FORVM, No. 442/443
Oktober
1990

Plädoyer für einen Nobel-Preis aus der Flaschenpost

Vicki Baum — Sie war Harfenspielerin von Beruf und Boxerin aus Leidenschaft. Aber den Weltmeistertitel erlangte sie in der Literatur. 30 Jahre nach ihrem Tod ist es an der Zeit, die gebürtige Wienerin als das zu würdigen, was sie wirklich gewesen ist: nicht nur die populärste, sondern auch die ungewöhnlichste deutschsprachige Schriftstellerin unseres Jahrhunderts.

I.

Heute betrachtet man Vicki Baum oft nur mehr als eine matt phosphoreszierende Königin der Wühlkisten: wie Georgette Heyer, Ethel M. Dell und Gwen Bristow führt sie das Szepter in jedem Secondhand Bookshop von London bis Melbourne, vom Gotham Book Mart in New York bis zu Smith’s in Wellington, Neuseeland.

Ihre Bücher liegen in mehr als 20 verschiedenen Sprachen rund um den Globus verstreut, in Singapur, Sydney und auch, überraschenderweise, in Amsterdam. Durchweg alte Bände, ein Spektrum aus den 30ern bis in die 50er, mit der größten Breite in den 40er Jahren.

Auch in ihrer Geburtsstadt Wien trifft man sofort auf unzählige Vicki Baum-Titel, in jedem Altwarenladen, im Depot der Caritas liegen sie neben und zwischen Pearl S. Buck und Sinclair Lewis. Doch handelt es sich dabei zumeist nur um angestaubte Goldrückenausgaben der Büchergilde Gutenberg oder der Buchgemeinschaft Donauland aus den 50ern. Mit harmlosen, fast banal klingenden Titeln, wie: „Vor Rehen wird gewarnt“, „Marion“, oder „Flut und Flamme“.

Die sehen heute nach annähernd vier Jahrzehnten auch schon alt aus. Einem nachlässigen Beobachter könnte also fast entgehen, daß wesentlich ältere Titel nicht darunter sind. Entdeckt man einmal ein altes Exemplar von Vicki Baums größten Bestsellern aus den 20er Jahren, wie „Menschen im Hotel“ oder „Stud. chem. Helene Willfüer“, beginnen sogar die verschlafensten Flohmarktonkels, sich auf Phantasiepreise zu versteifen. So kommt man erst ganz allmählich und nebenher darauf, wie gründlich in der Nazi-Zeit alle Werke dieser Autorin, offenbar selbst aus privaten Bücherbeständen, getilgt worden sind.

II.

Doch damit kein falscher Eindruck entsteht: Wer heute ein Buch von Vicki Baum zu lesen wünscht, der braucht sich nicht die Hände bei der literarischen Archäologie zu beschmuddeln. Auf dem deutschen Buchmarkt liegen gegenwärtig 14 Titel im Druck vor. Das ist vielleicht die Hälfte, möglicherweise auch nur ein Drittel, all derer, die sie geschrieben hat. Darunter auch die 1988, zu ihrem 100. Geburtstag, neuaufgelegte Autobiographie „Es war alles ganz anders“ — eines der schönsten, lockersten Erinnerungsbücher überhaupt, aus dem man am liebsten immer wieder seitenweise ganze Passagen laut vorlesen möchte.

Es ist ein schusseliges, lebendiges, unproportioniertes Buch, spürbar eine erste Niederschrift, die Vicki Baum kurze Zeit vor ihrem Tod durch einen Schlaganfall am 29. August 1960 noch irgendwie zu einem veröffentlichungsfähigen Manuskript abgerundet hat.

An dieser Stelle müßte jede neuere Rezeption der Autorin ansetzen, um ein Gespür für diese weltumspannende Karriere zu bekommen, die in der deutschsprachigen Literatur ihresgleichen sucht.

Mühelos erhältlich ist jetzt aber auch manches andere, was man von ihr kennen sollte: „Menschen im Hotel“ natürlich, als einziger von etwa einem Dutzend Romanen, die sie noch in Deutschland geschrieben hat. Der Rest stammt aus ihrer amerikanischen Zeit, und mußte zum Teil erst ins Deutsche übersetzt werden. Neuaufgelegt sind einige ihrer besten Werke, darunter „Cahucho, Strom der Tränen“, „Liebe und Tod auf Bali“, „Die große Pause“, „Hotel Shanghai“ — nicht aber „Bomben über Shanghai“ — das muß man sich auch heute noch (unter dem Titel „Shanghai ’37“) aus den USA kommen lassen. Wie ohnehin bei Neuauflagen der Akzent eher wenig auf ihre „antifaschistische Widerstandsliteratur“ gelegt wird. Bestimmend geblieben für Vicki Baums Image in Deutschland sind jene süffigen Soufflés aus Liebe und Spannung, vom „Rendezvous in Paris“ bis hin zu ihrem posthumen „Kein Platz für Tränen“.

III.

Freilich ist die Verfälschung der Geschichte nicht immer gleich eine Geschichtsfälschung. So hatte der englische Penguin-Taschenbuch-Verlag während des Zweiten Weltkriegs ein Wörterbuch politischer Begriffe herausgebracht. Als einziger zu einem politischen Begriff geworden war dort auch der Exil-Schriftsteller Thomas Mann. Er galt als eine Verkörperung des guten, aufrechten Deutschen, als ein symbolisches Gegenstück zu Hitler.

Gekauft — und sicher auch gelesen — wurden die Werke des Nobelpreisträgers von 1929 gewiß. Thomas Mann hat in Kalifornien nicht Hunger gelitten. Aber welche Autoren damals wirklich Deutschland im Ausland repräsentierten, erfährt man wiederum genauer aus den Ramschläden. An erster Stelle findet man hier: Vicki Baum, immer wieder neue Titel, von deren Existenz man gelegentlich nicht einmal eine Ahnung hat. Dicht gefolgt von B. Traven’s Erfolgskatalog; danach der anglifizierte Leon (statt Lion) Feuchtwanger (mit einigen Titeln); Jacob (statt Jakob) Wassermann („The Maurizius Case“); E. M. Remarque („All Quiet on the Western Front“); Anna Seghers („The Seventh Cross“); und Franz Werfel („The Song of Bernadette“).

Außerdem natürlich Arthur Koestler und Ludwig Bemelmans. Damit ist es dann bereits vorbei mit den deutsch benamten Autoren. Einzig der Österreicher Heinrich Harrer landete noch einen internationalen Hit („Seven Years in Tibet“). Aber der stammt dann schon aus den 50er Jahren.

IV.

Deutsche Literatur, das hieß bekanntlich nach Hitlers Machtübernahme (1933): Literatur im Exil.

Wer nicht umgebracht worden war wie Carl v. Ossietzki oder Erich Mühsam, wer nicht irgendwann Selbstmord beging wie Kurt Tucholsky oder Stefan Zweig, der wanderte zwangsweise ab ins Ausland und saß zuletzt irgendwo im Elend, wie Franz Mehring in der Schweiz oder Heinrich Mann in Kalifornien.

Auch Vicki Baum ging nach Amerika, schon vorher. (Aber mit sehr viel mehr Gleichmut als beispielsweise ihr berühmter Kollege Feuchtwanger, der den Nazis jeden gestohlenen Pfennig aufrechnete: „Wir hatten ein hübsches fünfstelliges Sparkonto“ schrieb sie lapidar, „und als wir nach Amerika auswanderten, erlaubte man uns großzügig, fünfzig Mark davon mitzunehmen. Das übrige floß später in Hitlers Taschen“. Punkt, Ende ihres Kommentars.)

Wer dagegen im Lande blieb, tat entweder so, als sei nichts Ungewöhnliches passiert (Heinrich Spoerl), veröffentlichte unter eigenem Namen im Ausland oder anonym im Inland (Erich Kästner), oder produzierte für die Schublade (Gottfried Benn).

Diese Dagebliebenen der Literatur durften sich nach dem Krieg der dankbaren Anerkennung und liebevollen Umarmung durch das Vaterland gewiß sein. Selbst dem literarischen Ruf eines Gerhard Hauptmann hat es nie geschadet, daß er sich als Dichterfürst der Nazis feiern ließ.

Die Rückkehrer aus dem Exil hingegen stießen auf verschlossene Türen. Wer sich in Deutschland wieder heimisch machen wollte, sei er ein Thomas Mann oder ein Bertolt Brecht, ein Willy Brandt oder auch ein Hans Habe, der konnte immer mit Anfeindungen rechnen. Die verbrannten Autoren sollten, so schien es fast, ausgelöscht bleiben.

V.

Daß Vicki Baum zu den verbrannten Autoren, zur exilierten Literatur gehörte, hat man ihr merkwürdigerweise gleich von mehreren Seiten angekreidet. Ein Leserbriefschreiber im Spiegel verlieh noch 1950 der wohl vorherrschenden Vox-Pop-Stimmung Ausdruck, als er die Ressentiments, die die Amerikaner nun den Deutschen gegenüber empfänden, dem Erfolg der angeblich antideutschen Propaganda-Schriften Vicki Baums anlasten wollte.

Was die Nazi-Propaganda, neben der ohnedies genügend beredten Bücherverbrennung, über die jüdische Autorin wohl ähnlich formuliert haben mag. Man kann es aus solch spätem Echo noch erahnen. Nachlesen kann man es nicht mehr, die Archivsammlungen mit Pressestimmen, beispielsweise ihres alten Stammverlages Ullstein, wurden 1945 ausgebombt.

Eher stiefmütterlich ist Vicki Baum denn auch von der Exil-Forschung der letzten 40 Jahre behandelt worden. Beachtete man sie überhaupt, so oft nur, um sie von hoher Warte herab geringschätzig als Produzentin von Trivialliteratur — (immerhin: gemeinsam mit Erich Maria Remarque, dem Verfasser des erfolgreichsten Anti-Kriegsromans des Jahrhunderts) abzukanzeln.

Oder man sprach ihr gleich ganz das Recht ab, zur deutschen Exil-Literatur dazuzugehören. Sie habe ja nicht erst bis Hitlers Machtantritt gewartet, sondern sei schon ein Jahr vorher — und noch dazu ausgerechnet nach Hollywood — abgewandert. Außerdem habe sie das nicht aus politischen Gründen, sondern aus einer „Instinkt“-Reaktion heraus getan.

Und last not least habe sie ja in Amerika, statt ihre Bücher für ein unerreichbares Publikum auf Deutsch zu schreiben, sie ab 1941 gleich auf Englisch produziert.

Die Werke der so leichtfertig geschmähten Autorin auch noch zu lesen — die Mühe sparte man sich. Zu beschämend wäre sonst wohl, ohne solche Scheuklappen, die Einsicht gewesen, daß Vicki Baum in ihrer Person die Bemühungen der gesamten übrigen Exil-Literaten übertraf (soweit Literatur eben zur Mobilisation gegen Hitler beitragen konnte) und zugleich in dieser Zeit internationalen Deutschenhasses als „deutsche“ Autorin deutsche Menschen vor ein globales Publikum brachte.

VI.

Wer zuviel Erfolg hat, der weckt eben ein eigenartiges Gift: Neid trübt das Urteil selbst der Gebildetsten, und in der deutschen Literaturkritik lautet ein Gesetz, daß, was Erfolg hat, nicht auch noch gut sein kann. Allzuoft dient Beschäftigung mit der Literatur ohnehin nur als Duftmarke zur Absicherung von elitären Klassen- und Bildungsprivilegien der kleinen Kreise gegenüber der breiten Masse.

In England und Amerika war große Literatur immer zugleich populär: vom „Macbeth“ Shakespeares bis zu den Katzengedichten T. S. Eliots, die schon lange vor dem Musical („CATS“) ein Hit waren.

Recht besehen ist es in der deutschen Literatur natürlich nicht anders. Goethe stand zeitlebens unter dem lästigen Schatten seines Ruhms, Verfasser eines internationalen Bestsellers zu sein („Werther“), bis er endlich einen zweiten Super-Bestseller geschrieben hatte („Wahlverwandschaften“).

Die Klassiker, — von Luther („Die Bibel“) bis Günter Grass („Die Blechtrommel“) — sind immer auch immens populäre Autoren gewesen.

VII.

Immens populär: das war Vicki Baum auch.

Bereits ihr zweiter Roman („Der Eingang zur Bühne“, 1920) erreichte eine Auflage von 160.000. Ihr erster („Frühe Schatten. Die Geschichte einer Kindheit“) kam 1914 heraus und scheint in den Kriegswirren untergegangen zu sein.

Danach folgten etwa 10 Romane, die zum Teil in Illustrierten vorabgedruckt wurden. Den Roman „Ulle, der Zwerg“ (die Geschichte eines Zirkusclowns) und ihre Novellensammlung „Die andern Tage“ hielt sie selbst für ihre Besten, für echte Literatur. Ein Urteil, das sich heute nicht mehr überprüfen läßt, weil die Werke unauffindbar geworden sind.

Aber auch ihr erster großer kontinentaleuropäischer Bestseller, die Geschichte der Chemiestudentin Helene Willfüer aus dem Jahr 1929, ist nicht mal mehr als Paperback greifbar. Der Roman, einmal in Frankreich und einmal in Deutschland verfilmt, galt zu seiner Zeit bei der Kritik als „schamlose, schweinische Sensationsmache“. Für Vicki Baum war es „die durchaus anständige Geschichte einer Studentin, die schwanger wird, einen Abtreibungs- und einen Selbstmordversuch macht, sich schließlich aber über ihre Nöte erhebt und sich durchkämpft“. Die Publikumsreaktionen waren gleichwohl eindeutig. Zitat Vicki Baum, 1960: „Ich muß immer lächeln, wenn mir weißhaarige Damen berichten, sie hätten die ‚Helene Willfüer‘, dieses verpönte, unanständige Buch, als Schulmädchen heimlich auf dem Klo gelesen; muß deshalb lächeln, weil ich dann im Geist eine ganze Generation junger Mädchen — und ihrer Mütter — auf zahllosen Toilettensitzen sehe, wie sie meinen vielgescholtenen Roman lesen.“ Merkwürdig, daß nicht einmal einer der heute relativ zahlreichen Frauenbuchverlage dieses Buch für sich wiederentdeckt hat.

Ein geringerer Markt-Erfolg, aber ein absoluter Triumph der leichten Muse, der Tucholskys „Schloß Gripsholm“ in nichts nachsteht, entstand mit „Zwischenfall in Lohwinckel“ (1930). Die letzte Neuauflage, von 1974, findet der heutige Leser ebenfalls nur noch durch ausdauernde Suchaktionen. Daß man ohne solche Anstrengung nicht mehr an das Werk herankommt, ist fast schon ein kleiner Buchmarkt-Skandal.

VIII.

Der Stoff zu „Menschen im Hotel“, 1929 in sechs Wochen hingeschrieben, hatte Vicki Baum bereits seit ihrem 13. Lebensjahr beschäftigt.

Als sie das Buch (ihr zehntes) schrieb, hatte sie, ebenso wie Marlene Dietrich, das Box-Training bei dem türkischen Preisboxer Sabri Mahir aufgenommen, der die vierzigjährige, körperlich winzige 95-Pfünderin täglich eine Stunde hart am Punching-Ball trainieren ließ. Zudem hatte sie jahrelang die intellektuelle Software des kulturellen Weltennabels, der Metropole Berlin, in ihren geistigen Schaltkreis integriert, und befand sich somit absolut auf der Höhe ihrer Zeit.

Kein Wunder, daß Vicki Baum zu literarischer Höchstform auflief und das Buch sofort ein internationaler Bestseller wurde. Die Theaterfassung schrieb sie gleichfalls selbst, nachdem die ungarischen Promoters, die den Stoff auf die Bühne bringen wollten, damit nicht klar gekommen waren. Das Stück wurde ein Erfolg: der junge Regisseur hieß Gustaf Gründgens.

Anschließend ging das Stück nach Amerika, und wurde am Broadway der bis dahin größte Kassenschlager des Jahrhunderts. Als Hollywood sich die Story angelte, fuhr Vicky Baum 1931 nach New York, um das Drehbuch zu schreiben. (Sie blieb sieben Monate, schrieb noch ein weiteres Bühnenstück und einen Roman dazu, kehrte nach Berlin zurück, erlebte Hindenburgs Wiederwahl, und fasste den „spontanen Entschluß“ mit der Familie nach Amerika umzukehren.)

Der Film, „Grand Hotel“ (1932) mit Greta Garbo, den zwei Barrymores (John & Lionel) und Joan Crawford, war natürlich ein Welterfolg und ist ein Kultfilm geblieben, bis heute.

(Es gibt übrigens eine Zweitverfilmung von 1959, mit der Crème des deutschen Films. Unter der Regie von Max Reinhardts Sohn Gottfried traten auf: Heinz Rühmann, Gert Froebe, O. W. Fischer, Sonja Ziemann, und die heute vergessene französischen Schauspielerin Michèle Morgan, die auch in drei weiteren Vicki Baum-Verfilmungen die Hauptrollen spielte.)

Davor war schon 1958 die Hotelgeschichte am Broadway zu neuem Leben erwacht, als Musical („At the Grand“) und eine zweite Musical-Version, unter dem alten Titel „Grand Hotel“, machte im November vorigen Jahres am Broadway erneut Furore. So ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Kreis sich schließt und das Stück auch im Theater des Westens wieder in Berlin zu sehen sein wird.

IX.

Lästiger Ruhm, lästig, anschließend abgestempelt zu sein, als Verfasserin dieses einen Bestsellers, als Autorin von diesem „netten alten Film da“.

Um dem zu entkommen, reiste Vicki Baum nach dem Krieg gen England, und lançierte von dort aus ein Manuskript, unter Pseudonym. „Thomas Laird“ schaffte es, ein Unbekannter, „sein“ Roman fand einen guten Verlag. Doch vor der Drucklegung kam das kleine Geheimnis heraus, und auch dieses Buch (deutscher Titel: „Kristall im Lehm“) erschien mit dem Zusatz auf dem Schutzumschlag: „Ein neuer Roman von Vicki Baum, der Verfasserin von ‚Grand Hotel‘“. Erfolg zu haben ist für einen Schriftsteller freilich gut, aber nicht alles. Er braucht auch eine gute Kritik und eine loyale Lobby, am besten in Form eines Verlags, der seine Werke in immer neuen Variationen an die Öffentlichkeit bringt. Handliche Gesamtausgaben gibt es hier und heute von nahezu jedem bedeutenderen Autor: kartonweise kann man B. Traven, Feuchtwanger, Tucholsky, Anna Seghers und sogar Max Hermann-Neisse nach Hause schleppen.

Von Vicki Baum gibt es nicht nur keine kritische Werkausgabe, sondern noch nicht einmal eine gesicherte Werksübersicht. Die Sekundärliteratur über sie paßt in eine dünne Mappe, besteht fast ausschließlich aus immer neu von einander abgeschriebenen Zeitungsartikeln.

Und was die Kritik über Vicki Baum zu sagen hatte, war hauptsächlich ein Wort: Kitsch. Manchmal mit kreativen Varianten („Wenn Kitsch, dann bitte solchen!“), dann wieder als Kompliment mit Widerhaken („Sie wäre die Marlitt unserer Zeit geworden, hätte sie nicht in Berlin gearbeitet.“) Ofters noch wiederholte man die gut zitierbare Formel, Vicki Baum stelle „ein hochgelungenes Unikum dar: die genaue Mitte zwischen Hedwig Courths-Maler und Thomas Mann“. Wesentlich nüchterner, vielleicht genauer aber eine Spur zu kritisch beschrieb sich Vicki Baum selbst, als „eine erstklassige Schrifstellerin zweiter Güte“.

X.

Der dominante Diskurs in der Literatur, die Art und Weise, wie eine Gesellschaft über sich selbst reflektiert, erfolgt aus männlicher Perspektive. Die Literatur von Frauen erscheint dabei nur am Rande.

Die „weibliche Schreibweise“, um einen Begriff von Hélène Cixous aus dem Französischen herüberzuholen, bedient sich der Mittel, die einfach, rasch und nebenher zum Einsatz gebracht werden können: Tagebuch, Brief, Gedicht. Diese Literaturformen werden als solche von männlicher Kritik gar nicht erst wahrgenommen.

Die bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, Rahel Varnhagen u.a., hinterließen ein literarisches Werk, das hauptsächlich aus Briefen besteht. Emily Dickinson, Amerikas größte Lyrikerin, veröffentlichte zeitlebens nur zwei Gedichte. Tausend weitere fand man, zufällig, nach ihrem Tod, eingenäht in ihrer Matratze.

Auch Vicky Baum schrieb unter den Bedingungen weiblicher Produktion. „Wann können wir mit dem neuen Roman rechnen?“ lautete einmal die telegraphische Anfrage ihres Verlags. „Bald, hoffe ich“, kabelte sie zurück. „Ich will ihn möglichst noch vor Mitte Januar, wenn ich mein Baby erwarte, fertigstellen.“ Ihr Tageslauf in Berlin bestand aus Beruf und Familie. Nach dem Zubettbringen der Söhne, am Ende eines 14-stündigen Arbeitstags, kam ein heißes Bad und ein „zweites Frühstück“, und erst jetzt begann, wie sie es nannte, ihr „zweiter Tag“: „Jetzt hatte ich ein paar stille Stunden ganz für mich. In solchen Stunden habe ich meine Romane geschrieben.“ So, „nebenher“, schrieb sie ihre 30 Romane, 20 weitere warf sie, nach eigener Aussage, in den Papierkorb.

Eine Kurzgeschichte für ein Preisausschreiben der Kölnischen Zeitung verfasste sie während einer einzigen Nacht, im Krankenhaus. Als sie ihren schwerkranken Mann gesund pflegte. Und gewann damit den ersten Preis von 5000 Mark. Der Preisrichter war übrigens keine Frau, keine Kitsch-Genossin Courths-Maler, sondern, eben, Thomas Mann.

XI.

Einen anderen Literaturpreis hat Vicki Baum nie bekommen. Und sicher hätte es ihrer Lebensphilosophie, daß „alles nicht so wichtig“ sei, widersprochen, wenn man ihr zu Lebzeiten einen großen Preis umgehängt hätte.

Sie wäre gewiss eine würdige Anwärterin auf den amerikanischen Pulitzerpreis gewesen, aber vielleicht war sie dafür nicht amerikanisch genug. Die große internationale Literaturauszeichnung, der Nobelpreis, galt dagegen immer schon als fast ausschließliche Domäne der Großschriftsteller männlichen Geschlechts. Auch wenn er an so manche Autoren verliehen worden ist, die heute kaum einmal mehr dem Namen nach bekannt sind. (Wie die Deutschen Preisträger Mommsen, Eucken, Heyse.)

1935 hätte es nur einen Preisträger geben dürfen, einen der wie kein anderer für das Ansehen der deutschen Literatur und der Literatur überhaupt eintrat: Heinrich Mann. Aber ausgerechnet 1935 wurde der Preis für ein Jahr ausgesetzt.

Und in den Kriegsjahren, wie gesagt, gab es niemanden, der die Literatur mehr und effektiver für wahrhaft humanistische Ziele eingesetzt hätte als Vicki Baum. Aber 1940, 1941, 1942, 1943 wurde der Preis wiederum nicht verliehen.

Die Frage muß erlaubt sein, ob Vicki Baum hierzulande größere Geltung besäße, wenn ihr eine dieser Leerstellen nachträglich eingeräumt würde? Ob man ihre Bedeutung höher einschätzte, wenn sie einen Nobel-Preis, gewissermaßen mit der Flaschenpost, hinterhergeschickt bekäme? Man sollte es auf den Versuch ankommen lassen!

Lebensläufe

wie den der Vicki Baum hat es immer wieder gegeben, aber selten in einer einzigen Person vereinigt. In ihr verbanden sich unterschiedliche Aspekte der Karrieren und Werke von:

  • B. Traven — wie er schrieb sie später auf Englisch, über exotische Schauplätze, mit politisch-aufklärerischem Unterton;
  • Günter Wallraff — so jobbte sie einige Wochen als Zimmermädchen im Berliner Hotel Bristol Unter den Linden, um ihren berühmtesten Roman zu recherchieren; verfolgte in New York Kaufhausmädchen bis in die Wohnungen hinein, um deren Lebensumstände für ein Stück, das sie schrieb, zu studieren;
  • Egon Erwin Kisch — wie er recherchierte sie in China, in Südostasien, schrieb Tatsachenromane;
  • Agnes Smedley — wie sie berichtete Vicky Baum über den japanischen Aggressionskrieg gegen China, wie Agnes Smedley schrieb sie ein feministisches Kultbuch;
  • Kurt Weill — wie er hatte sie die größten Erfolge in Berlin und am Broadway, und die erfolgreichen Musical Revivals;
  • James M. Cain — wie er schrieb sie Romane mit kriminalistisch-rasanten, fast filmischen Handlungsabläufen;
  • Somerset Maugham — wie er war sie begabt mit dem Sinn für gesellschaftliche Tiefendimension, dem Talent für klare Erzählführung und gefühlsbewegende Erzählinhalte; wie er schrieb sie erfolgreiche Boulevardstücke;
  • Colette — wie sie artikulierte Vicki Baum kompromisslos weibliche Befindlichkeit vis-à-vis patriarchalischem Herrschaftsanspruch; wurde in Frankreich zur meistübersetzten deutschen Autorin; bearbeitete Colettes „Gigi“ für die Bühne;
  • Yehudi Menuhin — mit der Harfe. Wie er war sie ein musikalisches Wunderkind, trat mit 12 erstmals öffentlich auf, war jahrelang Berufsmusikerin, bis sie im ersten Weltkrieg das Instrument gegen eine Wiege eintauschte;
  • Billy Wilder — sie stammte wie er aus Wien, arbeitete in Hollywood bei rund 20 Filmen mit, in denen die größten Stars jener Zeit mitspielten, darunter die Garbo („Grand Hotel“ und „Die Kameliendame“), und bei einem anderen Kultfilm von damals, „Dance Girl Dance“, aus dem Jahr 1940. Bis zu ihrem Lebensende wurde mindestens noch ein halbes Dutzend deutscher und französischer Verfilmungen ihrer Romane gedreht.
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