FORVM, No. 123
März
1964

Recht, Staat, Rechtsstaat

In relativer Jugend und doch ganz ohne die oft zugehörige Ellbogentechnik ist René Marcic, Mitglied unserer Redaktion und Chefredakteur der „Salzburger Nachrichten“, vormals Dozent an der Universität Wien, in die vorderste Reihe des Nachwuchses an österreichischen Staatsrechtslehrern gelangt, wie seine Berufung als ordentlicher Professor auf den neuen Lehrstuhl für Rechts- und Staatsphilosophie an der philosophischen Fakultät der Universität Salzburg nun bewiesen hat. Untenstehend legt er, in Fortsetzung der FORVM-Diskussion über Verfassungsfragen (zuletzt Friedrich Koja: „Bundesstaat ohne Bundesrat“, Heft X/110) samt einer gründlich fundierten Einleitung ein 15-Punkte-Programm für die Reform der österreichischen Verfassung vor.

Noch bis vor kurzem waren die Verfassungsfragen in Österreich zwar wie eh und je offen, aber nicht sichtbar: Jetzt sieht sie jedermann. Das Verhältnis der richterlichen Gewalt zur gesetzgebenden Gewalt steht in Frage; es gilt, den verfassungsmäßigen Standort und die verfassungsmäßige Funktion des Richters in der demokratischen Republik Österreich zu erkunden.

Allein, das ist nicht die einzige Frage, die Österreich bedrängt, wiewohl sie sich als das Grund- und Hauptproblem der österreichischen Verfassungsordnung ausweist. Vor bald zwei Jahren hatte Österreich eine Verfassungskrise von anderer Art erlitten: den sogenannten Exekutivstreit, in dem Regierung und Gewerkschaft um die Befehlsgewalt in diesem Lande wettgestritten hatten.

Die Krise von heute und die Krise von gestern zeigen die Artverschiedenheit an, die zwischen Verfassungsfragen eines Staates waltet. Ich möchte diese Artverschiedenheit folgendermaßen festhalten: Es sind strukturelle offene Verfassungsfragen und normative Verfassungsfragen auseinanderzuhalten.

Dort wird der unvermeidliche, in sich bedingte Abstand in den Blick genommen, der allerwärts und alleweile die Verfassung als Norm von den Erscheinungen der Macht im Alltag, von der fälschlich so genannten „Verfassungswirklichkeit“ trennt. Hier, bei den normativen Problemen, geht es gleichsam um einen Familienstreit im Bereich des Normativen, um die Distanz zwischen der lex lata und der lex ferenda, eine Distanz, die weder die Tiefe noch die Breite und den Umfang der Strukturprobleme erreicht. Es geht bei den normativen Problemen einfach darum, daß die Ansätze, die in den Falten der geltenden normativen Ordnung ruhen, fort- und ausgebildet werden.

Den Staat, in dem Verfassungsnorm einerseits und Praxis des Alltags, die Erscheinungen der Macht anderseits einander vollkommen deckten — diesen Staat hat noch niemand gesehen. Der Abstand ist ontologisch, im Seinsgefüge eingeschlossen. Worauf es ankommt, ist die Frage: Wie weit darf der Abstand sich spannen, ohne daß die Gemeinschaft, die von der Verfassungsnorm zusammengehalten wird, auseinanderbricht?

Die Antwort hängt maßgeblich — ohne daß sie die Frage ausschöpfte — von der Technik des Verfassungszuschnitts, von der Art des Verfassungsbaues ab.

Ist eine Verfassung von vornherein weitwendig, breit-salopp angelegt und zugeschnitten, so kann der soziale Körper, den die Verfassung einkleidet, recht viel zunehmen oder abnehmen, sich verändern. Staaten ohne geschriebene Verfassungen, etwa die Staatenwelt der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts, heute England und Neuseeland — solche Staaten vertragen gesellschaftliche Strukturänderungen am leichtesten: Der „stille Verfassungswandel“, der sich auf dem Wege der Gewohnheit vollzieht, stößt auf keinerlei Schranken des geschriebenen Wortes.

Nicht ganz so leicht, aber doch recht leicht, tun sich die Staaten, die zwar eine geschriebene Verfassung haben, deren Verfassungsurkunde jedoch großmaschig verfertigt ist. Es sei auf die Vereinigten Staaten von Nordamerika verwiesen. Verfassungen dieser Art gleichen den breiten, weiten Hosen, die der sowjetische Partei- und Regierungschef Chruschtschew trägt.

Hosen und Verfassungen

Die Staaten der Gegenwart stehen zum Großteil unter geschriebenen Verfassungen, deren Bauart sich durch enge Zugeschnittenheit auszeichnet. Die Verfassungen sind nicht nur schriftlich festgesetzt, in Urkunden niedergelegt, sie sind obendrein eng angepaßt an den Sozialkörper, den sie einkleiden sollten, so wie er im Augenblick des Verfassungsbaues gerade war. Solche Verfassungen gleichen den Röhrenhosen, die gegenwärtig große Mode sind. Nimmt ihr Träger auch nur einige Dekagramm zu oder ab, wird die Hose zum Problem.

Der bisherige Gedankengang kann in der Feststellung zusammengefaßt werden, daß Staaten mit geschriebenen und fein zugeschnittenen Verfassungen weit eher in jene Abnormalität eines bedrohlichen Abstandes zwischen normativer Struktur und sozialer Struktur verfallen.

Vollends in Österreich hat sich zwischen der Verfassung als Norm und der politischen Praxis des Alltags eine Kluft aufgetan, die das Maß des Erträglichen sprengt.

Die politische Praxis des Alltags, die tatsächlichen Erscheinungen der Macht, werden meist „Verfassungswirklichkeit“ genannt. Gemäß der ältesten Denktheorie, die das Europäertum trägt, gemäß der Ontologie des Aristoteles — die bis auf den heutigen Tag gilt, allen Abweichungen zum Trotz, zu denen Gaukler uns verführen — wird das Maß als Inbegriff der Vollendung, also die Norm, in unserem Fall die Verfassungsurkunde, mit dem Ehrentitel Wirklichkeit versehen; der Abstand hingegen, der den sogenannten Tatsachenbereich von der Norm als Wirklichkeit fernhält, wird als Mangel, Wirklichkeitsminderung, στέρησις, privatio ausgewiesen.

Wenn Goethe einmal sagt, der Mensch möge das werden, was er ist, so wird ebendiese ontologische, seinsgerechte Relation freigelegt: der Mensch ist nur in dem Maße, Grade und Sinne wirklich, wie er dem Inbild des Menschen entspricht, nahekommt.

Es sei mir erlaubt, nach einem Beispiel zu greifen, das ausgeprägte Anschaulichkeit leiht; Aristoteles, Sohn eines Arztes, gebraucht es in seinen politisch-theoretischen Schriften. Ein Arzt kann seine Heilkunst unter dreierlei Gesichtspunkten üben, wobei es jeweils auf den Hauptakzent ankommt, der freilich die Nebenakzente nicht ausschließt. Der Arzt kann seine Heilkunst üben: um Honorare zu gewinnen; oder um sich in seiner Praxis zu vervollkommnen; oder um der Gesundheit und der Genesung des Patienten willen. Dazu sagt Aristoteles: Nur im dritten Fall ist der Arzt wirklich ein Arzt. So ist ein Staat nur in dem Maße und in dem Sinne wirklich ein Staat, in dem er auf Grund der Rechtsordnung und um der Freiheit des Menschen und der Gemeinschaft willen wirkt.

Ins Juristische übergeführt: Der Staat ist nur in dem Maße, Grad und Sinn wirklich, wie er der eigenen Verfassung genügt. Abstände welcher Art auch immer, die aufkommen, sind Erscheinungen, die man nicht hinnehmen kann. Sie müssen bewältigt werden.

Zwei Methoden bieten sich jeweils an: die Methode des „Zurück zur Verfassung“; oder die Methode, wonach die Verfassung als Anzug erweitert, enger gemacht oder überhaupt zum Altwarenhändler getragen wird — worauf man zum Schneider geht und sich einen neuen Anzug bauen läßt.

In diesem Fall gilt es, die Norm auf dem rechtsnormativen Weg dem neuen Sozialgefüge anzugleichen. Diese Methode ist unumgänglich, wenn die Kluft, die sich zwischen die Verfassungsnorm und die Alltagspraxis gleichsam eingezwängt hat, einen solchen Umfang erreicht, daß die Methode des „Zurück zur Verfassung“ weder tunlich noch möglich erscheint.

Ich glaube, daß Österreich an diesem Gefahrenpunkt angelangt ist. Ich weiß, daß führende und einflußreiche Verfassungsjuristen am Werk sind, die meinen, daß ausschließlich die Methode des „Zurück zur Verfassung“ das Gebot der Stunde sei. Mag sein. Doch man sollte jedenfalls erwägen, daß das eigentlich Unerträgliche der Abstand als solcher ist, der es bewirkt, daß niemand mehr an die normative Kraft der Verfassung glaubt; daß uns die eigene Verfassungsurkunde unglaubwürdig erscheint; daß wir im Begriffe stehen, uns der schamlos so genannten „normativen Kraft des Faktischen“ zu beugen.

Das Leben in der Verfassungslosigkeit vernichtet langsam, aber sicher und gründlich jegliche Achtung vor dem Recht: unten, unter den einfachen Rechtsunterworfenen, wie oben an der Spitze.

Das Gesellschaftsgefüge, der Sozialkörper von heute und die Sozialstruktur von gestern, vor fast einem halben Jahrhundert, als das Bundesverfassungsgesetz entworfen und in Kraft gesetzt wurde, sind durch Welten geschieden. Es ist eine Tatsache der naturwissenschaftlichen, experimentellen und der denkerischen Erfahrung, daß wir eine Zäsur, einen Umbruch erlebt haben und erleben, der keinerlei Vergleiche mit den Zeitübergängen der Vergangenheit leidet, etwa: Antike—Mittelalter, oder Mittelalter—Neuzeit.

Man spricht von der Industriegesellschaft, der Konsumgesellschaft, der Massengesellschaft, dem Gleichheitsprinzip als ausschlaggebenden Formkräften der Gesellschaft der Gegenwart. Kann da jemand glauben, daß solch totaler Wandel ohne Spuren, die aufs Normative übergreifen, sich vollzieht? Hier einfach „Zurück zur Verfassung!“ zu fordern, verrät erstaunliche, wenn nicht sträfliche Kurzsichtigkeit.

Die politische Organisation des Volkes als der Materie des Staates war vor einem halben Jahrhundert hauptsächlich von den politischen Parteien, mit Erfolg, besorgt worden. Jedoch war das Gefüge der politischen Parteien in Mitteleuropa damals anders als in der Gegenwart. Einst waren es vornehmlich Weltanschauungsgruppen, Richtungsverbindungen, Idealkorporationen; hier und jetzt sind die politischen Parteien meist weniger ein Bund von Gleichgesinnten als Verbundgesellschaften von Interessenten, denen die Gesinnung mehr oder weniger gleichgültig ist.

Emanzipation der Macht

Das Hauptkennzeichen der Gegenwartsgesellschaft ist ihre Verbandsförmigkeit. Die Gesellschaft ist neuerdings in Stände gegliedert, konsozial strukturiert, zerfällt in Interessentenbünde: Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, Genossenschaften, Industriellenvereinigungen bis zu den Kammern, die schon ein Stück des Staates sind. Die Universitäten, Forschungszentren und -stätten, die Wissenschaft, die Kunst, die Welt des Theaters und, was hervorsticht, der Sport — sie alle bilden selbständige und eigenständige soziale und politische Kräfte, die eine Heimstatt in der Verfassung suchen.

Der Staat hat schon seit langem das Machtmonopol eingebüßt; heute liebt es die Macht, sich zu emanzipieren, neue Zentren und Herde zu bilden, die sogenannten „intermediären Machtzentren“: eben die Sozialpartner, die Sportler, die Wissenschaftler, die Kulturträger usf. Sie suchen und finden ihre existenzielle Repräsentation; allein, wo bleibt die konstitutionelle, institutionelle Repräsentation solcher Interessentenorganisationen?

Zuweilen brechen die neuen Mächte wie reißende Wildbäche auf und überschwemmen die Legalstruktur. Soll man nicht den Wildbach verbauen? Gewiß, es schickt sich nicht, uneheliche Kinder in die Welt zu setzen — doch wer wird dafür sein, sie, wenn sie einmal da sind, zu töten? Das beste Mittel ist die legitimatio per subsequens matrimonium.

Wer vor zwei Jahren die Effektivität der Macht der Gewerkschaften übersehen hatte, dem ist nicht zu helfen. Nicht die Macht als solche birgt die Gefahr; die Gefahr zieht dort auf, wo die Macht der Kontrolle davoneilt, wo die Macht unkontrolliert gehandhabt wird: wo sie wirkt, ohne rechtliche Verantwortung zu tragen.

In Österreich haben sich regelrechte eigene Gruppenrechtsordnungen gebildet, die vom Bundes-Verfassungsgesetz einfach nicht normativ gedeckt sind. Die Verfassung kennt zum Beispiel keine soziale Selbstverwaltung im eigentlichen Sinn. [1] All die genannten intermediären Kräfte, die bisweilen den Staat zu zerreißen drohen, tragen in sich die Eigenschaft von Integrationselementen. Sie sind geeignet, die erlahmenden Integrationsfunktionen des althergebrachten Staatsapparates zu ersetzen, sich mit ihnen zu verbinden, die Staatseinheit zu festigen und zu verbürgen — doch unter einer Voraussetzung: daß sie legitim und legal der Verfassungsordnung eingefügt werden.

Die effektive Mitwirkung der Verbände, das laute, oft allzu laute Mitspracherecht, von dem sie Gebrauch machen, muß von Verfassungs wegen geordnet und mit verfassungsrechtlicher Verantwortung wettgemacht werden. Das verfassungsrechtliche Engagement könnte die unkontrollierten Mächte in berechenbare Bahnen lenken.

Von den Wegen, die zur institutionalisierten Mitwirkung der intermediären Machtzentren führen sollen, ist einer schon vielfach, wenn auch zaghaft und mit wenig Erfolg beschritten worden: es ist dies die Errichtung einer Kammer als einer Parlamentsabteilung, eines eigenen „Hauses“ oder „Rates“. In der Weimarer Republik, in Preußen, in Österreich unter dem autoritären Regime, in der Fünften Republik Frankreich, usf., waren oder sind „Wirtschaftsräte“ eingesetzt. Am folgerichtigsten wurde die Ständegliederung in der Verfassung des kommunistischen Jugoslawiens verwirklicht. [2]

Das Gefüge und die innere Gesetzlichkeit der Gegenwartsgesellschaft zwingen, wenn man sie recht bedenkt, zu einer weiteren Erwägung. Die Struktur der Industriegesellschaft bedingt den sogenannten Leistungs- und Versorgungsstaat, den Staat, der Daseinsvorsorge trifft und Wohlfahrt pflegt, pflegen muß. Die Arbeitsteilung erfordert dieses Phänomen. In diesem Sinn und unter diesem Gesichtspunkt ist der Gegenwartsstaat ein typischer Verwaltungsstaat mit Gewichtsverlagerungen von der Legislative zur Exekutive.

Zwischen Obrigkeit und Demokratie

Die Industriegesellschaft zeichnet sich durch ihre Vielfältigkeit und Differenziertheit aus (Pluralismus). Der Bereich der vertraglichen Rechtserzeugung, des sogenannten Privatrechts, der in der römischen Antike schier grenzenlos war, der im Mittelalter ohne Konkurrenz das Feld beherrschte, wird enger und enger. Die Grenzpfähle zwischen dem sogenannten privaten Recht und dem öffentlichen Recht sind stellenweise schon ganz verwittert, und zwar zu Gunsten des öffentlichen Rechts, zu Ungunsten des privaten Rechts.

Die Privatautonomie schrumpft, man braucht bloß an das Mietenrecht oder an das Arbeitsrecht der Gegenwart zu denken. Wie oft springt der Staat ein und setzt sich an die Stelle des einen oder des anderen privaten Vertragspartners (Mieterschutz). Gerade die vertragliche Rechtserzeugung, der privatrechtliche Vertrag (Privatautonomie) ist, wie Hans Kelsen treffend lehrt, [3] „eine ausgesprochen demokratische Methode der Rechtschöpfung“, man könnte genau so sagen, eine rechtsstaatliche Methode, weil eben hier die zu verpflichtenden Subjekte an der Erzeugung der verpflichtenden Norm ganz und gar beteiligt sind (lex contractus).

Demgegenüber steht als typisch autokratische, a-demokratische, oder gar antidemokratische, nicht-rechtsstaatliche Tendenz der Verwaltungsbefehl, ja der ganze weite Bereich der Verwaltung als öffentlichen Rechts. Die Normen werden auf dem Wege obrigkeitlicher Verfügung erlassen, möglicherweise ohne jegliche Beteiligung des Betroffenen, der solchermaßen völlig zu einem Objekt des Rechtsgeschehens herabgewürdigt wird.

Beim öffentlich-rechtlichen Verwaltungsbefehl nimmt der betroffene Einzelne keinerlei Anteil an der Erzeugung der Rechtsnorm, die ihn angeht. Die Verwaltung geschieht kraft der Natur der Sache von oben nach unten. Wenn nun der Bereich der Privatautonomie schwindet, mit ihm die demokratisch-rechtsstaatliche Erzeugungsmethode; wenn die Struktur der Industriegesellschaft die Tätigkeit der Exekutive antreibt, erweitert, vertieft, so daß der moderne Staat sich als Verwaltungsstaat darstellt und vorstellt; wenn solchermaßen der Bereich des öffentlichen Rechts gleichsam ins Unermeßliche wächst und die typisch autokratische Rechtserzeugung von oben nach unten zusehends zunimmt: dann heißt das nichts anderes, als daß die moderne Industriegesellschaft den Obrigkeitsstaat bedingt, verlangt, die Privatautonomie fast ganz zerstört.

Wenn dem so ist — und es ist so —, dann bedarf es einer nachhaltigen, gründlichen und wirksamen Korrektur, sofern man den Rechtsstaat als den Typus der Gemeinschaftsordnung behalten will, der den freien Menschen im freien Staat sichert. Diese Korrektur geschieht durch die Errichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Verfassungsgerichtsbarkeit, die dem Einzelnen wenigstens nachträglich die rechtliche Möglichkeit einräumen, sich bei einer Art Reprise der Rechtserzeugung einzuschalten.

Dadurch, daß das Verwaltungsgericht und das Verfassungsgericht Akte der Regierung und der ihr nachgeordneten Exekutive wie Akte der Gesetzgebung auf deren Rechtmäßigkeit prüfen, wird der Einzelne, zunächst im Verfahren bloßes Objekt, nachträglich wieder in den Stand eines Subjekts gehoben: im Gerichtsverfahren, vor dem Verwaltungsgericht oder dem Verfassungsgericht, ist er wieder Beteiligter am Rechtserzeugungsprozeß.

Der Richterstaat ist die Garantie dafür, daß uns der Verwaltungsstaat, der seiner Natur nach zum Totalstaat führt, erträglich wird. Die gerichtsförmige Rechtskontrolle der Verwaltung und der Gesetzgebung, deren die Verwaltung als ihrer Voraussetzung bedarf, schafft den nötigen Ausgleich zu den Gefahren, die die moderne Industriegesellschaft heraufbeschwört.

Der Grundriß der österreichischen Verfassung ist viel weiter als das in den letzten vier Jahrzehnten auf diesem Grund fertiggestellte Rechtsgebäude. Die ersten und die späteren positiv-rechtlichen Einzelregelungen, die das Bundes-Verfassungsgesetz und seine Novellen trafen, blieben erheblich hinter dem zurück, was die Anlage der Verfassung versprochen hatte.

Die heute so seltene Kunst der Rechtsgestaltung, die Nomopoetik, hätte ihre Stoßkraft nicht bloß auf sozusagen äußere, transzendente, strukturelle Änderungen zu richten; sie sollte vielmehr den Ansatzreichtum, den das Bundes-Verfassungsgesetz birgt, entfalten, die schlummernden Potenzen aktualisieren, die Dynamik, die der Urkunde einwohnt, vorantreiben.

Die gleichsam innere Gesetzlichkeit des Bundes-Verfassungsgesetzes sollte voll zum Zuge kommen:

  1. die Verfassungsgerichtsbarkeit als Sicherung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung und deren Produkte, der Gesetze, als Sicherung der Gesetzmäßigkeit der Verordnungsgewalten und deren Akte;
  2. die Verwaltungsgerichtsbarkeit als klassische Garantie der Gesetzmäßigkeit aller individuellen Akte der Verwaltung;
  3. die Völkerrechtmäßigkeit von Staatsakten aller Art, auf welcher Stufe sie ergehen mögen.
  4. Überhaupt sollte das Institut des richterlichen Prüfungsrechtes (judicial review) nicht nur Staatsakte im engeren Sinn erfassen, sondern genauso sämtliche Akte der sogenannten Privatwirtschaftsverwaltung. Diese bedürfen einer gerichtsförmigen Rechtskontrolle dringlicher als manch ein Akt der Hoheitsverwaltung.
  5. Eine unabhängige und wirksame gerichtsförmige Rechtskontrolle, die den vollen Rechtszug gewährt, sollte auch im schier unendlichen Bereich der Sozialversicherung Platz greifen, besonders mit Bezug auf die Akte der Selbstverwaltung in diesem Gebiet.
  6. Schließlich gehört hiezu die Gerichtsfähigkeit (Justiziabilität) jeglicher Akte der Gruppenrechtsordnungen, namentlich des autonomen Kollektivvertragsrechtes.

Wo immer im Gegenwartsstaat Macht in Erscheinung tritt, sei sie „Öffentliche Gewalt“, sei sie „Privatmacht“; wann immer Macht ins Spiel kommt, dort und dann soll am Ende des Weges der Richter den rechtlichen Austrag gewähren und gewährleisten. Die rechtsstaatliche Demokratie oder der demokratische Rechtsstaat, welch beide Elemente gleich-ursprünglich im alten griechischen Namen „Isonomie“ aufklingen und zusammenwirken — dieses Einheitsgebilde „Demokratie und Rechtsstaat“ ist seit je und allemal „Richterstaat“.

Richter ohne Romantik

„Richterstaat“ hat nichts damit zu tun, daß der Richter den Gesetzgeber und die Regierung ersetzen soll; hat nichts zu tun mit der romantischen Gestalt eines „Richterkönigs“. Dieses Signalwort soll vielmehr im funktionalen Sinn eine prägende, offenkundige und erkennbare, obschon noch nicht dem allgemeinen Bewußtsein gegenwärtige Tendenz der Zeit freilegen: daß jede Staatstätigkeit, namentlich die Verwaltung, von ihrem inneren Wesensbau her danach strebt, in der Art der unabhängigen, weisungsungebundenen Rechtsprechung sich zu entfalten; unabhängig von Einzelweisungen, Dienstbefehlen oder sonst irgendeiner individuellen Norm als des Ausdrucks des subjektiven Willens eines Vorgesetzten. In diesem Sinn heißt „unabhängig“: um desto wesenstreuer die vollkommene Abhängigkeit von Gesetz und Verfassung zu aktualisieren.

Darüber hinaus liegt im Signalwort „Richterstaat“ die Tendenz der Zeit eingeschlossen, daß immer mehr Zuständigkeiten Gerichtsorganen oder zumindest solchen Spruchkörpern zugewälzt werden, worin ein oder mehrere Mitglieder Richter sind. Daß heute über Noten in der Mittelschule oder über die Veranstaltung einer Promotion „sub auspiciis praesidentis“ gerichtsförmig entschieden wird, ist ein beredtes Symptom.

Warum soll gerade die Richtergestalt vom Ende des demokratischen Rechtsstaates her entgegenleuchten? Gewiß, es geht um die Kontrolle, und das versteht jedermann: daß nämlich, wie Kelsen überzeugend lehrt, die Kontrolle die Schicksalsfrage der Gegenwartsdemokratie ist. [4] Doch kann nicht auch der Gesetzgeber als Kontrollinstanz eingesetzt werden? Oder ein Verwaltungsorgan, etwa nach dem Schema des französischen „Conseil d’Etat“? Oder gar eine eigenartige aufsehende Gewalt, die ein gewisses Zwitterwesen an den Tag legt: der skandinavische „Ombudsmann“? Warum gerade der Richter?

Nur der Richter ist unabhängig — unabhängig, weil weisungsfrei. Was heißt das genau? Der Richter ist an das Gesetz als generelle Norm gebunden; ebendiese generelle Norm, das Gesetz, ist im Grunde „ratio scripta“, nicht „voluntas scripta“. Der Normgehalt des Gesetzes ist die „ratio legis“, der objektive Sinn des Gesetzes, nicht der subjektive Wille der Menschen, die die gesetzgebende Gewalt besorgen. Der Richter ist dem Gesetz unterworfen, er ist der „Mund des Gesetzes“. Allein, der Richter ist nicht dem subjektiven Willen des Gesetzgebers unterworfen, er ist nicht der „Mund des Gesetzgebers“.

Innerhalb des Raumes, den die generelle Norm für den speziell-konkreten Vollzug bereitstellt und offenhält innerhalb dieser Abmessung bewegt sich der Richter frei, unabhängig. Der Richter kann, zum Unterschied vom Verwaltungsbeamten, nicht gebunden sein an die individuelle Norm einer speziell-konkreten Weisung irgendeines Vorgesetzten.

Der Richter steht zur generellen Norm, die er anwendet, in einem unmittelbaren Verhältnis, in einem Verhältnis, das rechtlich weder getrübt noch gestört werden kann durch ein Dazwischenfahren irgendeines Einzelbefehls. Der Verwaltungsbeamte ist grundsätzlich der rechtlichen Möglichkeit des individuellen Verwaltungsbefehls unterworfen, infolgedessen an den subjektiven Willen des vorgesetzten Organs gebunden; ihm steht innerhalb der abgesteckten Erstreckung, die die generelle Norm für den Vollzug öffnet, insofern keine Freiheit zu, als er bei der Anwendung an die Weisung eines subjektiven Willens gebunden ist.

Unabhängig und infolgedessen wirksam ist eine Rechtskontrolle nur dann, wenn der Richter sie besorgt. Am Ende des Prüfungsverfahrens, das nach der Gesetzmäßigkeit eines Verwaltungsaktes fragt, steht im Rechtsstaat der Richter. Insofern ist selbst der typische Gesetzesstaat des 19. Jahrhunderts unter einem bestimmten Gesichtspunkt ein Richterstaat. Wie der Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts ein typischer Gesetzesstaat war, so ist der Rechtsstaat des 20. Jahrhunderts ein typischer Verfassungsstaat. Wie im vergangenen Jahrhundert zum wirksamen Schutz der Legalität der Exekutive die Verwaltungsgerichtsbarkeit errichtet wurde, so wird heute zum Schutz der Legitimität, also zum Schutz der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, die Verfassungsgerichtsbarkeit eingerichtet. Wie es vormals darauf ankam, daß am Ende des Verwaltungsverfahrens der Richter die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung prüft, so prüft in der Gegenwart am Ende des Gesetzgebungsverfahrens der Richter die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung. Wie der Gesetzesstaat, so ist der Verfassungsstaat unter dem Gesichtspunkt der eigentlichen Garantie der Legalität und Legitimität ein typischer Richterstaat.

Hier und jetzt, im heutigen Österreich, wird man vielleicht den Tiefsinn jener kaum bekannten Definition des Rechtes ermessen können, die Hermann Kantorowicz, der große, mißdeutete und verfälschte Jurist, niedergeschrieben hat: „Das Recht ist eine Gesamtheit von sozialen Regeln, die äußeres Verhalten vorschreiben und als gerichtsfähig (justiciable) angesehen werden.“ [5]

Die Gerichtsfähigkeit, die Justiziabilität, als schlechthinniger Gegensatz zur sogenannten „Gerichtsfreiheit“, ist ein Wesensbestandteil der Begriffsbestimmung des Rechtes. Der theoretische Entwurf von Kantorowicz hat mit dem, was man gemeiniglich unter dem Namen „Freirechtslehre“ versteht, überhaupt nichts zu tun; diejenigen, die über die Freirechtsschule im allgemeinen und über Kantorowicz im besonderen herfallen, stellen sich selbst ein Armutszeugnis aus, weil sie verraten, daß sie ihn gar nicht gelesen haben.

Das Zwölftafelgesetz, und zwar die Fragmente der Tafel I, die das Prozeßrecht dem übrigen Recht voranstellen, ebenso die Schriften des Dio Cassius, Lukians und Aelians —, sie alle bekunden, daß in der Antike die Gerichtsfähigkeit als das Palladium der Demokratie gilt. [6]

Nur Rechtsstaat ist Staat

Das Prinzip des Rechtsstaates beherrscht als leitender normativer Grundsatz der österreichischen Verfassung das gesamte Rechtsgeschehen, obwohl weder die Urkunde des Bundes-Verfassungsgesetzes den Grundsatz beim Namen nennt, noch die Lehre dieses Prinzip an erster Stelle als Grundnorm anführt. Das Schweigen ist kein Zufall. Die Verfassungsurkunde, die Hans Kelsen in der Hauptsache entworfen hatte, setzt die Identität von Recht und Staat voraus. Danach ist jeder Staat ein Rechtsstaat. Was kein Rechtsstaat ist, ist kein Staat, sondern ein Scheinstaat.

Die Lehre der Wiener rechtstheoretischen Schule, die den österreichischen Verfassungsbau trägt und prägt, stellt Recht und Staat gleich, setzt sie in eins. Es ist ein grober, ja ungehöriger Irrtum — ungehörig, weil er die Folge unverantwortlicher Oberflächlichkeit ist —, wenn die Identitätsdoktrin als wissenschaftliche Rechtfertigung des Machtstaates, als Legitimierung von Willkür und Gewalt, gedeutet wird.

Das blanke Gegenteil ist der Fall. Die Reine Rechtslehre erschöpft sich geradezu darin, daß Staat nur ist, was als Recht sich vorzustellen vermag. Was mit der Forderung auftritt, ein Staatsakt zu sein, ohne ausnahmslos sämtliche rechtlichen Bedingungen des Zustandekommens: Zuständigkeit; einwandfreies Verfahren; sachliche Entsprechung — erfüllt zu haben, ist kein Staatsakt, kein Rechtsakt — es ist barer Scheinakt. Wer mit dem Anspruch auftritt, ein Staatsorgan zu sein, ohne allen rechtlichen Voraussetzungen seiner Berufung oder Bestellung zu genügen, ist rechtlich kein Staatsorgan, kein Rechtsorgan, sondern Scheinorgan: ein Hauptmann von Köpenick.

Wie Recht nicht ist, was Recht zu sein behauptet, sondern nur das, was samt und sonders die Bedingungen des Zustandekommens einhält: Kompetenznorm, Verfahrensnorm, Sachnorm; wie Recht nicht ist, was Recht zu sein versichert, sondern nur das, was sich letztlich vor dem Richterstuhl als Recht behauptet: ebensowenig ist Staat, was als Staat sich ausgibt. Staat ist nur das, was auf dem Grunde des Rechts geschieht und als Rechtsgeschehen sich zu Gebilden, zu Organen und zu Akten verdichtet.

Jede Staatsfrage ist im Grunde und im Wesen eine Rechtsfrage. Als solche schickt sie sich für den klassischen Typus der Rechtskontrolle, für die gerichtsförmige Rechtskontrolle. Wer da meint, daß im Staat sogenannte gerichtsfreie Hoheitsakte als nicht-justiziable Phänomene auftauchen können, dem hat der Tempel der Wiener Rechts- und Staatslehre niemals sein Portal geöffnet, der ist ausgesperrt vom allerheiligsten Bezirk des Bundes-Verfassungsgesetzes der Republik Österreich.

Solches Konzept von Recht und Staat ist der Widerschein des klassischen anselmianisch-thomasischen, christlichen Konzepts von der Macht Gottes (de potentia Dei) als einer geordneten Macht (potentia, potestas ordinata), obwohl die Macht Gottes die summa potestas ist. Es heißt nicht: Etwas ist Recht, weil Gott es so will. Es heißt vielmehr: Weil etwas Recht ist, deshalb will Gott es so. Wenn Gott löge, hörte die Lüge nicht auf, Lüge zu sein. Vielmehr umgekehrt: löge Gott, würde Gott aufhören, Gott zu sein (Anselm von Canterbury).

Schon die formal denkbar höchste Macht, die Macht Gottes als „suprema potestas“ katexochen, ist vorweg und in sich „potestas ordinata“ (Thomas von Aquin), gleichsam der Seinsordnung als der Naturrechtsordnung eingefügt. Wenn die Macht Gottes in der Fundamentalstruktur eine „potestas ordinata“ ist: wie können Menschen ein Konzept von der Macht des Staates entwerfen, wonach er „supremus legibus solutus“ sei? Selbst der vielgeschmähte Byzantinismus hält den Gedanken der Gebundenheit aller Gewalt und Macht an das Recht fest, wie ein Spruch des Justinianischen Rechtswerkes verrät, der vollends der Vergessenheit anheimgefallen ist: Digna vox est maiestate regnantis, legibus alligatum se principem profiteri; adeo de auctoritate juris nostra pendet auctoritas (sic!) [C.1, 14, 4]. Also: die Autorität des Kaisers hängt ab (= pendet) von der Rechtsautorität! Diese ist jener vor- und übergeordnet, diese umgreift jene.

Die ersten und eigentlichen, in ihrem Tiefsinn unerreichten Theoretiker der Demokratie und der Volkssouveränität, die Spät- und Barockscholastiker, der Abt von Admont, Engelbert von Volkersdorf, und Johannes Althusius, ein überragender Kopf, haben von allem Anfang an die Volkssouveränität als „potestas ordinata“, als eine in sich rechtlich beschränkte Macht konzipiert, als „imperium limitatum“.

[1Vgl. Hans Klecatsky, Die kollektiven Mächte im Arbeitsleben und die Bundesverfassung, Vortrag, gehalten am 28. Februar 1963 in Salzburg anläßlich des internationalen wissenschaftlichen Seminars „Die kollektiven Mächte im Arbeitsleben“, veranstaltet von der Arbeiterkammer Salzburg. Jetzt im Druck erschienen in Wien bei Manz, hrsg. v. Univ.-Prof. DDr. Hans Floretta und Univ.-Doz. Dr. Rudolf Strasser, S. 29-47.

[2Vgl. Marcic, Die neue jugoslawische Verfassungsordnung, „Juristische Blätter“ 1954, 37; denselben, Die Stellung der Zweiten Kammer in den modernen Bundesstaaten, ebendort 1960, 139, und denselben, Verfassungsgerichtsbarkeit in Jugoslawien, ebendort 1963, 341.

[3Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 284 f.

[4Vgl. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen, 1929, S. 57; denselben, Staatsgerichtsbarkeit, „Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer“, 5 (1929), S. 80.

[5H. Kantorowicz, Der Begriff des Rechts, Göttingen 1963 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 152/153).

[6Vgl. Das Zwölftafelgesetz — Texte, Übersetzungen und Erläuterungen von Rudolf Düll, München 1959 (Tusculum-Bücher, S. 27 ff., Erläuterungen: S.73 ff.). Zum Problem der Wesenseinheit zwischen Recht und Gericht vgl. neuestens Marcic, Verfassung und Verfassungsgericht, Wien, Springer, 1963; denselben, Politische Freiheit ist Mitwirkung an der Herstellung der Rechtsordnung, „Die Zukunft“, Wien, Mitte April 1963, S. 4 ff.

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