Neuer Antisemitismus?
Gemeinsamer Nenner der siebzehn AutorInnen bzw. ihrer Beiträge im vorliegenden Sammelband ist die Behandlung der Frage, ob es denn überhaupt einen „neuen Antisemitismus“ gäbe und wo die Grenzen zwischen legitimer Kritik an der Politik der Regierung Israels und antisemitischen Ressentiments verlaufen. Ihrem Anspruch eine breite Palette an Positionen zu bieten, innerhalb derer seit Jahren in Europa, Israel und den USA über das Thema debattiert wird, können die Herausgeber zwar gerecht werden, zu breit werden sie jedoch da, wo antizionistischen Positionen Platz geboten wird, z.B. von jener amerikanischen Professorin, Judith Butler, die Universitäten aufruft, Investivkapital aus Israel zurückzuziehen um die Regierung wirtschaftlich unter Druck zu setzen, sich positiv auf den faschistischen Ideologen George Sorel bezieht und durch das ständige Wiederholen von der angeblichen „Tötung zahlreicher Kinder“, natürlich durch Israelis, „der Tötung von Kindern“, dem „Mord an Kindern“ und „dem Palästinenserkind, das durch israelisches Gewehrfeuer grausam getötet wird“, usw., traditionelle antijüdische Bilder und Motive evoziert. Den Deutschen falle es schwer, schreibt sie voller Verständnis, der Kritik „einiger jüdischen Stimmen“ zu widersprechen, die Ted Honderichs Buch als antisemitisch einschätzten, denn schon prasseln die Antisemitismuskeulen auf die Schädel der Unterdrückten.
Tony Judt’s Hauptthese lautet, dass „die Politik der israelischen Regierung (...) weitverbreitete antijüdische Gefühle in Europa und anderswo hervorgerufen hat“. Für Antony Lerman ist der neue Antisemitismus in erster Linie „ein Instrument, um jeglicher Kritik an Israel die Legitimität zu entziehen“ und „eine politische Waffe in einer weltweiten Propagandaschlacht“. Überhaupt fragt man sich, ob der Gründungsherausgeber des Antisemitism World Report diesen auch heute noch liest wenn er meint, dass Juden in der Gegenwart „Freiheit und Erfolg in präzedenzloser Weise“ erleben und vom bedrohlichen Anstieg von Antisemitismus nichts hören und sehen will. Moshe Zimmermanns proeuropäische und antiamerikanische Erklärungen zum neuen Antisemitismus runden diesen Teil, dessen Weglassen dem Buch nichts an inhaltlich anregender und analytischer Substanz genommen hätte, ab. Letzterer sieht als „Zündstoff für diesen Antisemitismus (...) — und dies dürfte seit dem 11. September 2001 allen deutlich sein — die Haltung der USA gegenüber den Ländern der „Dritten Welt“ beziehungsweise den muslimischen Gesellschaften.
Ein großes Verdienst des Sammelbandes hingegen ist die Übersetzung von Alain Finkielkrauts Text Au nom de l’autre, der in der vorliegenden Context XXI von Leonardo Cohen rezensiert wird. Andrei Markovits’ hervorragender Beitrag über Antiamerikanismus, Antisemitismus und Antizionismus in Europa beschreibt die historisch variierenden Haltungen der Eliten zum einen, der breiten Schichten zum anderen, in den USA sowie in Europa, wo gegenwärtig erstmalig eine solide Mehrheit der Elite sowie der Massen antiamerikanische Ressentiments teilen. Daniel Goldhagen zählt Beispiele für die neue Beschaffenheit des aktuellen Antisemitismus auf: die Symbolik, das Medium Internet, das Zentrum und die Wege der Ausbreitung, der Fokus, usw. Sein Anliegen, das „neue“ vom „alten“ klar abzugrenzen, kommt da am deutlichsten zum Vorschein, wo er als wichtigstes Element in seiner Aufzählung die Loslösung vom Christentum sowie von seinen Quellen im europäischen Nationsbildungsprozess des 19. Jahrhunderts behauptet. „Doch das Wiedererwachen des Antisemitismus in seiner neuen globalisierten Form macht klar, daß der Antisemitismus einmal mehr erfolgreich war — indem er eine Metamorphose durchlief und seine Reichweite erweiterte, bis hin nach Afrika und Asien.“ Goldhagen liegt jedoch auch da falsch, wo er ein weiteres „neues“ Merkmal zu sichten glaubt: „(...) erstmals auch in Teilen der Linken“ werde die Dämonisierung von Juden als Unterstützer der angeblich weltweit räuberisch agierenden Juden in anderen Ländern, betrieben. Er verkennt dabei, dass der moderne Antisemitismus seinen Ursprung auch in der prämarxistischen Linken hat, und nicht etwa wie oft angenommen, von rechts nach links gewandert ist: „Die Linke bis Marx war antisemitisch, als ganzes.“ [Context XXI Radiosendung Nr. 68 „Antikapitalismus (…)" id="nh1">1] Der Historiker Gerd Koenen wiederum will im gegenwärtigen Phänomen einer globalisierten Ausbreitung des Antisemitismus nicht die Wiederkehr alter Dämonen in neuen Gewändern sehen, sondern spricht von einer genuinen Neuschöpfung totalitärer Ideologien und Doktrinen, die auf die veränderte Weltsituation seit 1989 reagieren und den Rahmen dessen, was als „Antisemitismus“ gefasst werden kann, sprengen würden. Welchen Begriff vom Antisemitismus er dabei hat, bleibt schwammig und unbeantwortet. Ärgerlich beim ansonsten an Informationen reichhaltigen Text ist des Autors Hinweis, dass sich die Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen nicht als linearer Vollzug einer fixen Idee verstehen ließe, ohne darauf hinzuweisen, dass der Streit zwischen Intentionalisten und Funktionalisten trotz einer Annäherung der Positionen weiterhin ausgetragen wird. Die „Singularität“ der Shoah herauszuarbeiten bliebe nach wie vor notwendig, jedoch sei es problematisch für die Geschichtsschreibung, „sich der negativen Teleologie anzuschließen, die sich darin vermeintlich zeigt.“
Auch die weiteren Beiträge von Omar Bartov, Michael Walzer, Ulrich Beck, Thomas Haury, Jeffrey Herf, Ian Buruma, Robert Wistrich, Matthias Küntzel und Dan Diner sind unbedingt zur Lektüre und Auseinandersetzung empfohlen. Die Herausgeber des Sammelbands seien zum Abschluss gefragt, ob es tatsächlich keine Autorinnen gibt, die sich mit dem umrissenen Themenkomplex beschäftigen, außer Judith Butler, die im Buch eher als Beispiel dafür dient, wie der neue Antisemitismus auch im akademischen Bereich in den USA Fuß gefasst hat, denn als ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema.
Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. edition suhrkamp: Frankfurt am Main 2004, 336 Seiten, Euro 12,50.
[1] Heribert Schiedel in der Context XXI Radiosendung Nr. 68 „Antikapitalismus von Links und von Rechts. Einige Überlegungen zum Antisemitismus“. Zu hören unter www.contextxxi.at in der Rubrik „Hören“, „Eigenproduktionen“.