Opferstaat Österreich
Es war zu befürchten, dass das Gedankenjahr sich derart gestaltet: Österreich-Patriotismus an Stelle von kritischer Reflexion, nationales Wohlfühlen anstatt einer ungeschminkten Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und ihren Kontinuitätslinien in der Zweiten Republik. Zu diesem Anlass eine Rückblende auf den Opfermythos als zentralen Topos der österreichischen Vergangenheitspolitik.
Die von den Alliierten am 1. November 1943 verabschiedete Moskauer Deklaration bildet den Ausgangspunkt für die (Selbst-)Einschätzung Österreichs als erstes Opfer Hitler-Deutschlands. Am 27. April 1945 — im KZ Mauthausen und seinen Nebenlagern lief die Vemichtungsmaschinerie noch — erklärte sich die provisorische Regierung unter Staatskanzler Renner als von Deutschland unabhängig. Dies war die „Geburtsstunde des österreichischen Opfermythos“, [1] da sich Österreich auf die beiden ersten Absätze der Moskauer Deklaration berief, den dritten aber geflissentlich auszulassen wusste. [2] „Mit Hilfe der Opferdoktrin erteilte die Republik Österreich sich und der überwältigenden Mehrheit ihrer Bevölkerung die Generalabsolution.“ [3]
Die folgende Analyse verschiedener Dimension des österreichischen Umgangs mit der NS-Vergangenheit bezieht sich weniger auf das kollektive Gedächtnis der Zweiten Republik oder etwa auf die Bevölkerungsmeinung. Im Mittelpunkt der Betrachtungen werden vielmehr die Regierungspolitiken in Bezug auf die österreichische Mitbeteiligung am Nationalsozialismus stehen, wobei diese zweifelsohne in einer Wechselwirkung mit der Bevölkerungsmeinung stehen.
Interessant scheint nun vor allem, welche AkteurInnen mit welchen Mitteln den Definitions- und Interpretationskampf um Vergangenheit und Vergangenheitspolitik führen. „Es geht darum, gruppenspezifische oder gruppenübergreifende Geschichtsbilder festzuschreiben, symbolische Politik zu betreiben, den Erinnerungsdiskurs zu dominieren. Den politischen Eliten als Deutungseliten einer Gesellschaft, die das konstitutive Ensemble von grundlegenden Vorstellungen, Normen, Werten und Symbolen definieren, kommt hier besondere Bedeutung zu, sie verfügen über symbolisches Kapital und ringen um kulturelle Hegemonie.“ [4]
Für Österreich lassen sich hier — grob vereinfachend gesprochen — drei Sektoren festmachen, die sehr unterschiedliche Sichtweisen auf den Nationalsozialismus produzierten und postulierten: die großkoalitionären politischen Eliten von SPÖ und ÖVP mit der Opferthese, das deutschnationale „Dritte Lager“ und die kritische Zeitgeschichteforschung. Während es dem kritischen Teil der Wissenschaft vor allem um die Herstellung von Faktizität bei gleichzeitiger Dekonstruktion von Geschichtsmythen ging, konnte das „Dritte Lager“ mit dem staatlich etablierten Vergangenheitsdiskurs auf eine ganz andere Weise sehr wenig anfangen. „Das ‚dritte Lager‘ fühlte sich ausgeschlossen — und pflegte ein eigenes, alternatives Geschichtsverständnis.“ [5]
Im Gegensatz zu den beiden anderen Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“ wählte Österreich eine Externalisierungsstrategie und wälzte somit alle Schuld und Mitverantwortung an Deutschland bzw. ab 1948 an die BRD ab. Die DDR beschritt in ihrer Eigenbezeichnung als antifaschistischer Staat den Weg der Universalisierung des NS-Erbes über die Verbindung der konkreten Geschichtserfahrung mit der generellen Kritik an kapitalistischen Staats- und Gesellschaftsformen. Der BRD kam also die Rolle des eigentlichen Nachfolgestaates zu, was zu ganz spezifischen Formen der Internalisierung führte. [6] Diese Internalisierungsstrategie weist denn auch Elemente einer Universalisierung auf, wie sich an den bundesdeutschen Debatten zum Kosovo-Krieg 1999 aufzeigen lässt. [7] Die Schuld an den NS-Verbrechen wurde so in eine moralische Verantwortung für die kommenden Generationen transformiert. Ursachen, Folgen und AkteurInnen ausblendende Gemeinplätze wie Schicksal oder Tragödie und religiös gefärbte Begrifflichkeiten wie Sühneleistungen sind die diskursiven Zeuginnen für diesen Universalisierungsprozess. Dieser realisierte sich außerdem in einer generellen Ablehnungsfront gegenüber allen totalitären Regierungsformen — im Kontext des Kalten Krieges durch die Bezugnahme auf die Sowjetunion — eben auf Grund der deutschen Täterinnenschaft. „Er (der Antitotalitarismus, [Anm. d. Verf.]) rechtfertigte die neue geopolitische Rolle im westlichen Bündnis und ermöglichte die Abgrenzung vom Nationalsozialismus bei gleichzeitiger Verleugnung von dessen unbewältigter Erbschaft — der Antikommunismus fungierte dabei als ideologischer Kitt, der diese Strategien zusammenhielt.“ [8]
Es sind also fundamentale Differenzen zwischen den Vergangenheitspolitiken Österreichs, der DDR und der BRD erkennbar. So existiert in der bundesdeutschen Debatte eine Selbstreflexivität, die besonders bei vergangenheitspolitischen Skandalen — zumindest auf staatlicher, aber häufig auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene — deutlich zu Tage tritt. Auch setzten sich in der BRD die sogenannten „68erInnen“ mit ihrer nationalsozialistischen Elterngeneration auseinander, während dies die ohnehin nicht sehr umfangreiche Protestbewegung in Österreich unterließ. [9]
Double Speak
Der Begriff des Opfers nimmt im vorliegenden Kontext eine zentrale Stellung ein. So beinhaltet die gängige Bezeichnung Holocaust den religiös bzw. kultisch konnotierten Opferaspekt. Interessant ist hier anzumerken, dass die deutsche Sprache hier keine eigene Terminologie entwickelte, denn Begriffe wie Massenvernichtung oder die dem NS-Wortschatz entlehnte Endlösung greifen zu kurz, um die völlige Entrechtung, Vertreibung, Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung und anderer, den rassistisch-eugenischen Vorstellungen der NS-Volksgemeinschaft widersprechender Menschen sowie die Rolle der Wehrmacht bezüglich des „engen Zusammenhangs von Kriegsführung und Judenmord“ [10] entsprechend zu benennen. Opfer impliziert neben einer sakralen Komponente auch eine gewisse Anonymisierungsstrategie, die im Zusammenhang mit den umfassenden Viktimisierungsbestrebungen im postnazistischen Österreich gegriffen hat. Konkrete Opfer(gruppen) wurden nicht mehr benannt, plötzlich konnte jede/r einen Opferstatus für sich reklamieren.
Die österreichische Opferthese lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: „Österreich wurde im März 1938 gewaltsam besetzt und im April/Mai 1945 vom österreichischen Widerstand und den Alliierten befreit. Die Jahre 1938 bis 1945 wurden als Fremdherrschaft dargestellt.“ [11] Verbunden wurde dieses Geschichtsverständnis mit der so genannten Okkupationstheorie, wonach aus völkerrechtlicher Sicht auf Grund des Fehlens eines österreichischen Staates, „auch keine Mitverantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes (bestehe).“ [12] Verdrängt wurden damit jene Konstanten und Traditionen der österreichischen Gesellschaft und politischen Kultur, in denen Hitler — ein „Exportprodukt Österreichs“ [13] — sozialisiert wurde, antisemitische und antislawische Ressentiments weit verbreitet und teilweise sogar politisches Programm waren. Auch rückte die Involvierung unzähliger Österreicher in NS-Verbrechen — der Vernichtungskrieg in Ost- und Südosteuropa und die „Eichmann-Männer“ seien hier exemplarisch angeführt — mit der Etablierung der Opferdoktrin in die Zone des Verschweigens und Vergessens.
Das Abstreiten von Schuld am, Verantwortung für und sämtlichen Anknüpfungspunkten zum Nationalsozialismus ebnete im postnazistischen Österreich einer ziemlich persistenten Realitätsverweigerung den Weg. Andererseits entstand durch die negative Bezugnahme auf den nach Deutschland veräußerten Nationalsozialismus erstmals gleichsam ein genuin österreichisches Nationalbewusstsein.
Nochmals sei betont, dass der nach 1945 geschaffene Opfermythos ein Produkt des Konsenses der staatstragenden Eliten war, auch und vor allem um in den Verhandlungen mit den alliierten Siegermächten und bei Restitutions- und Entschädigungsforderungen zu reüssieren. Diese Vergangenheitspolitik war allerdings mit den Erfahrungen und Empfindungen weiter Kreise der österreichischen Gesellschaft keineswegs von Anfang an kompatibel (z.B. ehemalige NSDAP-Mitglieder und Wehrmachtsangehörige sowie das als ihre Repräsentationsinstanz fungierende „Dritte Lager“). Hier muss auch die Entstehung eines double speak als äußerst ambivalente vergangenheitspolitische Praxis eingeordnet werden: „Nach außen stellte sich Österreich als erstes Opfer und — mit Hinweis auf den österreichischen Widerstand — als antinazistischer Staat dar. In Österreich selbst wurde die Erinnerung an den Widerstand, vor allem aber an die Verbrechen des NS-Regimes marginalisiert oder als „kommunistisch“ diffamiert. Während bei den Verhandlungen um den Staatsvertrag die Forderung nach Streichung der Mitschuld-Klausel erhoben wurde, mit der Begründung, dass die Österreicher ebenso wie die Angehörigen anderer besetzter Gebiete gezwungen worden waren, „in der verhassten Kriegsmaschine zu dienen“, sprachen österreichische Politiker bei Kriegerdenkmalenthüllungen den ehemaligen Wehrmachtssoldaten ihren Dank für die Pflichterfüllung und Opferbereitschaft bei der Verteidigung der Heimat aus.“ [14]
Alliierte Täter
Die Tatsache, dass das militärische Eingreifen der alliierten Armeen dem Nationalsozialismus ein Ende bereitete, ist unumstritten. „Österreich befreite sich nicht aus eigenen Kräften vom Faschismus. Es ist als selbständiger Staat wieder erstanden, aber sein eigener Beitrag zu seiner Befreiung blieb (...) im Vergleich zu anderen Ländern (...) bescheiden.“ [15] Hätte sich die österreichische Gesellschaft also tatsächlich der Staatsdoktrin von 1945 gemäß als Opfer Nazi-Deutschlands gefühlt, so hätten die alliierten Streitkräfte eigentlich als Befreier empfangen werden müssen. Entnazifizierung, die juristische Ahndung österreichischer NationalsozialistInnen oder die Einladung zur Rückkehr von Vertriebenen nach Österreich wurden nur in der unmittelbarsten Nachkriegszeit und äußerst halbherzig betrieben.
Hauptsächlich hoffte die Republik, mit den wenigen und oft nur alliiertem Druck zu verdankenden Maßnahmen ihre Reputation bei den Alliierten zu verbessern. Den USA glaubte man im beginnenden Kalten Krieg am ehesten durch eine prononciert antikommunistische Haltung und das Verleugnen des österreichischen Antisemitismus zu imponieren, da die „amerikanisch-jüdischen Organisationen (...) nach Meinung der österreichischen Politiker über Macht, in den USA Schwierigkeiten für Österreich hervorzurufen, (verfügten).“ [16] Konträr zum „Liebeswerben“ um die US-amerikanische Gunst im Vorfeld der Verhandlungen zum Staatsvertrag gestaltete sich die Haltung gegenüber der UdSSR, die sich jedoch nicht nur aus dem Antikommunismus des neuerdings demokratischen Österreich, sondern auch aus historisch gewachsenen antislawischen Einstellungsreservoirs speiste. [17] So wurde die von einzelnen alliierten Soldaten an österreichischen Frauen verübte sexuelle Gewalt gewissermaßen in eine „zweite Vergewaltigung“ (nach der durch Deutschland 1938) umgedeutet, wobei sich die Gefühle der Ablehnung und des Hasses hauptsächlich gegen die sowjetischen Truppen kanalisierten.
Schlussstrichmentalität und Reintegration
Der 1951 bestellte ÖVP-Generalsekretär, Alfred Maleta, drückte den Wunsch nach einem Schlussstrich früh aus: „Wir kennen keine KZler, keine ehemaligen Nazi und keine Heimkehrer als Dauereinrichtung für die Zukunft. Das alles sind Erlebniszustände und Erziehungseindrücke der Vergangenheit, aber keine ideologischen Plattformen für die Zukunft (...). Wir kennen nur im harten Schicksalskampf der letzten Jahre geformte Österreicher, deren persönliche Erlebnisse im KZ oder an der Front, oder wo immer es gewesen sein mag, uns helfen sollen, die Probleme der Gegenwart und die noch größeren der Zukunft zu lösen“. [18] Auf sozialdemokratischer Seite war ein ähnlicher Tenor anzutreffen, galt es doch auch hier den neuen „Opfer-Österreicher“ zu schaffen. Die Arbeiter-Zeitung richtete jüdischen Überlebenden im März 1946 unter der Schlagzeile „Es gibt keine jüdische Frage“ aus, dass sie gegen einen „Sonderstatus für Juden“ sei, da diese „durch ihr Verhalten den Rassismus neu beleben.“ [19] Damit wurden nicht nur antisemitische Ressentiments bedient, sondern auch eine Perspektive geöffnet, die jüdische Verfolgte lange nicht als eigene NS-Opfergruppe einstufte. Die Tabuisierung und Stigmatisierung von verfolgten Roma und Sinti, auf Grund ihrer sexuellen Ausrichtung oder sogenannter „rassenhygienischer“ Argumente gepeinigter Menschen sowie von Wehrmachtsdeserteuren dauert unterdessen bis in die unmittelbare Gegenwart an.
Das Buhlen um die Stimmen der (ehemaligen) NationalsozialistInnen bei den Wahlen 1949 brachte die Entnazifizierung vorerst auf der politischen und justiziellen Ebene zum Erliegen. Die so genannten minderbelasteten (ehemaligen) NationalsozialistInnen wandten sich bei weitem nicht alle dem Verband der Unabhängigen (VdU) als Partei des deutschnationalen Lagers zu. ÖVP und SPÖ waren sich mittlerweile über die wahlstrategische Wichtigkeit einig, sie zu amnestieren und zu (re)integrieren, sowie ihnen auch staatliche Fürsorgeleistungen zu gewähren. „Um möglichst viele Stimmen aus diesem 1945 noch versperrten Pool registrierter NSDAP-Mitglieder zu bekommen, konnte erst recht die sie bestimmende Vergangenheit nicht thematisiert werden.“ [20]
Um die Reintegration bzw. Viktimisierung ehemaliger Nazis und Wehrmachtssoldaten zu erfassen, muss jedoch noch ein zweites Moment österreichischer Vergangenheitspolitik mitgedacht werden. Mit den Überzeugungen und dem konkreten Erleben der meisten ÖsterreicherInnen war die Opferthese nämlich nicht kongruent. „Der von der Politik festgeschriebenen Deutung, dass die österreichische Bevölkerung nur unter Zwang ins NS-System integriert worden sei und gegen dieses Regime Widerstand geleistet habe, stand das Bedürfnis eines Großteils der Kriegsgeneration nach einer authentischeren, ihre Handlungen anerkennenden und ihren Status als Kriegsopfer und nicht als NS-Opfer hervorhebenden Erinnerung an die Jahre 1938 bis 1945 gegenüber.“ [21] Diese beiden konträren Erzählweisen — die staatliche Opferdoktrin einerseits, das Narrativ der Kriegsgeneration andererseits — wurden in einer fragmentierten, selektiven und äußerst widersprüchlichen Perzeption der österreichischen NS-Vergangenheit zusammengeführt.
Es etablierte sich jedoch gerade mit dem fortschreitenden zeitlichen Abstand von den unmittelbaren Kriegsereignissen ein weiterer Erzählstrang, der die als heroisch betrachtete Komponente der Kriegsteilnahme zurückdrängt und vielmehr in eine Richtung weist, in der Wehrmachtsangehörige und sogar SS-Mitglieder als „Opfer von Verführung und Befehlsgewalt“ wahrgenommen wurden (und werden).
Entschädigungsfrage
Die zeitlich ohnehin enorm verzögert einsetzende vergangenheitspolitische Diskussion spiegelt sich auch im Bereich der Restitutions- und Kompensationsleistungen wider. Der Logik der Opferthese folgend fühlte sich Österreich zuerst einmal gar nicht oder nur in einem äußerst eingeschränkten Rahmen zuständig, vor allem von Juden/Jüdinnen geraubte Güter, die ja inzwischen nicht zu vernachlässigende Profite für klar zu benennende NutznießerInnen abwarfen, zu retournieren oder finanzielle Entschädigungszahlungen für durch ÖsterreicherInnen (mit)verübte NS-Verbrechen zu leisten. „Fürs Zahlen war nach österreichischem Selbstverständnis die ‚Täterrepublik‘ Deutschland zuständig, fürs Kassieren etwa des sogenannten erblosen jüdischen Vermögens hingegen erklärte sich die ‚Opferrepublik‘ Österreich zuständig.“ [22]
Die über Jahrzehnte hinweg sehr spärlichen Maßnahmen lassen sich unter den Schlagworten Fürsorgeleistungen und verspätete Pflichterfüllung bei partiellem Verantwortungseingeständnis subsumieren. Eine grundlegende Änderung des vergangenheitspolitischen Paradigmas lässt sich jedoch auch in diesem Kontext nicht ausmachen. Durch die widersprüchliche Einteilung in bzw. Mischung von Opfergruppen erhielten gerade die am meisten betroffenen Menschen am wenigsten materielle Entschädigung (Juden/Jüdinnen, Roma und Sinti, aus politischen und so genannten „rassehygienischen“ Gründen Verfolgte). Vor allem unter dem Druck der Alliierten griff Österreich ab den 1950er Jahren dennoch zu zwei Maßnahmenbündeln: die Entschädigung der materiellen Verluste (z. B. durch Rückstellungsgesetze, Abgeltungsfonds, Kriegsund Verfolgungssachschädengesetz) und Bestimmungen vorwiegend mit Fürsorgecharakter (z. B. Opferfürsorgegesetz, sozialversicherungsrechtliche Regelungen, Hilfsfonds). [23] Den Opfern wurden aber viele Hürden in den Weg gestellt, so dass ihre Chancen zur Rechtsdurchsetzung oft gering waren. Rückgestellt werden konnte nur jener Besitz, der tatsächlich noch in der Form wie zum Zeitpunkt der Arisierung vorhanden war. Homosexuellen NS-Opfern wurde bis in die 1970er Jahre unter dem Hinweis auf die Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Beziehungen jegliche Entschädigung verwehrt. Sterilisationsmaßnahmen wiederum fielen nicht unter die für Kompensationszahlungen notwendige Kategorisierung typisch nationalsozialistischer Verbrechen. Die Anrechnung der Verfolgungsjahre für die Pensionsversicherung ist für manche Opfergruppen bis heute nicht gewährleistet, während dies für Wehrmachts- und SS-Angehörige sehr wohl möglich war und ist. Die bezahlten Summen waren und sind insgesamt gering und die erwähnten komplexen Zugangsregelungen zu Restitutions- und Kompensationsleistungen waren und sind vor allem für sozial schwächere Antragstellerinnen von großem Nachteil. Der Mythos vom Opfer Österreich zeitigte für die tatsächlich Verfolgten und Geschädigten ganz reale und oft auch existenzbedrohende Folgen. Auf Grund der gewaltigen zeitlichen Verzögerung im Bereich der Restitution und Kompensation drängt sich die Frage auf, ob die Republik nicht auf eine „natürliche“ Lösung des Problems durch Ableben der Antragsberechtigten — Erben können höchstens im Bereich der materiellen Rückstellung Ansprüche erheben — setzte.
Aus dem 1995 konstituierten Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus konnten erstmals fast alle ehemals Verfolgten eine einmalige Zahlung erhalten. Wiederum haftete dieser Maßnahme aber nicht die Gewährung eines Rechtes, sondern ein karitativer Beigeschmack an. Die Einsetzung der HistorikerInnenkommission 1998 sowie von mit Fragen zur Zwangsarbeit und Restitution befassten Regierungsbeauftragten kann als sehr später Schritt in Richtung Schuld- und Verantwortungseingeständnis gewertet werden. Es war schließlich die ab 2000 regierende Koalition aus FPÖ und ÖVP, die den Versöhnungsfonds und den Allgemeinen Entschädigungsfonds einrichtete und Zahlungsvereinbarungen mit der bzw. an die Israelitische Kultusgemeinde abschloss. „Die Entschädigungsverhandlungen werden aber wie eine lästige Pflichtaufgabe mit dem klar formulierten Ziel betrachtet, mit dem Abschluss des Vertrages (Stichwort ‚Rechtssicherheit‘) auch den Schlussstrich ziehen zu können. Gleichzeitig werden diese längst fälligen Aktivitäten als ‚humanitäre Geste‘ verkauft und die Verhandlungen euphemistisch als ‚Versöhnungskonferenz‘ tituliert.“ [24]
„Wir Österreicher ...“
Die politische Auseinandersetzung mit Geschichte beinhaltet immer auch die Konstituierung des Eigenen und des Fremden, das Entstehen von Wir-Sie-Diskursen und die Inklusion bestimmter Gruppen bei gleichzeitiger Exklusion anderer. Es kann als vergangenheitspolitische Konstante in Österreich angesehen werden, dass gerade ab den 1970er Jahren — als die Opferdoktrin erstmals vor allem auf wissenschaftlicher Seite langsam hinterfragt wurde — von staatlichen Eliten, aber auch von ziemlich breiten Teilen der Bevölkerung heftige Abwehrreaktionen gegenüber KritikerInnen des österreichischen Umgangs mit dem Nationalsozialismus hervorgerufen wurden. Die Kritik wurde dabei häufig als „Angriff von Außen“ aufgefasst und dargestellt.
Diese Konstruktion von Fremd- und Feindbildern rekurriert stark auf antisemitische Einstellungsreservoirs. Das zeigt sich bei der Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre bereits an der Person Simon Wiesenthals, wird aber besonders im Zuge der Waldheim-Auseinandersetzung 1986 deudich. „Hinter der ‚Kampagne‘ gegen Waldheim sahen seine Verteidiger und Anhänger ganz im Sinne der gefälschten ‚Protokolle der Weisen von Zion‘ eine internationale jüdische Verschwörung.“ [25] Die internationale Berichterstattung über die Ereignisse in Österreich sowie die Tatsache, dass Kurt Waldheim als Privatperson vom US-Justizministerium die Einreise in die Vereinigten Staaten verwehrt wurde bzw. wird, „führten Waldheims Sympathisanten und Verteidiger in den österreichischen Medien (...) auf den weltweiten Einfluss ‚der Juden‘ zurück.“ [26]
Im Zuge der bilateralen Maßnahmen der sogenannten „EU 14“ gegen Österreich auf Grund der Regierungsbeteiligung der FPÖ im Jahre 2000 wurde die „Brüsseler Bürokratie“ als „Außenfeind“ dargestellt. Der „nationale Schulterschluss“ wurde und wird aber besonders seit den 1970er und 80er Jahren regelmäßig auch von „Innen“ gehörig gestört, wofür eine kritische Forschung verantwortlich ist, die eine MultiplikatorInnenfunktion für Publizistik, politische Bildung an Schulen, Kunst und verschiedene Bereiche des zivilgesellschaftlichen Diskurses besitzt. Mitte der 1980er Jahre wurde der britische Historiker Robert Knight, der zur österreichischen NS-Vergangenheit und zum Umgang mit derselben forschte, zu einer Zielscheibe des offiziellen Österreich. Dies gipfelte gar in einer Aktion des Außenministeriums, heimische WissenschafterInnen aufzufordern, in ihren Arbeiten mehr zu einem positiven Österreich-Image beizutragen — wohl in Verbindung mit einer „apologetischen Hof(burg)-Historiographie, die einen neuen innen- und außenpolitischen Österreich-Chauvinismus, ohne Rücksicht auf wissenschaftlichen Anstand, mit allen ihr (...) zur Verfügung stehenden Mitteln durchdrücken will.“ [27]
Philosemitismus als neue Vergangenheitspolitik
Die Konstruktion vom Opfer Österreich lebt seit den 1990er Jahren im philosemitischen Kleid weiter. Gedenkreden und Mahnrufe von PolitikerInnen und auf publizistischer Seite sind geradezu gespickt mit Gemeinplätzen wie dem Bedauern über das, was den jüdischen Mitbürgern angetan wurde und der Bewunderung des jüdischen Beitrags zur österreichischen Kultur oder dem jüdischen Erbe Wiens. Eine diskursive Entwicklung, die übrigens auch vor der Wissenschaft nicht immer Halt macht. Ernst Hanisch bedauert etwa den Brain-drain durch die Vertreibung und Ermordung der österreichischen Juden/Jüdinnen mit folgenden Worten: „Die Vertreibung der kreativsten Talente leitete eine Verprovinzialisierung des intellektuellen Lebens ein, die bis weit in die Zweite Republik anhielt.“ [28] Österreich ist irgendwie schon wieder Opfer geworden: Es hat den Verlust prestigeträchtiger jüdischer Intellektueller zu beklagen.
Die philosemitisch verbrämte Perpetuierung des Opferstatus zeigt sich aber auch dann, wenn im Ausland lebende jüdische Überlebende zwar unter dem Titel Altösterreicher zu Empfängen eingeladen, die finanziellen Forderungen der Israelitischen Kultusgemeinde — die vor allem Sicherheitsausgaben betreffen — einfach abgeschmettert werden. Klezmer-Konzerte, die nostalgische Erinnerungen an eine auch durch die Mithilfe von ÖsterreicherInnen brutal zerstörte Lebenswelt zu wecken vermögen, boomen, aber junge jüdische Kulturinitiativen, die sich mit gegenwärtigen Zuständen kritisch auseinandersetzen, sind durchwegs mit einem Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit und Zuwendungen konfrontiert. Die Imagination des „guten Juden“, der individualisiert, vereinsamt und hoch betagt in Kindheitserinnerungen an Wiener Kaffeehäuser und an die schöne Landschaft im Salzkammergut schwelgt, wird hierzulande nicht selten instrumentalisiert. Treten aber Juden/Jüdinnen der Post-Shoah-Generationen in Form von Kultusgemeinden, jüdischen Organisationen oder des Staates Israel auf, scheinen die philosemitischen Lippenbekenntnisse rasch vergessen und die Staatsdoktrin vom ersten Opfer der NS-Aggression wird reaktiviert.
[1] Walter Manoschek: Verschmähte Erbschaft. Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus 1945 bis 1955. In: Reinhard Sieder u.a. (Hg.): Österreich 1945-1955. Gesellschaft — Politik — Kultur. Wien 1995, S. 94-106, hier S. 96.
[2] Österreich als das erste freie Land, das der Angriffspolitik Hitlers zum Opfer gefallen sei; die Besatzung Österreichs sei als null und nichtig zu betrachten. Österreich trage für die Teilnahme am Krieg an der Seite Hitler-Deutschlands Verantwortung der es nicht entrinnen könne.
[3] Thomas Albrich: Holocaust und Schuldabwehr. Vom Judenmord zum kollektiven Opferstatus. In: Rolf Steininger, Michael Gehler (Hg.): Österreich im 20. Jahrhundert. Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Bd. 2. Wien 1997, S. 39-106; hier S. 76.
[4] Günther Sandner: Hegemonie und Erinnerung. Zur Konzeption von Geschichts- und Vergangenheitspolitik. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1/2001, S. 5-17; hier S. 11.
[5] Anton Pelinka: Die geänderte Funktionalität von Vergangenheit und Vergangenheitspolitik. Das Ende der Konkordanzpolitik und die Verschiebung der Feindbilder. In: ebd., S. 35-47; hier S. 39.
[6] Vgl. Rainer M. Lepsius: Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches". In: ders.: Demokratie in Deutschland. Soziologischhistorische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen 1993, S. 229-245.
[7] Vgl. Norbert Frei: Erbantritt. Nationalsozialismus und Holocaust im Generationenwechsel. In: Martin Horvath u.a. (Hg.): Jenseits des Schlussstrichs. Gedenkdienst im Diskurs über Österreichs nationalsozialistische Vergangenheit. Wien 2002, S. 17-21.
[8] Sandner, a.a.O., S. 8.
[9] Vgl. Margit Reiter: Nationalsozialismus als historisches Erbe? Die zweite Generation in Österreich. In: Horvath, a.a.O., S. 20-33.
[10] Frei, a.a.O., S. 18.
[11] Heidemarie Uhl: Das „erste Opfer“. Der österreichische Opfermythos und seine Transformation in der Zweiten Republik. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1/2001, S. 19-34; hier: S. 21.
[12] Ebd., S. 22.
[13] Gerhard Botz: Österreich und die NS-Vergangenheit. Verdrängung, Pflichterfüllung, Geschichtsklitterung. In: Dan Diner (Hg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Frankfurt/Main 1987, S. 141- 152; hier: S. 147.
[14] Uhl, a.a.O., S. 25.
[15] Siegfried Matti, Karl Stuhlpfarrer: Abwehr und Inszenierung im Labyrinth der Zweiten Republik. In: Emmerich Tálos u.a. (Hg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. Wien 2002, S. 902-934; hier: S. 902.
[16] Albrich, a.a.O., S. 64.
[17] Vgl. Alexander Pollak: Vergangenheit und Reflexion. Konsens- und Streitlinien im Umgang mit der NS-Vergangenheit in Österreich. In: M. Sabrow u.a. (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. München 2003, S. 322-342; hier: S. 325.
[18] Zit. n. Matti, Stuhlpfarrer, a.a.O., S. 919.
[19] Zit. n. Albrich, a.a.O., S. 61.
[20] Pelinka, a.a.O., S. 37.
[21] Pollak, a.a.O., S. 323.
[22] Manoschek, a.a.O., S. 101.
[23] Vgl. Brigitte Bailer-Galanda: Die Opfer des Nationalsozialismus und die sogenannte Wiedergutmachung. In: Tálos, a.a.O., S. 884-901; hier: S. 888.
[24] Margit Reiter: „Gedächtnisort“ Generation — und wo stehen wir ZeithistorikerInnen? In: Horvath, a.a.O., S. 205-211; hier: S. 207.
[25] Albrich, a.a.O., S. 82.
[26] Ebd.
[27] Botz, a.a.O., S. 142.
[28] Ernst Hanisch: Der Ort des Nationalsozialismus in der österreichischen Geschichte. In: Tálos, a.a.O., S. 11-24; hier: S. 20.