FORVM, No. 243
März
1974

Philosophie des freien Studiums

Zur Open University

1 Eine konservative Idee?

Erwachsenenbildung hat in Großbritannien eine alte Tradition — und zwar eine zweideutige. Sie wurzelt sowohl im radikalen Demokratismus als auch in einer viel konservativeren Ethik. Der Gedanke, daß nur gebildete Staatsbürger die Verantwortung der Selbstbestimmung auf sich nehmen können, ist etwas anderes als die Auffassung, die Elite sei moralisch verpflichtet, das Volk zu erziehen. In der Offenen Universität koexistieren beide Vorstellungen: die von der kulturellen Selbsthilfe und die von der Verbreitung der Kultur von oben nach unten. Utopia liegt noch in weiter Ferne; diese Auffassungen sind nicht soweit miteinander verschmolzen, daß sie nicht voneinander zu unterscheiden wären. Nicht zum ersten Mal ist die Labour Party eine bessere Vertreterin des sogenannten „Tory Socialism“ als die Konservative Partei, die zwischen den Privilegien ihrer Anhänger und einer „meritokratischen“ Ideologie hin und her gerissen ist.

Die Offene Universität ist kein Experiment mit dem, was sich in Amerika als „Gegenkultur“ entpuppt hat. Es ist keine „Universität ohne Wände“, die die ganze Welt als ihren Hörsaal betrachtet. Ihr pädagogisches Problem besteht nicht darin, junge Menschen in der Entwicklung zu fördern, indem sie ihnen andere Lebenserfahrungen vermittelt — wobei „andere“ heißt: andere als jene, die in typischen bürgerlichen Familien und Schulen zu finden sind. Ihr Problem ist vielmehr, Erwachsene aus ihren Lebenserfahrungen herauszulösen und sie zu befähigen, in eine ganz anders geartete Sphäre des Suchens und Denkens einzutreten. Auf den ersten Blick scheint ihr Lehrplan das letzte Jahrzehnt mit seinen Hochschulunruhen zu ignorieren.

Im Augenblick kann man sagen, daß die Offene Universität von der relativen kulturellen Homogenität Englands profitiert. Matthew Arnold [1] würde das Land zweifellos immer noch für viel zu philisterhaft halten. Er würde jedoch zugeben, daß die Barbaren fast völlig verschwunden sind und daß die Einheimischen sich mit den Philistern verschmolzen haben. Kein sehr großer Fortschritt? Die Universität und die Schulen haben das Philistertum in erheblichem Maße in Gärung gebracht. Arnold wäre sehr befriedigt, zu sehen, daß die erwachsenen Studenten der Offenen Universität, nach ihren Aussagen zu schließen, immer noch der Meinung sind, Bildung bestehe darin, möglichst das Beste von allem, was je gedacht und gesprochen wurde, zu lernen.

2 Wenig Arbeiter

Die Zahl der manuellen Arbeiter, die um Aufnahme in die Offene Universität ansuchen, bleibt vorläufig natürlich sehr klein. Wie seinerzeit bei den Stipendienbestimmungen des „Education Act“ von 1944 nehmen vor allem die Angestellten die neue Egalisierung der Bildungschancen wahr. Die Rubrik „Andere“ in der Statistik der Offenen Universität und die Zweideutigkeit des Ausdrucks „Technisches Personal“ machen es schwer, Vergleiche mit anderen Schulen zu ziehen. Ich habe den Eindruck, daß der Prozentsatz der Arbeiter, die die Offene Universität besuchen, nicht höher und vielleicht sogar niedriger ist als der Prozentsatz von Arbeiterkindern an anderen Hochschulen. Hier wirken die wohlbekannten psychischen und materiellen Barrieren: weniger Zugang zu Informationen, Unfähigkeit, den Wert der Kultur zu erkennen, die Überzeugung, daß diese Dinge für „sie“ bestimmt seien und nicht für „uns“, die mit manueller Arbeit verbundene Müdigkeit und materielle Beschränktheit. Diese Schwierigkeiten können nicht durch einen Werbefeldzug überwunden werden. Eine gebildete Arbeiterklasse, im vollen Besitz einer nationalen Tradition (warum sollten Eisenbahner und Metallarbeiter nicht Shakespeare und Lawrence kennen und die Theoreme der Physik verstehen?), erwartet eine viel großzügigere Entwicklung von Projekten, wie die Offene Universität eines ist.

Die Gesellschaft ist jedoch auf eine Weise organisiert, welche die Kräfte, die der Arbeiterklasse den Zugang zur Kultur versperren, außerordentlich stark macht. Ich habe bereits angedeutet, daß ein beträchtlicher Teil des geistigen Kapitals der Offenen Universität als eine säkularisierte Version des Sozialismus anzusehen ist (eine statistische Untersuchung über die politische Zusammensetzung ihrer Lehrer, Verwalter und Studenten würde sich lohnen). Der Glaube an die Sendung der Offenen Universität mag manchen als eine Form eines vergeistigten oder verklärten Sozialismus erscheinen. Wenn dem so ist, sollten sie noch einmal darüber nachdenken. Die Gewährung von Bildungsmöglichkeiten ist sicherlich ein wichtiger Bestandteil jedes sozialistischen Programms, das diesen Namen verdient; sie ändert jedoch nichts an den Eigentums- und Machtverhältnissen.

Ja, es gibt einen Aspekt der Offenen Universität, der weitblickenden, von sozialistischen Aspirationen unbelasteten Technokraten zusagen muß (und auch zusagt). Das Projekt scheint eine Lösung, wenn auch bei weitem nicht die einzige, des Problems der steigenden Bildungskosten darzustellen. Die Hartnäckigkeit, mit der die konservative Regierung auf der Zulassung achtzehnjähriger Schulabgänger besteht, wird in diesem Lichte verständlich. Man denke nur an den Eifer, mit dem das Vorbild der Offenen Universität in den Vereinigten Staaten nachgeahmt wird. Seit unsere Millionäre schottische Schlösser kauften und sie Stein für Stein nach Amerika schaffen ließen, hat es keinen so krassen kulturellen Import mehr gegeben. Die sozialistische Tradition, von der die Herren Wilson und Short und Miß Jennie Lee zehren, hat kein amerikanisches Gegenstück. Was die Amerikaner so fasziniert, ist die Wirtschaftlichkeit, die die Offene Universität verheißt (wie auch die völlig unbegründete Ansicht, die Offene Universität lasse sich einfügen in die derzeitigen Versuche, die Mühen der höheren Bildung durch zielloses Experimentieren mit neuen Hochschulformen zu verringern).

Kein Zweifel, die Offene Universität ist ein Experiment, an dem das soziale Bedürfnis nach Weiterbildung sich erweisen kann. Die Gewährung einer zweiten Chance zur Erlangung höherer Bildung für jene Erwachsenen, die ihre erste Chance versäumt haben, ist wichtig, doch sollte man bedenken, daß auch hier technokratische Imperative wirken: Die Verfügbarkeit sozialer Investitionen zu diesem Zweck hängt zusammen mit der sich wandelnden Struktur der Arbeitnehmerschaft, mit der durch die technologische Entwicklung bedingten Notwendigkeit höherer Qualifikation.

3 Säkularisierung durch TV

Ist die Offene Universität ein Schritt zu einer Gesellschaft hin, die als eine einzige Kolossaluniversität, als ein permanentes Lernsystem organisiert wäre? Hier betreten wir das Reich der Phantasie. Die Vorstellung einer Gesellschaft als Erziehungssystem mag für heuristische Zwecke nützlich sein, ermöglicht es aber nicht, zwischen Reflexion und Aktion Grenzen zu ziehen. Allzu simpel formuliert, könnte sie den akademischen Narzißmus fördern. Die entscheidenden Fragen betreffen Ziel und Inhalt der höheren Bildung. Ein beträchtlicher Teil unserer Hochschulkultur ist verknöchert, ja mandarinisiert.

Das Fehlen einer räumlich konzentrierten Lerngemeinschaft und eines engen (täglichen) Kontakts mit Lehrern und mit anderen Studenten, wirft das Problem der Kulturvermittlung auf. In seinem bemerkenswerten Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ beschreibt Walter Benjamin, wie das Kunstwerk in unserer Epoche die Aura des Einzigartigen verloren hat. Die mechanische Reproduktion hat die Emanzipation der Kunst vom Ritual vollendet. „L’art pour l’art“ war eine frühere ideologische Reaktion auf die Entsakralisierung der Kunst, hat sich jedoch als unhaltbare Position erwiesen. Analog kann man sagen, daß die Kulturvermittlung sich allmählich von kirchlicher und religiöser Oberherrschaft befreit hat. Die Doktrin vom Lernen um des Lernens willen war (wie die Idee der Kunst um der Kunst willen) eine Phase in der Säkularisierung der Universität — selbst wenn ein Kardinal sich zu ihr bekannte. [2] Die verlorene Aura ist die der Kultur als Ausdruck einer bürgerlichen Gesellschaft. Die Distanz, über welche die Offene Universität Kultur vermittelt, ist nicht nur eine geographische, sondern eine soziale.

Der gemeinschaftliche Charakter der Hochschule war eine unerläßliche Voraussetzung der Bildung — verstanden als Einführung der Studenten in Denk- und Erkenntnisweisen. Unter diesen Umständen war die Kultur unter anderem von einem ganzen Spektrum klassenbedingter Haltungen und Verhaltensweisen geprägt. Gewiß, Radio und Fernsehen bringen den Lehrer gelegentlich in die Wohnung des Studenten. Aber ebenso gewiß bleiben diese in ihren Wohnungen, an ihren Arbeitsplätzen, in ihrem alten Milieu. Sicherlich befinden sich nicht alle von ihnen in einer unüberbrückbaren Entfernung von den kulturellen Belangen der Universität. Doch die Entfernung bleibt.

Ich habe lange nach einem passenden Ausdruck gesucht, um den Prozeß zu beschreiben, den die Ausnutzung der Massenmedien zur Kulturvermittlung durch die Offene Universität darstellt. Die Vollendung der Entsakralisierung des Wissens, sicherlich, aber auch eine Form seiner Reinigung; ein wenngleich unausgesprochener und tastender Versuch, es von klassenbedingten Elementen zu befreien. Vielleicht kann dieser Versuch in solchem Maßstab nur in England gemacht werden, wo die Bourgeoisie kulturell so dominierend war, daß nie ein Zweifel am Klassencharakter der Hochschulen aufkam.

4 Isolierte Studenten

Indessen fällt, in Anbetracht des Fehlens einer lokalisierten Lerngemeinschaft, auf, daß nur relativ wenig Studenten versucht haben, ihre eigenen Studiengruppen zu organisieren. Zweifellos sind die Hindernisse beträchtlich, vor allem der Zeitmangel. Individuelle Vorstellungen von der Aneignung eines fixierten, objektiven Lernstoffs müssen ebenfalls eine Rolle spielen: Die Studenten der Offenen Universität haben traditionelle Ansichten über ihr Verhältnis zur Kultur. Ihre interessanten, oft rührenden Berichte über ihre Mühen und Freuden im Studium widerspiegeln stets die Begegnung eines einzelnen mit der Welt. Sicherlich muß die Offene Universität ihre Studenten einmal auffordern, über ihre Lernweise nachzudenken. Ich befürworte keinen Augenblick einen schwindelnden Abstieg in absurden Subjektivismus, wie er für den Rückzug aus der Kultur in einigen Experimentalzirkeln Amerikas kennzeichnend ist. Ich halte es für wahrscheinlich, daß die Offene Universität künftig mehr Wert auf örtliche Studiengruppen, auf Lernhilfe, Wochenend- und Sommerschulen legen wird — von den Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Studenten anderer Hochschulen gar nicht zu reden. In diesem Fall kann man erwarten, daß die Änderung der Studienform Anlaß zu ernsthaften Diskussionen zwischen Lehrern und Studenten geben wird.

Etwas an der Offenen Universität ist, wenn ich diesen Ausdruck weiterhin verwenden darf, bereits nachbürgerlich: ihre geistige Produktionsweise. Man redet viel davon, wie schwierig es ist, Hochschullehrer, die in einer Solistentradition erzogen wurden, zur Teamarbeit zu bewegen. Diese Tradition ist jedoch nicht authentisch: Die meisten akademischen Individualisten reproduzieren mit marginalen Idiosynkrasien die vorherrschenden Auffassungen und Denkweisen der Hochschule, an der sie ausgebildet wurden. Es ist auffallend, daß unsere Universitäten, die — was die Charaktere betrifft — von Individualisten bevölkert sind, so wenig geistigen Pluralismus aufweisen. Man muß zwischen den psychologischen und den kulturellen Komponenten der Diskussion unterscheiden.

Zweifellos gewährt es ästhetische Befriedigung, als einzelner ein vollständiges (und sichtbarlich vollständiges) Geistesprodukt hervorzubringen. Die meisten Geistesprodukte werden jedoch recht schnell in andere Totalitäten integriert: in Diskussionsströmungen und in kurzfristige Traditionen. In den Naturwissenschaften, wo die geistige Arbeit viel kumulativer ist, ist Teamarbeit durchaus gebräuchlich. Es gibt reichlich Beweise dafür, daß in Kollektiven entstandene Kunstwerke und Geistesprodukte keineswegs schlechter sind als individuell hergestellte: Man denke nur an gotische Kathedralen oder an moderne Filme, von nobelpreisgekrönten wissenschaftlichen Kollektivarbeiten ganz zu schweigen.

Anderseits ist auch Gruppen- oder Teamarbeit an sich nicht besser. Jeder, der sich durch Sitzungen akademischer Komitees hindurchgequält hat, weiß davon ein Lied zu singen. Es ist jedoch nicht gesagt, daß unsere gegenwärtige akademische Arbeitsteilung für alle Zeiten die einzig richtige ist.

Der potentielle Beitrag der Offenen Universität zur höheren Bildung liegt also wahrscheinlich nicht ausschließlich in ihren ökonomischen und technologischen Dimensionen. Die Offene Universität braucht nicht die bestehenden Institutionen nachzuahmen; vielmehr können wir — wenn alles gut geht — auf eine Situation hoffen, in der die Offene Universität uns helfen wird, unsere Lehrauffassungen neu zu überdenken. Die Offene Universität begann mit einer ziemlich unreflektierten Einstellung zum Lehrstoff, mit der Annahme, die Studenten könnten aus einer intakten Kulturtradition noch sehr viel lernen. Ihre Probleme in der Vermittlung dieser Tradition sind jedoch nicht rein technische. Wie alle Hochschullehrer müssen unsere Kollegen von der Offenen Universität sich fragen: Was bleibt, was kann noch gelehrt werden?

[1Matthew Arnold, 1822-1888. Englischer Dichter, Literaturkritiker und Schulreformer. Seit 1851 setzte er sich als „inspector of schools“ für eine grundlegende Reform des veralteten viktorianischen Schulsystems nach kontinentalem Vorbild ein.

[2John Henry Newman, 1801-1890. War in seiner Jugend der intellektuelle Führer einer theologischen Reformbewegung innerhalb der anglikanischen Hochkirche („Oxford Movement“). Konvertierte 1845 zum römischen Katholizismus und wurde 1879 von Papst Leo XIII. zum Kardinal ernannt, obwohl Newman als Vertreter einer liberalen, kritisch-historischen Theologie, die sich an der Evolutionsidee orientierte, immer wieder unter Häresie-Verdacht geriet.

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