs Bauern würden die Hoflieferanten des europäischen Feinkostladens, Demokratie, Transparenz und die österreichische Sozialpartnerschaft würden in Kürze nach Europa exportiert, und die transitgeplagten Bevölkerungsteile schliefen hinkünftig ruhiger. Selbst die Segnungen der gemeinsamen Währungspolitik wurden mittels hochdotierter Werbeaufträge unters Volk gebracht. Am 12. Juni 1994 wurde sicherlich über erwartbare persönliche Vor- oder Nachteile abgestimmt, ebenso sicher wurde, durch die von der Regierung konstruierte Polarität zwischen „Freiheit und Haider“, über „das System“ abgestimmt. Nur, daß eben der Inhalt versprochener Freiheit Lüge war.
Die Europäische Union präsentiert sich nach wie vor als Wohlstands- und Friedensprojekt. Demokratie, Offenheit und friedlicher Interessenausgleich stehen jedoch der Realität der Ausgrenzung, Aufrüstung, Arbeitslosigkeit und sozialer Unsicherheit gegenüber. Auf dieses komplexe Bezugsgeflecht haben Europas Rechtsextreme eine einfache Antwort: Zwischen der Ukraine, Belgien und Österreich heißt die Losung des Europas der Vaterländer: „die Nation zuerst“. Sie bauen auf die Widersprüche innerhalb der Europäischen Union und nützen populistisch Unsicherheiten und Existenzängste. Wie im Falle der Ausländerpolitik antworten die Staatsspitzen mit der Annäherung an rechtsextreme Forderungen.
„Zuerst an Österreich denken“, appelliert Bundespräsident Klestil an die Österreicherinnen und Österreicher anläßlich der bevorstehenden Neuwahlen. Schon Anfang 1993 konkretisierte F-Chef Haider die Linie: „Österreich zuerst“, ein rassistisches Volksbegehren, das von einer halben Million Menschen unterzeichnet wurde. Etliche Punkte des Hai- derschen Forderungskataloges sind mittlerweile erfüllt. Auch die Errichtung einer eigenen Grenzschutztruppe zur Flüchtlingsabwehr. Zumindest in diesem Bereich nahm die SPÖ/ÖVP-Regierung den Auftrag der WählerInnen vom 12. Juni 1994 ernst. Die milliardenschwere Flüchtlingsjagd des Militärs wird um ein noch teureres Grenzschutzkonzept ergänzt, um dem Schengener Standard zu entsprechen.
„Österreich zuerst“ in den präsentierten Spielarten von blau bis rot-schwarz oder Solidarität, Weltoffenheit und Demokratie stehen heute zur Entscheidung.