FORVM, No. 194/I
Februar
1970

Österreichs PEN-Stolz

Zu nachbarlichem Gedankenaustausch hatte der österreichische PEN-Club deutsche PEN-Autoren nach Wien geladen. Einen Vormittag lang diskutierte man die „Unterschiede und Gemeinsamkeiten der deutschen und österreichischen Literatur“, unter dem Vorsitz von Hermann Kesten sprachen deutscherseits Ingeborg Drewitz, Peter Härtling, Horst Krüger, Heinz Sabais, österreichischerseits Milo Dor, Hans Flesch-Brunningen, Wolfgang Kraus und Peter von Tramin.

Immer wieder beschäftigt man sich mit der Frage der Identität: wie österreichisch ist die österreichische Literatur? Was unterscheidet sie von der deutschen? Hinter der Frage steckt eine gewisse Selbstgefälligkeit, denn einige der Fakten, auf die sich die möglichen Antworten stützen, berechtigen zu patriotischem Stolz. Etwa, daß so viele Spitzennamen der deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert österreichisch sind. Oder daß es gegenwärtig einen beachtlichen Autorenexport in die Bundesrepublik gibt. Es ist der Stolz eines kleinen Landes mit großer Vergangenheit, und es ist vor allem der Stolz seiner unverhältnismäßig großen Hauptstadt, die das Erbe für sich in Anspruch nimmt und eifersüchtig hütet.

Man bekam die meisten Argumente zu hören, die für eine Unterscheidung der österreichischen von der deutschen Literatur vorgebracht werden können. Der Sieg der Gegenreformation, die klassizistische Romantik, der Einfluß des slawischen Raumes, die Wirkung des Stoizismus, die Abkehr von der Wirklichkeit zugunsten von Sprach- und Denkspielen, der unverhältnismäßig große Beitrag der Juden, das Problem der sogenannten Prager deutschen Literatur und so weiter. In der Feststellung, daß das Genie und sein Werk die Fragen der Herkunft und Einflüsse transzendieren, fand man zuletzt höflich einen gemeinsamen Standpunkt. Auf dem Olymp der Weltliteraur herrscht die Zeit- und Geschichtslosigkeit der großen Kunst.

Das Dutzend der in diesem Zusammenhang immer wieder genannten Schriftsteller, von Hofmannsthal bis Doderer, konstituiert ohne Zweifel eine Gruppe, die gemeinsame, wenn auch außerästhetische Merkmale hat und deshalb als österreichisch bezeichnet werden kann. Die Merkmale dieser Gruppe, wie man feststellen kann, wenn man einmal den Widerstand aufgibt, der aus ihrer ästhetischen und auch weltanschaulichen Heterogenität entsteht, sind eng mit einem Österreich korreliert, das 1918 in dieser Form aufgehört hat zu bestehen. Warum sollte ein großes Staatsgebilde, das trotz der nationalen und sprachlichen Vielfalt eine beträchtliche Einheit der Kultur, des Selbstverständnisses, des Lebensgefühls besessen hat, nicht eine eigene, eigenständige Literatur hervorbringen? Erstaunlich ist vielmehr ein anderes Phänomen, daß nämlich ein so großer Teil dieser Literatur, sofern sie Anspruch auf Zugehörigkeit zur Weltliteratur beansprucht, posthum entstanden ist: nach dem Tod des Reiches, mit dem sie verbunden ist.

Es ist bezeichnend, daß in dieser Diskussion, und allen ähnlichen übrigens auch, ein Name kaum genannt wird. Elias Canetti, bulgarischer Jude, gehört mit demselben Recht zur österreichischen Literatur wie Franz Kafka, Franz Werfel oder Karl Kraus. Wenn jemand den Wiener Roman geschrieben hat, dann sicher Canetti weit mehr als Doderer. Denn trotz der zeitlichen Überlappung beginnt die Literatur des kleinen Landes Österreich mit der „Blendung“, und die Literatur des großen Österreichs läuft mit Doderer aus. Oder, und das ist die Problematik der gegenwärtigen Österreichischen Literatur, sie sollte mit Canetti beginnen und Doderer den Abschluß der Vergangenheit überlassen.

Sieht man sich die gegenwärtige Literatur in Österreich an, im wesentlichen also die Literatur nach dem Kriegsende, so macht sich eine merkwürdige funktionelle Aufspaltung bemerkbar. Der Teil der Literatur, der auf den ersten Blick schon österreichisch ist, im Sinn des Bildes, das man sich von Österreich zu Recht macht, weil sich Österreich darin mißversteht, ist traditionell, konservativ und kennt als Lehrer Doderer und Herzmanovsky-Orlando. Seine Autoren leben im frohen Einverständnis mit dem Rest der Bevölkerung bezüglich dieses Bildes. Die Avantgarde aber, Österreichs Exportware, stellt sich notwendig gegen dieses Österreichbild und hält sich, vielleicht aus prophylaktischen Gründen, das ästhetische Vermächtnis jenes Dutzends von Belegen für Österreichs Größe und Eigenständigkeit vom Leib. Man kann Gerhard Rühm, Konrad Bayer und noch mehr H. C. Artmann viel Wienerisches nachweisen, Thomas Bernhard kann man mit strapazierter Nadlertechnik noch in einem halbmythologischen Alpenbereich ansiedeln, die Region als heuristische Kategorie versagt bei Peter Handke und Oswald Wiener restlos. Peter Härtling und Heinz W. Sabais sprachen in der PEN-Diskussion von der Regionalität der neuen deutschen Literatur als Folge des bundesdeutschen Mangels an einer Metropole. In Böll den Romançier des Rheinlands und in Grass den Romançier Danzigs zu sehen, erklärt nicht viel, was über die rein germanistische Ergiebigkeit hinausreicht. Die bewußten und unbewußten Einflüsse, die auf einen Schriftsteller und sein Werk einwirken, kommen sicherlich zunächst aus dem engeren kulturellen und geographischen Bereich. Aber die Totalität der Wechselbeziehungen zwischen einer Gesellschaft und ihren Autoren läßt sich mit dieser einen Variablen allein kaum benennen, noch weniger analysieren. (Wolfgang Kraus machte übrigens in der Diskussion das Argument geltend, es wäre besser, europäischer, die regionalen Verschiedenheiten nicht zu betonen.)

So müßte man sich weit mehr als über die Frage, ob es eine österreichische Literatur gibt, darüber den Kopf zerbrechen, warum gegenwärtig keine existiert, die in der normalen, üblichen, regionalen Beziehung zu der Gesellschaft ihrer Zeit und ihres Ortes steht. Auf der einen Seite findet man Autoren, die mit der österreichischen Gesellschaft nur die Illusionen teilen, die sich diese über sich und ihre Vergangenheit macht, Auf der anderen Seite kehrt die Avantgarde der bestehenden Gesellschaft, aber auch dem Land den Rücken, mit einiger Verzweiflung, die sich auch den Erfolg in der Fremde nicht ganz löst. Der Schluß liegt nahe, daß Österreich im Augenblick wie ein solider Block in einem festen Gefäß weder links noch rechts, weder oben noch unten seiner Literatur, seiner kritischen Intelligenz genügend Raum läßt. Sie muß in die Vergangenheit flüchten beziehungsweise die Enge des regionalen Gefäßes verlassen.

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