FORVM, No. 179-180
November
1968

Programm der Neuen Kritik: Rationalität

Daß zwischen Erkenntnis und Entscheidung, zwischen Theorie und Praxis und letzten Endes auch zwischen Philosophie und Politik enge Zusammenhänge bestehen, ist keine neue Entdeckung. Was das Zeitalter der Ideologien ins allgemeine Bewußtsein gehoben hat, ist nicht die Existenz solcher Zusammenhänge, sondern die Tatsache, daß ihre Eigenart uns dazu veranlassen kann, den Anspruch auf objektive Geltung radikal in Frage zu stellen, der im Namen der Erkenntnis für bestimmte Resultate des menschlichen Denkens erhoben zu werden pflegt, und zwar gerade auch für solche Resultate, die für das gesellschaftliche Leben von fundamentaler Bedeutung zu sein scheinen.

Angesichts des radikalen Ideologieverdachts, der sich aus der Einsicht in den Tatbestand der „Seinsverbundenheit des Denkens“ allem Anschein nach ergeben muß, gibt es verschiedene Möglichkeiten, das Verhältnis von Denken und Sein neu zu bestimmen, Möglichkeiten, die teilweise in sehr einflußreichen philosophischen Auffassungen zum Ausdruck kamen:

  • die bewußte Politisierung des Denkens, die dazu bereit ist, das Objektivitätsideal zu opfern und auf der Basis einer Geschichtsphilosophie, in der einem Teil der Gesellschaft auf Grund seiner sozialen Lage der unmittelbare Zugang zur Wahrheit zugestanden wird, Erkenntnis und Interesse als vereinbar erscheinen zu lassen;
  • die entschlossene Subjektivierung des Denkens, die unter Abwertung der rationalen Diskussion und der sachlichen Orientierung die Bedeutung der existentiellen Entscheidung und der persönlichen Wahrheit betont, für die objektive Erkenntnis im Sinne der positiven Wissenschaft keine Relevanz besitze;
  • und schließlich der Versuch einer Neutralisierung des Denkens durch seine Reinigung von allen politischen und persönlichen Komponenten mit den Mitteln einer am Objektivitätsideal orientierten Erkenntnistheorie und Ideologiekritik, die sich einer reinen, von den Lebensinteressen distanzierten Philosophie verpflichtet weiß, um den wohl umgrenzten und durch akademische Institutionen gegen das übrige soziale Leben relativ isolierten Bereich methodisch gesicherter Erkenntnis zu erhalten und zu fördern, der sich gegen ideologisches Denken schützen läßt.

Vor nicht allzu langer Zeit konnte man den Eindruck haben, daß sich diese drei Tendenzen in geographisch einigermaßen gut bestimmbaren Bereichen durchgesetzt hatten. Im sowjetischen Herrschaftsbereich schien mit der Erhebung einer Variante des Marxismus zur offiziellen Ideologie die Politisierung der Philosophie und weitere Bereiche des übrigen Denkens gelungen zu sein. Im kontinentalen Westesropa hatte sich offenbar vor allem der Existentialismus in seinen verschiedenen Versionen zur herrschenden Auffassung entwickelt, der das Programm der Subjektivierung verfocht. Und im angelsächsisch-skandinavischen Raum hatten die Nuancierungen derjenigen Philosophie das Feld behauptet, die auf die Neutralisierung des Denkens und seine Reinigung von ideologischen Elementen abzielte, einer Philosophie, die man hierzulande pauschal unter „Positivismus“ zu rubrizieren pflegt. [1]

Inzwischen hat sich die Situation geändert, die Fronten sind in Bewegung geraten, und es kommt zu Kontroversen zwischen den bisher in den angegebenen Bereichen dominierenden philosophischen Auffassungen, die sich zuvor weitgehend mit interner Diskussion ihrer systemimmanenten Schwierigkeiten begnügt hatten. Und in dem Maße, in dem dialektische, hermeneutische und analytische Denkweisen aufeinanderstoßen, zeigt sich die Fragwürdigkeit bisheriger Versuche, die jeweils anders orientierten Auffassungen von eigenen Gesichtspunkten her pauschal zu kritisieren.

Es zeigt sich nicht nur die innere Differenziertheit dieser Auffassungsspektren, sondern auch die Existenz bestimmter Gemeinsamkeiten in Problemstellung und Problemlösung zwischen ihnen.

Was den deutschen Sprachbereich angeht, so zieht man seit einiger Zeit aus dem Bereich des analytischen Denkens vor allem die Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins in Betracht, deren Vergleichbarkeit mit hermeneutischen Denkweisen auf der Hand liegt. Außerdem hat die sogenannte Hegel-Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg die Beziehungen zwischen dialektischem und hermeneutischem Denken sichtbar werden lassen und den Dialog mit dem Marxismus, der seit einiger Zeit auch im Osten ein differenziertes Bild bietet, erleichtert und interessant gemacht.

So bedeutsam diese Auflockerung nun auch sein mag, es ist nicht zu verkennen, daß sich auch in ihr noch die Wirksamkeit dessen zeigt, was man die „deutsche Ideologie“ nennen könnte, die Wirksamkeit eines philosophischen Denkens nämlich, das von seiner Fixierung an Hegel und Heidegger nicht loszukommen scheint und daher nur Themen und Thesen in Betracht zieht, die sich von diesen Bezugspunkten her in den Griff bekommen lassen.

Dabei wird übersehen, daß sich inzwischen ein dem Aufklärungsdenken verpflichteter Kritizismus entwickelt hat, der — obwohl er sich weder von Hegel noch von Heidegger herleitet — keineswegs jener „positivistischen Beschränkungen“ geziehen werden kann, von denen man hierzulande mit Vorliebe redet, wenn die im angelsächsischen Bereiche dominierenden Auffassungen in Betracht gezogen werden. Dieser Kritizismus unterscheidet sich schon insofern vom üblichen analytischen Denken, als er weder die Reduktion der Philosophie auf Erkenntnistheorie oder Wissenschaftslehre oder gar auf Sprachanalyse mitmacht, die dem analytischen Programm entspricht, noch die mit diesem Programm vielfach verbundene Neutralitätsthese vertritt, die die kritische Funktion der Philosophie für das soziale Leben vernachlässigt.

Immer noch Theologie

Von diesem Kritizismus her lassen sich einige Schwächen ins rechte Licht setzen, die für den Denkstil der deutschen Ideologie charakteristisch sind, deren Ursprung und Bedeutung aber offenbar den im Banne dieser Auffassung stehenden Denkern nicht erkennbar wird, weil sie geneigt sind, ihr Selbstverständnis im Kontrast zu dem hier üblichen Positivismus-Bild zu bestimmen. Im Lichte dieses Kritizismus zeigen sich vor allem die konservativen Züge dieser Ideologie, die zumindest teilweise mit ihrer theologischen Abstammung zusammenhängen mögen. [2] Nicht zu Unrecht hat man im Zusammenhang mit ihr von einer Fortsetzung der Theologie mit anderen Mitteln gesprochen.

Der neue Kritizismus hat sich vor allem in Auseinandersetzung mit der klassischen Erkenntnistheorie und der in ihr enthaltenen Rationalitätskonzeption entwickelt, deren Auswirkungen sich noch in heutigen erkenntnistheoretischen Auffassungen feststellen lassen. Auch diese Konzeption trägt insofern theologische Züge, als sie an einem Offenbarungsmodell der Erkenntnis orientiert ist, wie es auch sehr deutlich noch im modernen hermeneutischen Denken wirksam ist. [3] Die klassische Methodologie des rationalen Denkens, die in dieser Konzeption zum Ausdruck kommt, geht davon aus, daß es darauf ankommt, einen archimedischen Punkt zu finden, auf den sich unsere Erkenntnis sicher gründen läßt, ein absolutes Fundament unseres Wissens, von dem her sich alle in Betracht kommenden Auffassungen — alle Wahrheiten rechtfertigen und alle falschen Auffassungen — alle Irrtümer — zurückweisen lassen.

Wahrheit und Gewißheit fallen also in diesem Punkte zusammen und können von ihm aus mit Hilfe von Begründungsverfahren irgendwelcher Art auf damit zusammenhängende Punkte unseres Überzeugungssystems übertragen werden.

Das methodische Postulat dieser Rationalitätskonzeption, das Prinzip der zureichenden Begründung, läßt sich übrigens ohne weiteres von theoretischen — oder besser: von kognitiven — Überzeugungen auf moralische, politische und andere Auffassungen übertragen, wenn man sich dazu entschließen kann, die Anwendung dieses Modells nicht willkürlich auf einen bestimmten Bereich einzuschränken. Wenn es gelingt, diese methodische Idee für irgendeinen Problembereich zu realisieren, dann kann man für diesen Bereich offenbar Gewißheit darüber erlangen, daß die Suche nach einer gültigen und damit auch gleichzeitig einer endgültigen Problemlösung Erfolg gehabt, daß man also eine Überzeugung gewonnen hat, die nicht mehr in Frage gestellt zu werden braucht.

Damit können hinfort alle Zweifel und somit auch alle alternativen Lösungen zurückgewiesen werden, die zu solchen Zweifeln Anlaß geben könnten. Wer im Besitz der Wahrheit ist, ist damit gleichzeitig in der Lage, einen theoretischen, ethischen oder politischen Pluralismus als inadäquat zurückzuweisen.

Daß es heute noch eine erhebliche Anzahl von Leuten gibt, die eine solche Auffassung zumindest für einen begrenzten Bereich ihnen unumstößlich erscheinender Wahrheiten vertreten zu müssen meinen — wobei einerseits religiöse oder moralische, anderseits aber auch wissenschaftliche, darunter vor allem auch mathematische Aussagen in Frage kommen —, ist schwerlich zu bestreiten. Sie alle haben für diesen Bereich die klassische Lehre akzeptiert, die schon in der Aristotelischen Wissensdefinition zu finden ist, die Idee nämlich, daß Wissen, Wahrheit und Gewißheit zusammengehören.

Die Schwächen dieser Lehre kommen zum Vorschein, wenn man die Problemsituation analysiert, die entstehen muß, wenn das Prinzip der zureichenden Begründung ernst genommen wird, das in ihr vorausgesetzt wird. Man sieht sich dann nämlich mit einer Situation konfrontiert, für die ich die plausible Bezeichnung Münchhausen-Trilemma vorschlagen möchte. Man hat in ihr offenbar die Wahl zwischen drei Alternativen, die aber im Lichte des Begründungsprinzips alle als nicht akzeptabel erscheinen müssen, nämlich zwischen

  • einem unendlichen Regreß durch die Notwendigkeit, in der Suche nach Gründen immer weiter zurückzugehen;
  • einem logischen Zirkel durch Rückgang auf Aussagen, die vorher schon als begründungsbedürftig aufgetreten waren; und
  • einem Abbruch des Verfahrens der Begründung an einem bestimmten Punkt.

Da die erste dieser Alternativen unpraktikabel ist, die zweite aber einen offensichtlichen Fehler enthält, besteht die Neigung, als einzigen Ausweg die dritte anzunehmen. [4] Aber auch diese Lösung ist nicht brauchbar, weil sie nichts anderes bedeutet, als daß man das Begründungsprinzip an diesem Punkt willkürlich suspendiert, was auf die Einführung eines Dogmas hinausläuft.

In den verschiedenen philosophischen Auffassungen, die die klassische Begründungsidee enthalten, pflegt dieser Rekurs auf ein Dogma, der als einziger Ausweg zu bleiben scheint, durch Redeweisen paraphrasiert zu werden, die den Charakter dieses Verfahrens zu verschleiern geeignet sind, zum Beispiel durch die Rede von der Selbstevidenz gewisser Aussagen, durch den Hinweis auf Intuitionen oder Erlebnisse, die fundierenden Charakter haben, oder auf eine apriorische Wesensschau, die unmittelbare Erkenntnis liefert.

An dieser Stelle enthält die klassische Lehre das dem theologischen Denken entsprechende Offenbarungsmodell, das geeignet ist, einen Abbruch des Begründungsverfahrens plausibel erscheinen zu lassen. Wenn das rationale Denken an irgendwelche letzten Gegebenheiten anknüpfen kann, die ihm durch Offenbarung vermittelt werden, scheint jedenfalls ein natürliches Fundament erreichbar zu sein, das Gewißheit und Wahrheit garantiert.

Allerdings müssen die betreffenden Erkenntnisse als Offenbarungen identifiziert werden, und damit ist die Frage eines adäquaten Kriteriums aufgeworfen, die, wenn sie einmal gestellt wird, die Illusion des archimedischen Punktes zum Verschwinden bringen muß. Die Beseitigung der theologischen Residuen in der Erkenntnislehre muß aber zu einem konsequenten „Fallibilismus“ führen, der die klassische Verbindung von Wahrheits- und Gewißheitsidee aufgibt und damit gleichzeitig das an der Idee der Rechtfertigung orientierte Rationalitätsmodell durch eine Konzeption ersetzt, in der die autoritär-dogmatische Struktur dieses Denkens, die auch politisch von erheblicher Bedeutung gewesen ist, überwunden wird. Das ist in der Erkenntnislehre des neuen Kritizismus geschehen, vor allem in den Arbeiten Karl Raimund Poppers. [5]

In dieser Erkenntnislehre tritt an die Stelle der Rechtfertigungsidee das Prinzip der kritischen Prüfung, von dem her prinzipiell alle Komponenten kognitiver und normativer Überzeugungen in Frage gestellt werden können. Die Suche nach einem sicheren Fundament der Erkenntnis wird durch Versuche umfassender und systematischer Erklärung durch gehaltvolle und kohärente Theorien ersetzt, die kritischen Prüfungen zugänglich sind und sich in ihnen bewähren können.

Die Erfindung alternativer Problemlösungen, also: die Konstruktion neuer und mit bisherigen Auffassungen kollidierender Theorien und Erklärungen, die Entwicklung neuer Gesichtspunkte, die zur Kritik bisheriger Auffassungen herangezogen werden können, sind im Rahmen dieser Lehre positiv zu beurteilen, da sie geeignet sind, die Schwächen bisheriger Lösungsversuche zu enthüllen und den Erkenntnisfortschritt zu fördern.

Nicht das statische Ideal eines ein für allemal fixierten, axiomatisch durchkonstruierten und möglicherweise formalisierten sicheren Aussagengebäudes, einer Erkenntnis more geometrico, ist in ihr wirksam, sondern die dynamische Idee einer durch Konstruktion, Kritik und Revision fortschreitenden Entwicklung unseres Wissens, wodurch auch wohlbegründet erscheinende Erkenntnisse wieder problematisch werden können.

Wenn man so will, kann man hier von der Entstehung einer dialektischen Konzeption im Milieu des analytischen Denkens sprechen, ohne daß dabei allerdings an eine Verwandtschaft mit denjenigen Strömungen im Einfußbereich des deutschen Idealismus zu denken ist, die diese Bezeichnung durch eine teilweise recht fragwürdige Praxis des Denkens bei nüchtern eingestellten Denkern in Verruf gebracht haben.

In diesem Zusammenhang ist vielmehr an die Dialektik der Vorsokratiker zu erinnern, der wir die Erfindung der indirekten Beweismethode verdanken, einer Methode, die darauf ausgeht, Widersprüche abzuleiten, um Widerlegungen zu erzielen, [6] die also das Prinzip der Widerspruchsfreiheit in ähnlicher Weise methodisch ins Spiel bringt, wie das die oben kritisierte klassische Lehre mit dem Prinzip des zureichenden Grundes macht.

Logik aus Wien

Die Wissenschaftslehre des Kritizismus hat sich gerade auch in kritischer Auseinandersetzung mit der „reinen“, auf formale Probleme konzentrierten und ohne Zusammenhang mit der Geschichte der Wissenschaften entwickelten Wissenschaftslogik entfaltet, wie sie zum Beispiel im „Wiener Kreis“ der Philosophie gepflegt wurde. Das bedeutet allerdings keineswegs, daß der Kritizismus die Beiträge, die von Vertretern der Wissenschaftslogik zur Lösung wichtiger Probleme — vor allem der formalen Struktur und formaler Zusammenhänge in Aussagensystemen — geleistet wurden, und die Impulse unterschätzt, die dieses Denken für die Diskussion wissenschaftstheoretischer Probleme gegeben hat.

Zwar werden die extremen Idealisierungen in bezug auf die menschliche Erkenntnissituation, die in dieser Lehre dominieren, der Kritik unterworfen, [7] aber es wird nicht verkannt, daß der erkenntnistheoretische Modell-Platonismus dieser und verwandter Strömungen der Philosophie erheblich dazu beigetragen hat, die Problemsituation zu strukturieren und andere Lösungen der betreffenden Probleme zu provozieren.

Konzeptionen, in denen der Formalismus dieses Denkens überwunden wurde, wurden vielfach gerade von Denkern ausgearbeitet, die dem „Wiener Kreis“ mehr oder weniger nahestanden. [8] Verbesserungsvorschläge kamen oft aus dem Einflußbereich dieser philosophischen Tradition selbst, nicht von denen, die die in ihr wirksamen Idealisierungen durch vage und unfruchtbare Spekulationen über das Wesen der Erkenntnis und der Wissenschaft ersetzen wollten, in denen das Offenbarungsmodell eine noch erheblich stärkere Rolle spielt, als dies in der Erkenntnislehre des klassischen Rationalismus der Fall war, zumal da in ihnen oft ein Irrationalismus zum Vorschein kommt, in dem von der Tradition der kritischen Vernunft, in der sich das griechische Erbe unserer Kultur erhalten hat, wenig zu spüren ist.

Die an der Idee der kritischen Prüfung orientierte Rationalitätskonzeption ist aber keineswegs nur als ein Beitrag zur Wissenschaftslehre aufzufassen. Der Kritizismus ist vielmehr ebenso wie der Fundamentalismus des Begründungsdenkens eine allgemeine Auffassungsweise, die sich nicht nur auf die Wissenschaft, sondern auch auf die anderen Bereiche des sozialen Lebens beziehen läßt. Er geht davon aus, daß es keinen Bereich gibt, in dem die Dogmatisierung von Ergebnissen des menschlichen Problemlösungsverhaltens als an sich wertvoll anzusehen ist, keine Sphäre also, die dem kritischen Denken entzogen werden darf.

Philosophie als Gehorsamslehre

Die Wissenschaft ist allerdings derjenige Bereich der Gesellschaft, in dem de facto die an der Idee der kritischen Prüfung orientierte methodische Praxis seit langer Zeit motivational und institutionell am stärksten verankert ist und von dem aus sie im Laufe der geschichtlichen Entwicklung — teilweise mit wechselndem Erfolg — auf andere soziale Bereiche übertragen wurde. Sie ist außerdem das Gebiet, in dem die Methodologie der kritischen Prüfung in einer auf reine Erkenntnisprobleme bezogenen Weise im einzelnen ausgearbeitet, weiterentwickelt und in problemspezifischen Verfahrensweisen — zum Beispiel in Ableitungs- und Forschungstechniken — konkretisiert wurde.

Es besteht aber kein Anlaß, diese Methodologie auf einen solchen Bereich einzuschränken, in dem sie unzweifelhaft bisher die größten Erfolge erzielt hat, denn sie ist auf die nicht bereichsgebundenen allgemeinen Züge des menschlichen Problemlösungsverhaltens beziehbar. Sie geht davon aus, daß menschliches Denken und Handeln prinzipiell fehlbar, Mißverständnissen, Fehlern und Irrtümern aller Art unterworfen ist, daß es keine absolut sicheren Antworten, keine garantiert fehlerfreien Problemlösungen geben kann, gleichgültig, ob es sich um wissenschaftliche, technische, ökonomische, künstlerische, moralische, politische oder auch philosophische oder religiöse Probleme handelt.

Sie zieht aus dieser Situation die methodologisch relevanten Konsequenzen, die im wesentlichen darauf abzielen, der Immunisierung von Problemlösungen irgendwelcher Art gegen Kritik entgegenzuwirken und Arten relevanter Kritik zu spezifizieren. Dabei kommt es unter anderem auch darauf an, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Erkenntnis für die anderen Bereiche des sozialen Lebens fruchtbar zu machen.

Im Zusammenhang damit steht die Tatsache, daß der neue Kritizismus die im Milieu des analytischen Denkens teilweise vorherrschenden Neutralisierungstendenzen und die damit verbundene Beschränkung der kritischen Rationalität zurückweist und das Programm der Aufklärung wieder aufnimmt, das solche Einschränkungen nicht duldet.

Vor allem die auf die Spätphilosophie Wittgensteins zurückgehende These, daß die Philosophie nur beschreibt, was ist, und daß sie alles bestehen läßt, so wie es ist [9] — eine These, die vor einiger Zeit in der von Winch in der Nachfolge Wittgensteins entworfenen aprioristischen Soziologie der Lebensformen [10] in radikaler Konsequenz entwickelt wurde —, muß diesem Programm zum Opfer fallen. In ihr kommt der gleiche Irrationalismus zum Ausdruck, dem man in der deutschen Philosophie zum Beispiel in der sehr einflußreichen auf Martin Heideggers Seinsdenken zurückgehenden universalen Hermeneutik Gadamers begegnet, [11] einer Lehre, die insofern der oben erwähnten Subjektivierungstendenz erliegt, als in ihr nicht nur ohne jede rationale Argumentation gegen das Objektivitätsideal der Wissenschaft polemisiert, sondern darüber hinaus einer Orientierung des Verstehens an dogmatischen Denkweisen das Wort geredet und mit deutlicher Frontstellung gegen die Aufklärung die Philosophie einer vernehmenden Vernunft ausgeliefert wird, die sie zur Stütze des theologischen Denkens geeignet macht.

Es zeigt sich darin, daß die radikale Neutralisierung des analytischen und die radikale Subjektivierung des hermeneutischen Denkens zu durchaus ähnlichen Konsequenzen führen: zur kritiklosen Hinnahme einmal gegebener Lebensformen oder zur gehorsamen Einordnung in gegebene Traditionen, wobei in beiden Fällen kritische Auseinandersetzung mit dem Gegebenen als jenseits der philosophischen Kompetenz liegend angesehen wird.

Der am Programm der Aufklärung orientierte Kritizismus kann sich nicht dazu verstehen, bestehende Lebensformen und tradierte Glaubensweisen als sakrosankt zu betrachten, denn eine solche Haltung würde nur eine willkürliche Einschränkung des kritischen Denkens zugunsten liebgewordener Denk- und Verhaltensgewohnheiten bedeuten, die für Bereiche außerhalb der Wissenschaft nicht plausibler ist als für die wissenschaftliche Forschungsarbeit selbst.

Daß man etwa eine vernünftige Einteilung unserer Überzeugungen in die zwei Sphären des Glaubens und des Wissens vornehmen könnte, wobei die erste der beiden auf jeden Fall immun gegen kritisch Einwände „von außen“ bleiben müsse, ist ein Vorurteil, das keinen Anspruch auf unseren Respekt hat, wenn wir nicht bereit sein wollen, die Moral des kritischen Denkens gerade in Fragen zu suspendieren, die wir für besonders wichtig halten. [12]

Dieses etwas merkwürdige Vorurteil erfreut sich allerdings heute noch großer Beliebtheit nicht nur bei Laien, sondern darüber hinaus bei manchen Vertretern der Wissenschaft und bei einer ganzen Reihe von Philosophen, die sich offenbar Illusionen über den Wert solcher Bereichseinteilungen hingeben. Wir können nämlich prinzipiell davon ausgehen, daß die Dogmatisierung irgendwelcher — und zwar beliebiger — Bestandteile unseres Überzeugungssystems stets möglich ist, wenn wir uns dazu entschließen, diese Komponenten gegen jede Kritik zu immunisieren, daß aber anderseits eine solche Dogmatisierung niemals notwendig ist.

Die Kritikimmunität ist also keineswegs eine natürliche Eigenschaft bestimmter Teile unserer Welt- und Lebensauffassung, sondern sie kann jeweils hergestellt werden, wenn wir uns scheuen, kritische Argumente in Betracht zu ziehen.

Die Konsequenzen dieser Einsicht für die Methodologie des Denkens, auch diejenigen, die die erwähnten Bereichseinteilungen betreffen, liegen auf der Hand. Wie sich die Wendung der protestantischen Theologie in ihrer nachliberalen Periode zum neoorthodoxen Denken, wie sich die Entmythologisierungsbemühungen der Bultmann-Schule und die Wiederbelebung des eschatologischen Denkens in der Moltmannschen Theologie der Hoffnung im Lichte dieser Konsequenzen ausnehmen, das auszuführen, muß ich mir an dieser Stelle ersparen.

nächster Teil: Programm der Neuen Kritik: Engagement

[1Vgl. zu dieser Skizze der Situation José Ferreter Mora, Die drei Philosophien, in: Der Monat, 105, 1957; zur Analyse des sogenannten Positivismus vgl. Willy Hochkeppel, Philosophie der kleinen Wahrheiten, Neues FORVM, Mai 1968.

[2Vgl. zum Beispiel die Arbeiten Ernst Topitschs, vor allem seinen Aufsatzband: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, 2. Auflage, Neuwied/Berlin 1966, sowie: Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, Neuwied/Berlin 1967.

[3Zur Kritik an diesem Modell vgl. vor allem: Karl Popper, On the Sources of Knowledge and Ignorance, in seinem Aufsatzband: Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge, London 1963; vgl. auch das I. und II. Kapitel meines demnächst erscheinenden Buches: Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968.

[4In Hugo Dinglers Philosophie der Logik und Arithmetik, München 1931, ist eine analoge Situation für die Analyse der Problematik des Wahrheitskriteriums aufgewiesen, vgl. a.a.O., S. 21 ff.

[5Vgl. zum Beispiel seinen o.a. Aufsatzband: Conjectures and Refutations, aber auch seine schon 1934 in Wien erschienene: Logik der Forschung, 2. Auflage, Tübingen 1966.

[6Vgl. die einschlägigen Arbeiten Árpád Szabos, vor allem: Anfänge des Euklidischen Axiomensystems, in: Zur Geschichte der griechischen Mathematik, Darmstadt 1965. Zur Frage der Anwendung in diesem Sinne dialektischer Verfahrensweisen in der Mathematik vgl. auch Imre Lakatos, Proofs and Refutations, The British Journal for the Philosophy of Science, Vol. XIV, 1963/4.

[7Vgl. dazu neuerdings: Gerard Radnitzky, Contemporary Schools of Metascience, Vol. I, Göteborg 1968.

[8Hier ist zum Beispiel auf Viktor Krafts Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, 2. Auflage, Wien 1951, und seine Erkenntnislehre, Wien 1960, hinzuweisen, auch darauf, daß schon Ernst Mach, der zu den Vorläufern des „Wiener Kreises“ zählt, in seiner Lehre den Entwicklungsaspekt berücksichtigt hat.

[9Zur Kritik dieser Auffassung vgl. das Buch Ernest Gellners, Words and Things, A Critical Account of Lingustic Philosophy and a Study in Ideology, London 1959.

[10Vgl. Peter Winch, Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie (1958), Frankfurt 1966; zur Kritik vgl. Ernest Gellner, The New Idealism, in: Lakatos-Musgrave, Problems in the Philosophy of Science, Amsterdam 1968, S. 377 f.

[11Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Aufl. Tübingen 1965.

[12Vgl. zu dieser Problematik vor allem: Walter Kaufmann, Religion und Philosophie (1958), München 1966, derselbe: Der Glaube eines Ketzers (1959), München 1965, William Warren Bartley, The Retreat to Commitment, New York 1962.

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