Österreich im Spannungsfeld von Neutralität und kollektiver Sicherheit
Die Neutralitätspflichten waren über Jahrzehnte in der Völkerrechtswissenschaft unbestritten: Der Neutrale hat sich jeglicher militärischer Unterstützung der Kriegsparteien zu enthalten, Handelsbeschränkungen auf alle Kriegsparteien gleichmäßig anzuwenden, weiters militärische Handlungen der Kriegsparteien (z.B. Durchmarsch von Truppen, Überflüge durch Militärflugzeuge) auf seinem Staatsgebiet zu verhindern. Der dauernd neutrale Staat hat darüber hinaus bereits in Friedenszeiten alles zu unterlassen, was ihn in zukünftigen Kriegen daran hindern könnte, seine Neutralitätspflichten einzuhalten. Insbesondere darf er keinen militärischen Bündnissen beitreten. Auch die daraus resultierenden Schlußfolgerungen waren klar: Ein Beitritt zur EU wurde (u.a. wegen der möglichen Verpflichtung zur Teilnahme an Wirtschaftssanktionen gegen Kriegführende, später auch wegen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik) für unzulässig gehalten. Selbst die Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen galt als neutralitätsrechtlich bedenklich: Türk gibt ausführlich die seinerzeitige Doktrin wieder, wonach die ständigen Sicherheitsratsmitglieder im Hinblick auf die von ihnen anerkannte österreichische Neutralität die Verpflichtung übernommen hätten, Österreich nicht zu neutralitätswidrigen Handlungen heranzuziehen. (38 ff) Bei sämtlichen Sanktionsbeschlüssen der Vereinten Nationen (bis hin zur Kuwait-Krise 1990) berief sich Österreich auf diesen Standpunkt. Er wurde erst 1992 (anläßlich der Sanktionsbeschlüsse gegen Libyen) stillschweigend fallengelassen.
Ebenso klar war, daß es Völkerrechts- und verfassungskonforme Wege gab und gibt, den Status der dauernden Neutralität abzuändern bzw. zu beenden. Die Gegner der österreichischen Neutralität bevorzugen freilich einen anderen Weg: Die Neutralität wurde Schritt für Schritt ausgehöhlt. Dabei wurde jeweils im vorhinein betont, daß gar keine neutralitätsrechtlich relevante Fragestellung vorläge. Österreich werde als „neutraler Staat“ der EU beitreten. Die Durchfuhr von Kriegsmaterial im Golfkonflikt sei neutralitätsrechtlich irrelevant, weif es sich um gar keinen „Krieg“ handle etc. Im nachhinein wurde die Entwicklung regelmäßig anders gesehen: Es habe sich „eine eingeschränktere Betrachtung der Neutralität durchgesetzt“. Die Neutralität wurde durch die genannten Maßnahmen „im wesentlichen auf ihren rechtlichen Kem reduziert“. (18) Zyniker/innen gehen schon seit längerem davon aus, daß sich auch noch ein österreichischer Völkerrechtler finden werde, der die Vereinbarkeit der Neutralität mit einer Mitgliedschaft bei der NATO postulieren werde. Genau diesen Nachweis versucht Türk im vorliegenden Werk zu erbringen. Zwar räumt Türk ein, es sei „zweifellos richtig, daß das traditionelle Neutralitätsverständnis keinen Beitritt eines dauernd neutralen Staates zur NATO und schon gar nicht zur WEU erlauben würde. Ein solches hätte aber an sich auch keinen Beitritt zu den Vereinten Nationen und sicherlich noch viel weniger zur Europäischen Union zugelassen“. (73) Wenn der Trick schon mehrmals geklappt hat, warum sollte man es nicht noch einmal probieren?
Türk stützt seine Auffassung zum einen darauf, daß sich die NATO immer mehr zu einer regionalen Organisation kollektiver Sicherheit (wie etwa die Organisation Amerikanischer Staaten oder die OSZE) entwickle. Durch Erklärungen oder Dokumente der NATO läßt sich diese Entwicklung freilich nicht belegen. Auch Türk räumt ein, daß „die Bestimmung des Art 5 des NATO-Vertrages (also die Beistandsverpflichtung - Anm. F.E.) über die gemeinsame Verteidigung nach wie vor ein zentraler und unverzichtbarer Bestandteil der Organisation“ bleibt. (65)
Österreich - so argumentiert Türk weiter - würde durch den NATO-Vertrag (anders als innerhalb der WEU) keine automatische Verpflichtung zur Anwendung von Waffengewalt auferlegt werden, sodaß kein echter Widerspruch zum rechtlichen Kern der österreichischen Neutralität zu bestehen „scheint“. (65) Überdies sei zweifelhaft, ob „der eher unwahrscheinliche Fall einer Anwendung von Art 5 überhaupt jemals eintreten sollte“. (66) Türk zieht an dieser Stelle allerdings nicht die naheliegende
Schlußfolgerung, daß die NATO diesen — offensichtlich obsolet gewordenen — Artikel streichen sollte. Türk kommt vielmehr zusammenfassend zu folgenden Schlüssen: „Österreich müßte im Fall eines Beitritts zur NATO unter Aufrechterhaltung der dauernden Neutralität keine Verpflichtungen übernehmen, die deren rechtlichen Kern vorhersehbar berühren würden und könnte sich an praktisch allen zu erwartenden NATO-Akti- vitäten beteiligen (...) den äußerst unwahrscheinlichen Fällen eines möglichen Konflikts zwischen Beistandspflicht und Neutralität würde der Ermessenspielraum der Mitgliedschaft hinsichtlich der bei einem bewaffneten Angriff konkret zu ergreifenden Gegenmaßnahmen aller Voraussicht nach deren Bewahrung erlauben. Sollte es dennoch zu einer Pflichtkollision kommen, so müßte wohl von einem Vorgang der Verpflichtungen aus dem NATO-Vertrag ausgegangen werden.“ (14) Wendet man den Gedanken Türks auf andere Lebensbereiche an, so kommt man zu überraschenden Ergebnissen: Gele- gendiches Schweinsbratenessen läßt etwa den Status als Vegetarier unberührt. Lediglich im Kollisionsfall müßte klargestellt werden, daß der Schweinsbraten eben besser schmeckt und daher gegessen wird.
Während man Türk immerhin zugestehen muß, daß er sich um eine rechtliche Argumentation bemüht, verzichtet Köck in seinem Vorwort auf rechtliches Beiwerk und bedient sich einer Sprache, die man sonst nur von Juristen kennt, die totalitären Ideologien anhängen: „Dauernde Neutralität als realer Status eines Staates“ erscheint Köck als „geradezu handgreifliches Symptom einer bis ans Mark kranken internationalen Gemeinschaft“. (6) Es könne keine Zweifel geben, „daß ein Staat in der Lage Österreichs gehalten ist, seinen Sonderstatus der dauernden Neutralität (...) so rasch wie möglich abzulegen und durch einen Beitritt zur NATO seinen Beitrag zur regionalen kollektiven Sicherheit zu leisten. Jede andere Vorgangsweise würde einen Verstoß gegen die internationale Solidarität darstellen. Und zu dieser Solidarität ist jeder Staat rechtlich (?) verpflichtet; sie zu üben oder zu unterlassen, ist keineswegs eine bloße Frage politischen Ermessens“. (7)
An den Schluß seines Vorwortes stellt Köck ein Zitat mit ungewöhnlicher Quellenangabe: „Die Stimme der Vernunft mag zwar — wie auf einer Stelle im Wiener Sigmund Freud-Park zu lesen ist — leise sein; wir wollen aber die Hoffnung nicht aufgeben, daß sie sich schließlich doch Gehör verschafft.“ Üblicherweise wird dieses Zitat verwendet, wenn die „Stimme der Vernunft“ mit einem politischen Mainstream konfli- giert; diese Konstellation dürfte allerdings beim vorliegenden Werk nicht gegeben sein.
Helmut Türk: Österreich im Spannungsfeld von Neutralität und kollektiver Sicherheit. Mit einem Vorwort von Heribert Franz. Köck M.C.L. Verlag Österreich, Juristische Schriftenreihe Band 109, Wien 1997, 132 S. öS 298,—