FORVM, No. 169-170
Januar
1968

Österreich als dialogisches Zentrum

Thesen zur kulturellen Funktion Österreichs

Herbert Read [1] erklärte vor einigen Jahren, er habe nirgends so viele junge und vielversprechende Begabungen gefunden wie in Wien. Es gibt heute in Österreich eine wache Intelligenz; dies wird wohl am stärksten sichtbar in den bildenden Künsten, in der Architektur, in der Städteplanung; ihre Kühnheit kann sich jenem Problembewußtsein an die Seite stellen, das um 1900 Schüler Otto Wagners in ihren Entwürfen für Friedensstädte, Flughäfen, rotierende Baukörper, Verkehrsplanungen bekundeten. Die Namen und die Entwürfe dieser Männer hat eben erst Otto Antonia Graf dem nahezu totalen Vergessen entrissen.

Österreich ist ein reiches Land: in den allerletzten Jahren zeigt sich, daß neben einer jungen hochsensiblen, künstlerischen, schöpferischen Begabung auch in einigen Wissenschaften eine wache junge Intelligenz an den Tag tritt; neben ihr, in bedeutsamen Ansätzen sogar eine junge politische Intelligenz: ein Wunder nahezu, ein Mirakel in einem Lande, in dem sich breiteste Schichten der Bevölkerung seit Jahrhunderten daran gewöhnt hatten, von oben her regiert, verwaltet zu werden. 1908 schrieb Adolf Loos: „Wehe dem staate, dessen revolutionen die hofräte besorgen!“

Österreich ist ein reiches Land: froh und dankbar nehmen Menschen, die aus Ost und West nach Österreich kommen, hier wahr: es gibt hier eine Kultur des Geschmacks, eine Sensibilität, eine Offenheit, eine rasche Reflexion, eine Kunst des Gesprächs und der Auseinandersetzung, die dieses Land wirksam geeignet erscheinen läßt für Kongresse, für Begegnungen von Menschen, die in sehr verschiedenen geistigen und politischen Klimaten, in verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen beheimatet sind. Menschen, die sich in ihrem eigenen Staate kaum sprechen können, da sie durch unsichtbare Wälle von Mißtrauen voneinander abgemauert erscheinen, lernen einander hier, erstmalig kennen und schätzen.

Selbstverschuldete Unterentwicklung

Österreich ist ein reiches Land: seine sommerliche Festspielkultur zieht Menschen aus allen Himmelsrichtungen an, und die Produktionen einiger prominenter Kultur-Institute können sich, auf Weltreisen wie daheim, erstrangig behaupten.

Dennoch: „Das österreichische Unbehagen geht um und breitet sich aus.“ Mit diesem Satz eröffnete Barbara Coudenhove-Kalergi ihre Betrachtung zum österreichischen Nationalfeiertag [2] und fährt fort: „Es treibt seine Opfer in die Versumperung oder in die Emigration. Seine Symptome sind Verkümmerung der Wissenschaft wie Stagnation der Wirtschaft, Verprovinzialisierung und Apathie.“ Laut Horst Knapp entwickelten sich die Österreicher zu einer „Nation von Skilehrern und Stubenmädchen“. [3] Otto Schulmeister schreibt in seinem Buch „Die Zukunft Österreichs‘‘ ein Menetekel an die Wand: er schildert „eine in Jahrzehnten entstandene geistige Verkarstung“, stellt „das ungeheure Beharrungsvermögen des immer schon Dagewesenen“ dar, illustriert den „Triumph geistiger Trägheit‘‘, und fordert, ein Wort von Yeats abwandelnd: Österreich solle sich zur Wahrheit über sich selbst gesundschrumpfen.

Es gibt keinen einzigen Angehörigen der wachen Intelligenz, der schöpferischen Produktivität in Österreich, mag er nun Künstler, Maler, Bildhauer, Architekt, Wissenschafter, Techniker, Wirtschaftsmann sein, mag er dieser oder jener Partei nahe oder ferne stehen, dessen Lebensgefühl nicht durch diese Sorge geprägt wird: Österreich hat keine gute Zukunft mehr, wenn es nicht außerordentliche Anstrengungen macht, aus selbstverschuldeter Unterentwicklung sich frei zu kämpfen, so daß es fähig wird, seine eigene Zukunft selbst zu gestalten, und das heißt zunächst, vorzudenken, vorzuplanen, vor-zu-finanzieren.

Zwischen dem schöpferischen Österreich und jenen vielleicht fünfundneunzig Prozent unserer Bevölkerung, die im Zunftstaat Österreich in je ihren Interessenverbänden und Versicherungsanstalten ihr Auskommen finden, ihre Löhne und Gehälter, ihre Arbeit und ihre Nicht-Arbeit bezahlt und fix zugesichert erhalten wollen, besteht eine tiefe Kluft.

Das zukunftsträchtige, das zukunftsoffene Österreich der vielleicht drei Prozent Österreicher ist von den fünfundneunzig oder siebenundneunzig Prozent der zu immer neuen Siegen ausholenden Mehrheit noch nicht entdeckt worden. Adolf Loos spricht die Misere von 1967 im Jahre 1908 so an: „das tempo der kulturellen entwicklung leidet unter den nachzüglern. Ich lebe vielleicht im jahre 1908, mein nachbar lebt um 1900 und der dort im jahre 1880. Es ist ein unglück für einen staat, wenn sich die kultur seiner einwohner auf einen so großen zeitraum verteilt. Der kalser bauer lebt im zwölften jahrhundert. Und im jubiläumsfestzuge gingen völkerschaften mit, die selbst während der völkerwanderung als rückständig empfunden worden wären. Glücklich das land, das solche nachzügler und marodeure nicht hat.“ „Bei uns gibt es selbst in den städten unmoderne menschen, nachzügler aus dem achtzehnten jahrhundert, die sich über ein bild mit violetten schatten entsetzen, weil sie das violett noch nicht sehen können.“

Loos führt hier aus: „Wenn zwei menschen nebeneinander wohnen, die bei gleichen bedürfnissen, bei denselben ansprüchen an das leben und demselben einkommen verschiedenen kulturen angehören, kann man, volkswirtschaftlich betrachtet, folgenden vorgang wahrnehmen: der mann des zwanzigsten jahrhunderts wird immer reicher, der mann des achtzehnten jahrhunderts immer ärmer.“

Wir kommentieren kurz Adolf Loos mit der Frage: wie viele Menschen leben heute in Österreich, die im 20. Jahrhundert angekommen sind?

1919 erinnert Adolf Loos im Vorwort zu den „richtlinien für ein kunstamt“ [4] zum großen Thema: „Der Staat und die Kunst“: „Der mensch (der Österreicher) stellt sich dem heiligen geiste, dem sanctus spiritus, dem schaffenden geiste, dem creator spiritus, feindlich entgegen. Er wünscht ruhe. Glücklich lebt er in der gesicherten position, die ihm die großen der vorzeit bereitet haben. Daß er weiter soll, daß er seinen endlich erreichten, gesicherten platz verlassen soll, bereitet ihm unbehagen (wir kommentieren hier: das gilt heute für den Zunftgenossen in Hunderten von Betrieben, die längst stillgelegt oder umgebaut werden müßten, gilt für den Zunftgenossen in Zunftorganisationen der geschlossenen Wissenschaftsbetriebe ebenso wie in den Zünften der Unternehmerverbände und Gewerkschaften), und daher haßt er den künstlermenschen, der ihm die liebgewordenen anschauungen durch neue verdrängen will. Der widerstand, den die menschheit ihren führenden geistern entgegengesetzt, wird um so stärker sein, je größer die kluft ist, die zwischen volk und künstler, zwischen dem zeitgenossen und dem künstlermenschen sich auftut.“

Loos fährt fort: „Die zeitgenossen des künstlers gehören verschiedenen perioden an. In der gewesenen monarchie verteilten sich die einwohner auf die letzten tausend jahre. Im neuen österreich verteilen sich die menschen auf die letzten drei jahrhunderte. Sprechen diese zustände bloß für eine änderung aus ökonomischen gründen, so gebietet es der geist dem staate, dem künstlermenschen jene umgebung zu schaffen, die ihm die geringsten widerstände entgegensetzt. Die geringsten widerstände werden ihm menschen entgegensetzen, die nicht nur leiblich, sondern auch geistig seine zeitgenossen sind: menschen aus dem zwanzigsten Jahrhundert.“

Auf ins zwanzigste Jahrhundert!

Österreich wird sich nur dann gute Zukunft gewinnen, wird sich nur dann als lebensfähig erweisen und so auch kulturelle Funktionen (nur als Mehrzahl sinnvoll!) ausüben können, wenn es gelingt, immer mehr Menschen in das 20. Jahrhundert hineinzubringen. Gelingt dies nicht, dann bleiben alle kulturellen Gründungen, Stiftungen, Institutionen, Institute, Veranstaltungen eben dies: Insel-Produktionen, wie sie bereits der Glanz und das Elend unserer Festspiel-Revuen und Fassaden-Kultur präsentieren, ganzjährlich etabliert in Museen und musealen Institutionen.

Um die Größe der Gefahr und der Chance für Österreichs kulturelle Zukunft auch nur wahrnehmen zu können, bedarf es zunächst einer dreifachen Anstrengung:

  1. einer Entente cordiale der Spannungsmenschen in allen Dekaden, Berufen, Interessenverbänden,
  2. einer Begegnung und Zusammenarbeit der Menschen der schöpferischen Intelligenz und der politischen Intelligenz,
  3. einer möglichst breit angelegten Zusammenarbeit aller meinungsbildenden Kräfte, also der Presse, des Rundfunks und Fernsehens und aller Bildungseinrichtungen der Volksbildung, um eine Éducation permanente aufzubauen, eine lebenslange Weiterbildung also, so daß immer mehr Nicht-Zeitgenossen in die Gegenwart, die immer schon auch Zukunft ist, da sie Zukunft verbaut oder vorbaut, verstellt oder öffnet, eingeschleust werden.

Zum ersten Problemkreis: Entente cordiale der Spannungsmenschen in allen Dekaden, Berufen, Interessenverbänden. Barbara Coudenhove spricht den Österreich fehlenden „Treibstoff“ an, der die Kräfte unseres Volkes mobil machen soll. Otto Schulmeister fordert eine „Initialzündung“, um eben dies leisten zu können: den Entwicklungssprung, in die Zukunft.

Alle wachen Menschen sind sich in Österreich heute darüber klar: dies ist unser Thema Nummer eins — wie kann die überwältigende Masse von Trägheit überwunden werden? Unser Zunftstaat ist ja nur die Inkarnation der unheiligen Allianz dieser Trägheit mit der Lebensangst, Zukunftsangst, Todesangst, die in den Massen und in den Einzelnen steckt.

Diese unheilige Allianz, die heute die maßgebenden Menschen verbindet, die also die öffentliche Unordnung verwalten, in allen Zünften, Kammern, Wirtschaftsverbänden, Bünden, Gewerkschaften, Schulen, Hochschulen etc., kann durch eine Entente cordiale der jungen Menschen, der Spannungsmenschen zwar nicht aufgehoben, wohl auch nie besiegt werden (über eine gewisse Übermacht des Gemeinen und der Gemeinheit mag man bei Goethe nachlesen), wohl aber in der Öffentlichkeit gestellt, geprüft, zur Kontrolle eingefordert werden. „Der liebe Gott ist im Detail“: von Fall zu Fall ist das Skandalon sichtbar zu machen: das öffentliche Ärgernis, das immer wieder darin besteht, daß, um Ärgernis zu vermeiden, stillschweigend und so, als ob es sich um die natürlichste Sache der Welt handeln würde, das Mindere bevorzugt, der schöpferische Mensch ausgetrieben, die schöpferische Kraft abgetrieben wird.

Es gibt nun in jedem Lebensalter, in jeder Dekade, in jedem Beruf etwa drei bis allerhöchstens fünf Prozent Spannungsmenschen, das heißt innerlich junge, geistig und seelisch mobile Menschen. Menschen, denen man zutrauen darf, daß sie jene Essence, jenen Treibstoff und jene Initialzündung existentiell besitzen, die von Barbara Coudenhove und Otto Schulmeister (ich wähle hier bewußt zwei einander extreme Existenzen als Beispiele) gefordert werden. Diese drei Prozent junger Menschen, Spannungsmenschen, lassen sich bei sorgfältiger optischer Einstellung unter Mittelschülern finden (sie müssen keineswegs identisch sein mit den Trägern guter Noten oder gar mit sogenannten Vorzugsschülern), die sechzehn Jahre alt sind; sodann unter Studenten: Ich habe oft den Glauben bekämpft — es gäbe unter den österreichischen Studenten überhaupt keine jungen Menschen: Solche finden sich auch hier, sogar hier — eben in der Chiffrenzahl von etwa drei Prozent. Diese drei Prozent — man ist versucht, an das geheimnisumwitterte Wort der Bibel vom „heiligen Rest“ zu denken — finden sich in jeder Dekade: unter den Dreißigjährigen wie unter den Siebzig- und Achtzigjährigen. Diese drei Prozent junger Menschen, Spannungsmenschen, finden sich unter Ärzten und Lehrlingen, unter Theologen und Handarbeitern, unter Wissenschaftern, Technikern, Kaufleuten und Künstlern.

Die Angehörigen dieses „heiligen Restes‘‘ wissen oft nicht voneinander: da sie, Einzelne und Einsame oft, einander nicht kennen, werden sie als Einzelne geschlagen, erdrosselt, erwürgt — in Österreich meist in sanften Formen der Erpressung und Korrumpierung, die sie zum Selbstverrat zwingen. Die Häuser, die sie dann bauen, sehen dann eben so aus, wie die meisten Neubauten in Österreich in den letzten zwanzig Jahren.

Um diese drei Prozent junger Menschen in allen Kalenderjahrgängen und Berufen miteinander in Verbindung zu bringen, sollten Manager der öffentlichen Meinungsmache und andere keine Kosten scheuen: aus dieser für Österreich erstmaligen Entente cordiale könnte nicht zuletzt ein neuer österreichischer Film entstehen.

Wenn von Managern der Macht, hier zunächst der Meinungsmachtbildung, zu reden ist, dann bewegen wir uns bereits in das zweite Kraftfeld hinein, ohne das die Wahrnehmung kultureller Funktionen Österreichs undenkbar ist: es ist dies das schwierige Feld einer Begegnung und Zusammenarbeit der Menschen der schöpferischen Intelligenz und der politischen Intelligenz. Genauso wie ich gegen den Glauben stehe, es gäbe unter den Studenten Österreichs keine, überhaupt keine jungen Menschen, keine Spannungsmenschen, so stehe ich auch gegen den Glauben, es gäbe in Österreich überhaupt keine politische Intelligenz. Es gibt diese politische Intelligenz — auch wenn man sie im Ernstfalle nicht selten mit der Laterne suchen muß: es gibt sie, und sie dürfte ebenfalls etwa zwei bis drei Prozent innerhalb je ihrer Parteien und Weltanschauungsverbände einnehmen.

Kultur und Politik sind untrennbar

Eine apolitische Gesellschaft ist eine zutiefst ahumane, unmenschliche Gesellschaft: so etwa eine Gesellschaft einer schmalen Oberschicht, die es sich leisten kann, sich nicht mit Politik zu beschäftigen, da ihre Schlösser, Paläste, Kirchen und Festen von Tausenden, ja Millionen von Sklaven, für sie gebaut werden. Kultur und Politik sind nicht zu trennen: gerade die in unserem pubertären Zeitalter (in der Frühzeit des 20. Jahrhunderts also, in der Menschen blutige Regenten waren und z.T. noch sind, die noch nicht einmal im 18., geschweige denn im 20. Jahrhundert angekommen sind) so häufigen Perversionen, die Kultur zu einer Mache einer politisierenden Propaganda prostituiert haben, und dem genau entsprechend Politik, die hohe Kunst der Menschenführung, zur niederen Kunst der Menschenverführung entarten ließen (entartete Politik: das ist der einzige Fall von entarteter Kunst, den es gibt!), zeigen an, wie sehr Kultur und Politik das eine Schicksal des Menschen auf dieser Erde bilden, oder eben verbilden.

Die sehr bedeutenden Mittel, die zur Erfüllung von kulturellen Funktionen Österreich heute und morgen wird aufbringen müssen, können zunächst nur in Partnerschaft mit Politikern aufgebracht werden: diese, die Politiker, können in der für sie sehr anstrengenden Schule der Begegnung mit Angehörigen der drei Prozent ihre eigene Menschwerdung erfahren, und, aus Parteipolitikern zu Staatsmännern werden.

Eine Begegnung und Zusammenarbeit der Menschen der schöpferischen Intelligenz und der politischen Intelligenz wird nicht zuletzt durch diese harte Tatsache erfordert: durch die außerordentliche Schwäche, die diesen beiden möglichen Partnern eigen ist. In concreto können beide meist sehr wenig auf die breite Öffentlichkeit der 95 Prozent einwirken, in concreto können beide sehr wenig die notwendige Bewußtseinserhellung, Bewußtseinsänderung, Bewußtseinssteigerung produzieren, ohne die Österreich seine Zukunft, sich selbst verliert, und dergestalt kulturelle Funktionen weder sehen, also wahr-nehmen, noch übernehmen und ausüben kann. Es kommt also in geradezu fataler, Fatum-bezogener, schicksalhafter Weise auf eine möglichst breit angelegte Zusammenarbeit der Menschen der drei Prozent mit den Meinungsmachern in Presse, Rundfunk, Fernsehen an. Von der Produktivität dieser Zusammenarbeit hängt es ab, ob immer mehr Nicht-Zeitgenossen in die Gegenwart, die immer schon auch Zukunft ist, da sie Zukunft verbaut oder vorbaut, verstellt oder öffnet, eingeschleust werden.

Was aber ist für den wachen Österreicher, der gute Zukunft, also freie Menschenkultur in und um Österreich will, zu sehen?

Die Zukunft gehört den Nationen

Wie ist der Anschluß zu gewinnen, ohne den Österreich nicht Zukunft gewinnen, Zukunft sich erkämpfen kann? Wie ist der Anschluß in die Zukunft der Family of man, in der globalen industriellen Zivilisation des nuklearen Zeitalters, zu gewinnen?

Da ist dies zu sehen: die Zukunft der Erde gehört den Nationen. Den Nationen und den Nationalitäten. Die Weltrevolution des Menschen, die politischen Revolutionen, die industriellen Revolutionen, die künstlerischen Revolutionen bilden, seit dem „England erwache“ im 16. und 18. Jahrhundert, über die Revolution von 1789, über die im 19. Jahrhundert sich langsam ausfaltenden Bewußtseinsbildungen der Nationen und Nationalitäten in Europa einen einzigen weltgeschichtlichen Prozeß, der unaufhaltsam vorwärtsschreitet. Überall auf dieser Erde entstehen Nationen: in Afrika, in Südamerika, und auch mitten in unserem Europa. Überall auf dieser Erde ringen Nationalitäten innerhalb größerer staatlicher Gebilde um leibseelische, um spirituelle Eigenständigkeit: in afrikanischen künstlichen Großstaaten, wie in altehrwürdigen europäischen staatlichen Gebilden: in Schottland, und Irland, in der Bretagne und in der Normandie, in Sizilien und im Val d’Aosta, in Makedonien, in der Ukraine.

Die ganze Abseitigkeit, die in allen Bereichen des Lebens und Denkens Österreich so fatal als abständig charakterisiert, bekundet sich gerade auch in dieser Tatsache: Man will hierzulande geflissentlich diesen globalen Prozeß übersehen: den Prozeß der weltweiten Nationbildung und Nationwerdung, weil man sich eben einige Male die Finger, wohl auch die Seele verbrannt hat.

Dies ist endlich auch in Österreich zu sehen: Gerade der rapide Fortschritt in der Ausbildung einer globalen technisch-industriell-szientifischen Zivilisation, die zur Ausbildung einer Weltsprache und eines säkularen, weltlichen Credos führt — so daß erstmalig eine große Zeitgenossenschaft, in der einen Menschheit entsteht zwingt, mit der Urbanisation und einer totalen Technifikation, die Menschen dazu, gleichzeitig an einem Pole ihrer Existenz Weltbürger zu werden, und, an einem anderen Pole, elliptisch, sich zu beheimaten: eben in ihrer Patria, ihrer Heimat, ihrer Nation. Dies ist als ein Gebot einer mentalen, einer gesellschaftlichen, einer politischen Hygiene zu ersehen: Der Mensch, der, wie es Adalbert Stifter voraussah, „Allberührung“, All-Kommunikation wird leisten müssen, um sich in der Welt einer Welt-Wirtschaft, Welt-Wissenschaft, Welt-Technik, behaupten zu können, bedarf, um diese außerordentliche Beanspruchung, Einforderung, Reizung, zu ertragen, der Einwurzelung, des Enracinements: Das wissen de Gaulle und Mao, wissen afrikanische und südamerikanische Politiker, wissen Israelis und Araber, obwohl sie mental durch Jahrtausende getrennt sind. Das beginnen nordamerikanische Politiker, Urbanisten, Soziologen, Ärzte, Lehrer, Negerführer und einige weiße Senatoren zu erfassen.

Österreich muß Nation werden

Weltbürger werden gelingt also nur dort, wo gleichzeitig Einwurzelung in der Patria, im Vaterland, in der Nation gelingt. Österreich hat also nur diese Möglichkeiten — von ihrer Wahl hängen seine kulturellen Funktionen und seine gesamte Zukunft ab.

Österreich kann bewußt, erstmalig bewußt, an diesem globalen Prozeß der Personwerdung, der politischen Personalisation, in der Nationwerdung, teilnehmen. Als eine Nation in Europa kann es kulturelle Funktionen erfüllen. Einige Großprojekte, wie die österreichische Nationalstiftung, das Ost-West-Institut, und andere, haben nur dann Raum, wirklich Platz, nämlich einen politischen und einen metapolitischen Ort in Österreich, wenn Österreich sich als eine Nation versteht. Österreich kann Brücke zwischen Ost und West, Nord und Süd nur bilden als eine Nation: als eine Kulturnation, als eine politische Nation.

Österreich kann aber auch diese beiden anderen Möglichkeiten wählen: es kann sich als Teil einer deutschen Nation verstehen, und wird dann morgen oder spätestens übermorgen in den schwierigen Prozessen einer Neubildung und Umbildung der deutschen Nation, im Ringen der beiden deutschen Staaten, der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, eingesogen werden.

Die dritte Möglichkeit ist ebenfalls naheliegend: der Zerfall Österreichs in eine Reihe eigener Nationen: also in eine Vorarlberger, eine Tiroler, eine Salzburger etc. Nation. Wien, Niederösterreich und das Burgenland würden dann, als ein unheiliger Rest, wohl einer dieser Nationen oder einer ganz anderen Nation zugeschlagen werden. Die mögliche Ausbildung dieser Nationen in Österreich hat nicht nur für die Kulturpolitik außerordentliche Bedeutung.

Die Bewußtseinsbildung in Österreich, ohne die es weder eine kulturelle noch eine politische Hygiene gibt, da eine solche einfach nicht „ankommen“ kann — Kultur ohne Bewußtseinsbildung ist nur eine Produktion von Opiaten, Kultur also ein Opium des Volkes und Kultur als Opium für das Volk (man beachte manche musikalische Veranstaltungen) —, wird nun bekanntlich auch dadurch verhemmt; die Österreicher können sich nicht einig werden über den guten Sinn der Bildung einer österreichischen Nation.

Gegner, Feinde und Freunde einer österreichischen Nationbildung sind durch zwei massive Fakten verbunden: beide nehmen Banknoten der österreichischen Nationalbank an, und leben als würdige Träger von österreichischen Nationallastern.

Von diesen Nationallastern muß ich hier nur zwei nennen — ich habe vor zwanzig Jahren das „Gespräch der Feinde“ [5] eröffnet, vor mehr als zehn Jahren Österreich als eine Neidgenossenschaft, nicht eine Eidgenossenschaft, anvisiert, und muß heute neben dem Neid, dem ungekrönten Kaiser in unserer Demokratie, ein anderes Nationallaster namhaft machen, das neben dem Neid die Wahrnehmung von kulturellen Funktionen Österreichs lebensgefährlich behindert: es ist dies die uneigennützige Gemeinheit.

Die uneigennützige Gemeinheit erfüllt außerordentliche, entscheidungsmächtige Funktionen gerade bei der Behinderung der Entwicklung kultureller Funktionen Österreichs: die uneigennützige Gemeinheit bildet mit eine Krebskrankheit im Körper unserer österreichischen Gesellschaft, die ja eine Nicht-Gesellschaft ist, da sie von Nicht-Zeitgenossen gebildet wird.

Ein Beispiel für hunderte: wenn heute hier und dort ein Projekt, ein kulturelles Bauvorhaben (das Wort im engeren und im übertragenen Sinne hier bezogen) zur Debatte steht, erheben sich sofort nicht nur die Betroffenen — also Konkurrenten, Fachleute und probleminteressierte Menschen —, sondern in Zünften, die an sich gar nichts mit der Sache, also sachlich und sachbezogen zu tun haben, und als Einzelne gewichtige Personen — Menschen, die ganz uneigennützig, da nicht selbst existentiell, beruflich, sachbeteiligt betroffen, in reiner Lust am Untergang, dem Projekt den Todesstoß versetzen, oder dazu beitragen, daß es in einer Form realisiert wird, die es pervertiert oder zur Totgeburt macht.

Eine innere Geschichte Österreichs in der Zweiten Republik müßte sich vorrangig mit der Verhinderung der Ausbildung kultureller Funktionen Österreichs durch nationale Träger unserer beiden vorrangigen Nationallaster, Neid und uneigennützige Gemeinheit, befassen.

Otto Schulmeister macht in seinem Buch „Die Zukunft Österreichs“ auf ein besonders erregendes Exempel dieser Verbildung aufmerksam: auf den Kampf um das Ford-Institut in Wien. Dieses Exempel ist geeignet, chiffrenhaft auf einen dreifachen Sachverhalt aufmerksam zu machen:

Österreich hat sich bei großen kulturellen Stiftungen wie Ford, aber auch in anderen kulturell wichtigen internationalen Gremien, den Ruf hoher Unglaubwürdigkeit redlich erworben. Ein Land, das mit hochwertigen Gaben, Geschenken, Stiftungen, Dotationen nichts anzufangen weiß, sie sabotiert oder gar ablehnt, ist unfähig, Partnerschaft zu leisten.

Diese unsere Unglaubwürdigkeit hat deshalb besondere Bedeutung für die Bildung kultureller Funktionen Österreichs, weil diese so groß sind, daß sie ohne Menschen und Mittel aus anderen Ländern einfach nicht hinreichend erfüllt werden können.

Ein Österreich als ein Wald- und Wiesenland (Franz Theodor Csokor sah um 1934 die Barbarisierung Österreichs einziehen mit einer „Verwaldung Wiens“), als ein Ländlein mit blau-blauen Seen, grünen Wäldern, und ski-weißen Bergen, kann auf Dauer seinen Namen nicht behaupten, und würde als solches sowohl den Namen wie die Existenz verlieren.

Das wußten Babenberger, Habsburger, wußten kirchliche Orden und weltliche Bauherren im Barock und noch darüber hinaus: Österreich konnte in allen Jahrhunderten, in denen von einer Wahrnehmung kultureller Funktionen in schöpferischer Produktion gesprochen werden kann, diese nur erfüllen durch Menschen und durch Mittel, die aus anderen Ländern eingeladen, eingebracht wurden, die zu einem hohen Maße freiwillig kamen. Der Stephansdom und die frühe Wiener Universität, Stift Heiligenkreuz und der Salzburger Dom, das Maximiliangrab und das Schloß Porcia in Spittal an der Drau: die Bauleute, Ärzte, Kunsthandwerker und Gelehrten, die Dichter und Sänger kamen zunächst vielfach aus anderen Räumen Europas: ohne die permanente Provokation — durch den permanenten Einstrom von außen — konnte gerade das Eigenste und Eigenständigste, das Österreichische, weder gezeugt noch geboren, noch auf Dauer am Leben erhalten werden.

Also stellt sich die Frage — die zugleich die politischen, metapolitischen und kulturellen Funktionsmöglichkeiten Österreichs heute und morgen in einem begreift; wer soll, kann, muß heute und morgen die Aufgaben dieser permanenten Provokation, der Anrufung, Wachrufung, Herausforderung, der Konkurrenz, der Aufrüttelung, wahrnehmen, wenn Österreich wieder Österreich werden will?

Österreich kann ersetzt werden

Die Provokation steht an allen Grenzen vor den Toren Österreichs. Vor kurzem hat Hubert Lendl aufmerksam gemacht: Wien, einst eine einzige und einzigartige Donaumetropole — nur Budapest stand einst als Rivalin ihm gegenüber — wird in naher Zukunft von Millionenstädten umgeben sein, von ehrgeizigen und aufstrebenden Energiezentren in unserem ostmitteleuropäischen Raum. Wien könnte und sollte ein Kommunikations-Zentrum bilden, seiner Lage, seiner Vergangenheit, seinen historischen Möglichkeiten nach: eben diese Aufgabe kann aber auch von anderen Energiezentren übernommen werden. In den Dimensionen des Weltluftverkehrs und großräumiger Straßennetze, spielt es keine ausschlaggebende Rolle, ob eine an sich wichtige Funktion einige fünfzig oder hundert Kilometer abseits der alten Römer- und Ruinenstadt von einem neuen Energiezentrum übernommen wird.

Die kulturellen Funktionen Österreichs sind so groß und so wichtig, daß sie, wenn Österreich selbst ausfällt, eben von anderen Räumen und in anderen politischen Gebilden wahrgenommen werden können.

Atheisten und Christen können sich in Marienbad treffen, Techniker aus Ost und West können in Preßburg-Bratislava zusammenkommen, Künstler und Designer in Warschau, Prag, Zagreb, Belgrad (man achte nur auf die jungen Filmschaffenden und Designer in Polen, der Tschechoslowakei, in Jugoslawien), Wirtschaftler der östlichen und westlichen Großsysteme können sich bequem in Budapest, Bukarest und andernorts treffen.

Die großen kulturellen Funktionen Österreichs, die vorzüglich ein Mittlertum, einen Abgleich des Ost-West-Gefälles und des West-Ost-Gefälles betreffen, eine verbindliche Verbindung zwischen dem mentalen, geistigen und seelischen Untergrund in den Völkern Ost- und Westeuropas durch deren Erhellung in Produktionen der Künste, der Wissenschaften, nicht zuletzt der ärztlichen und seelsorgerischen Wissenschaften und Künste der Mitmenschlichkeit (also Dichtung, Kunst, Psychologie, Soziologie als Heilkunst): alle diese spezifisch österreichischen Künste und Wissenschaften, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Mekka der Medizin, wie Rudolf Virchow Wien nannte, ein so vielgestaltiges Energiezentrum fanden, können morgen, ja bereits heute, auch andernorts beheimatet, eingewurzelt werden.

Wien muß nicht in Wien orten. Österreich muß nicht im Quadratmeterraum des geographischen Territoriums Österreich morgen zu finden sein: wer heute in Städten der alten Donaumonarchie einkehrt, wird hier und noch weit darüber hinaus, jenseits der alten Grenzen der Donaumonarchie, nicht nur Spurenelemente einer Mentalität, Lebenskunst, Lebensanschauung, finden, die, tief in unterbewußte Seinsschichten eingedrungen, bezeugen, wie der in den Hochwasser- und Sintflutkatastrophen unseres Jahrhunderts untergegangene europäische Subkontinent Austria Lebensprozesse der Gegenwart nährt: nährt mit den Wassern der Tiefe. Es ist hier nicht von einer Art Alte-Leute-Mystik zu reden, im Gegenteil: gerade junge Männer und Frauen einer wachen, also sehr selbstkritischen Intelligenz in den osteuropäischen und südosteuropäischen Staaten, Menschen, die politisch nicht an Austriazismen leiden und weltanschaulich nicht in den alten Häusern der alten Götter Alteuropas sich beheimatet wissen, bezeugen durch ihr Denken, nämlich ihr Mit-Denken, durch ihr Fragen, ihr Horchen, ihr Aufmerken, ihr Reden und ihr Schweigen, wie sehr sie Söhne, Enkel, Urenkel aus dem merkwürdigen Muttergrunde des untergegangenen Subkontinents Austria sind.

Österreich sollte, in seinen kulturellen Funktionen, auch selbst ein Nachfolgestaat des alten Österreich werden. Dies kann es aber nur werden, wenn es diese permanente, sich von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verstärkende Provokation, diese an allen Grenzen, vorab an unseren Ost- und südöstlichen Grenzen im Tor stehende Provokation annimmt: positiv, als Herausforderung, in Partnerschaft das zu leisten, was zu leisten ist: eine Humanitas austriaca, die das Menschenleben als ein Leben in Konflikten versteht: Konflikte, die durch Kunst, Wissenschaft, Kultur, durch schöpferische Arbeit und durch die politischen Künste, verstanden, erhellt, geregelt, zum kleineren Teil gelöst, zum großen Teil im Austragen des Lebens gemeistert werden können. Dichtung und Heilkunst, Architektur, Urbanisation, und Tiefenpsychologie, Theater auf der Bühne des Theaters und auf der Bühne der Gesellschaft — die Künste also, sich im Streit zusammenzuspielen und immer neue Spielregeln des gesellschaftlichen und innermenschlichen Kampfes zu erfinden und auszubilden: das alles hängt ja enge zusammen: das wußten Baumeister und Theateringenieure unseres Barocks, wußten Grillparzer, Feuchtersleben, Nestroy, Raimund, Arthur Schnitzler und Sigmund Freud.

Vor kurzem ging die Nachricht durch die Weltpresse: in der Sowjetunion wird der Bann der Exkommunikation gelöst, der etwa vierzig Jahre lang das Werk Sigmund Freuds, seiner Schüler und Gegner traf. Bei uns ist, trotz einiger Ansätze, diese Exkommunikation noch nicht wirklich aufgehoben worden, obwohl heute nicht mehr wie in den Jahren des christlichen Ständestaates das wachsame Auge des Paters Wilhelm Schmidt Sigmund Freuds Spuren allüberall verfolgt.

Die Chancen Österreichs

Die zweite Provokation gleicht in manchen Zügen überraschend der ersten: wer heute gute österreichische Lebensweisheit, Lebenskunst, selbstkritische wache Mitmenschlichkeit lebendig erfahren will, kann dies jederzeit in Budapest, Agram, Belgrad, Krakau, Warschau etc. erfahren. Wer heute gute österreichische Geistigkeit, Bildung, österreichische Weltkultur, und vor allem jene Intellektualität erfahren will, die das Wien Hofmannsthals, Freuds, der jüdischen Ärzte, Rechtsdenker, politischen Denker (eingeschlossen natürlich Otto Bauer, beide Otto Bauer!) zu einem Energiezentrum universaler Geisteskultur gemacht hat, braucht nur nach Zürich, Paris, London und New York, und in einige der großen Universitätszentren der westlichen Hemisphäre in England sich zu begeben.

Ich habe vor zwanzig Jahren gebeten, dies in Erwägung zu ziehen: Österreich besitzt eine fünfte Kolonne, die sich selbst nicht als solche weiß: eine fünfte Kolonne, die nicht Spionage in Vorbereitung eines dritten Weltkrieges leistet, sondern „Spionage“, — um es möglichst provozierend auszudrücken — im Dienste des zukünftigen Großen Friedens: gereift in den mörderischen und selbstmörderischen Kämpfen im Raum des alten Österreich, hat sie sich — ohne dies oft selbst bewußt zu wissen oder zu wollen, eine aus Österreich stammende Intelligenz — ausgetrieben, ausgeladen, z.T. freiwillig im Exodus aus der ungastlichen Heimat entfernt, in anderen Ländern und Kontinenten eingewurzelt: in beiden Amerika; europanah vor allem in England.

Die sehr ehrenwerten Begründungen, warum die Berufung dieses und jenen Altösterreichers und Ex-Österreichers nicht zustande kam, sind zum Teil bekannt und ruhen in den amtlichen Akten.

Die weltbekannte Tatsache kann in einem Satz angezeigt werden: die Frauen und Männer des Dritten Österreich leben, lehren, arbeiten nicht in Österreich, weil man sie hier nicht sehen, ansehen, haben will.

Hier ist der Fall besonders eindeutig: Die Provokation wird zwar gesehen; negativ aber, nämlich als unerlaubte Einmischung in das autonome Zunftwesen, angesehen und abgelehnt.

Der Leerraum Österreich, bestellt als ein Gastraum, würde bedeuten: Es sind Energiezentren, Kultur-Kreise, als mögliche Strahlräume zu schaffen. Wien, gerade in Wahrung seiner einzigartigen Möglichkeiten, sollte mit dem Burgenland und Niederösterreich einen offenen Kulturraum bilden, in dem neue, nämlich neuartige Schulmodelle, Institute, Forschungsanstalten, Begegnungszentren (in den Leerräumen der alten Stifte, Klöster, Schlösser) vorzüglich dem Ost-Westgefälle in Europa, und der Aufnahme von Gästen, von Studenten, Fachleuten, Studiengemeinschaften aus Osteuropa und dem nahen und ferneren Westen, also gerade auch aus den Vereinigten Staaten von Amerika, dienen sollten.

Steiermark und Kärnten sollten einen offenen Stromkreis bilden, in dem, in engstem Zusammenhang mit den zu gründenden Hochschulen und einer Universität im Klagenfurter Becken, die südslawische und nahöstliche Menschenwelt, sorgfältig vorbereitete Aufnahme finden sollte.

Salzburg, das „deutsche Rom“, mit seinem Solari-Dom, seiner Universität, seinen Festspielen, die Toscanini ebenso wenig vergessen sollten, wie die italienische Oper und Musik vor, um und nach Mozart, sollte es wagen, mit Innsbruck sich der lange vernachlässigten, einst so intensiven Pflege der Beziehungen zur Romania, vorab zur italienischen Kultur und Lebenswelt, zu widmen. Innsbruck hat — meine Tiroler Freunde mögen mir verzeihen, daß ich jetzt in der Öffentlichkeit ausspreche, was ich in vielen Privatgesprächen gesagt habe — Innsbruck hat die schöne Chance, eine alte Schuld als Ehrenschuld abzutragen. Alle jungen Österreicher sollten in dem Buch des Südtirolers Claus Gatterer, „Unter seinem Galgen stand Österreich — Cesare Battisti, Porträt eines Hochverräters“ nachlesen, wie da im Aufgang unseres 20. Jahrhunderts die alte Einheit des Landes Tirol in Innsbruck zerschlagen wurde, indem die italienischsprachige juridische Fakultät von meuternden Studenten erdrosselt wurde. Eine artige Aufgabe für einen jungen Tiroler Studenten von heute wäre es, die vielfältigen Kraftlinien in einer Dissertation aufzuzeigen, die von den Deutschtümeleien um 1900 zu den Tätigkeiten des Universitätsassistenten Dr. Burger und seiner Kommilitonen führen.

Südtirol: die ganze Kontaktschwäche, Kontaktarmut im heutigen Österreich, der Verlust der altösterreichischen Fähigkeit und Kunst, elliptisch zu denken, zu leben, und zu handeln, zeigt sich bekanntlich besonders drastisch an der heutigen kulturellen Behandlung Südtirols durch Österreicher.

Der gute Rat, von Wien aus, nach 1945, an führende Südtroler gegeben, nämlich gleichzeitig mit Österreich zu kommunizieren, und gute Verbindungen mit den Regionalisten in ganz Italien, bis hinunter nach Sizilien, aufzunehmen, wurde nicht befolgt.

Südtirols schmale Intelligenz wird auswandern, als Getto verkümmern, wenn sie es nicht wagt, die große Provokation positiv aufzunehmen: die Präsenz nicht nur der italienischen Staatsmacht, Industriemacht, technischen Zivilisation, sondern auch einer spezifischen italienischen Intelligenz.

Man beruft sich heute gerne auf das alte Wort: „Österreich über alles, wenn es nur will.“ Das ist Staatsmystik, und als solche immer gefährlich. Mystik ist gut als Kommunikation der Person mit der Gottheit. Nicht zufällig haben dieses Bekenntnis, diese Erfahrungssätze, auf Sigmund Freud und auf Wittgenstein, Österreichs bedeutenden Philosophen, so starken Eindruck gemacht. Personale Glaubenserfahrung kann dies sich erkämpfen: Dir kann nix g’schehn. Der Personkern ist in Gott geboren und geborgen. Sehr anders aber steht es um Staaten und verwandte politische und gesellschaftliche Gebilde: diesen kann sehr viel geschehen, und geschieht auch täglich viel, in der Geschichte.

Neben das alte staatsmystische Wort „Österreich über alles, wenn es nur will“, möchte ich den einfachen Satz setzen: Österreich mit Allen, wenn seine guten Kräfte es wollen.

[1Vgl. Herbert Read, Kunst als zweite Welt, Neues FORVM, November/ Dezember 1967.

[2„Eine Nation aus Gespenstern?“, Neues FORVM, Oktober 1967.

[5Friedrich Heer / Friedrich Torberg, Gespräch mit dem Feind, FORVM, I. Jahrgang, Heft 1, Januar 1954.

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